Europas Geschichte
Es ist ein Gemeinplatz festzustellen, dass die Geschichte, allen Unkenrufen zum Trotz, nach dem Kollaps der Sowjetunion nicht zu Ende gegangen ist. Viele Veränderungen seither in Europa gründen in eben dieser Geschichte. Wegen ihrer schlechten historischen Erfahrungen mit Russland, aber auch mit Deutschland drängten Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und die baltischen Staaten so energisch erst in die NATO und dann in die EU. Dass sie den Anschluss an den westlichen Teil Europas wieder gefunden haben, wird zu Recht als Wiedervereinigung Europas, als Überwindung einer widernatürlichen politischen, sozialen und kulturellen Teilung gefeiert. Doch stellt sich dabei sofort die Frage nach den neuen Grenzen Europas, die, je weiter man nach Westen kommt, umso schneller und unbedachter mit der Frage nach den Grenzen der EU gleichgesetzt wird. Warum sollte am Bug, am Dnjepr oder an der Beresina Schluss sein? Auch die Menschen dahinter leben in Europa, in einem ganz „alten Europa“, wie der Lemberger Literaturwissenschaftler Jurko Prohasko jüngst in einem Kurzessay in der Frankfurter Rundschau schrieb. Die Ukraine, Moldau, Belarus und, ja, auch Russland seien „Alteuropa im doppelten Sinne: als Teil Alteuropas von einst und als Teil des unmodernisierten Europas, das in der EU, von der EU, durch die EU jetzt - ohne böse Absicht - enteuropäisiert und marginalisiert wird.“ Und damit bin ich beim Thema.
Prohaskos Ruf gilt der Aufnahme der Ukraine, und wenn sie wollen auch der anderen von ihm genannten Länder in die EU. So weit ruft Memorial gar nicht. Memorial wendet sich in erster Linie gegen eine neue Trennlinie, eine neue Grenzziehung in Europa, weiter östlicher diesmal, an der viele bauen, manche aus guten, andere aus schlechteren Gründen. Der neue Grenzverlauf beginnt sich gerade abzuzeichnen – sein genauer Verlauf ist noch nicht ganz klar, darum wird noch gerungen. Allerdings scheinen sich die meisten Menschen und Politiker schon damit arrangiert zu haben, dass Russland draußen bleibt. Wieder einmal, so sieht es aus, setzen sich in Russland und westlich von Russland diejenigen durch, die dem Mythos anhängen, Russland und die Russen seien anders "anders" als Portugiesen, Griechen oder Esten.
Perzeptionen der Wende 1989-1991
Es gibt viele verschiedene Interpretationen der Phase, als der Kalte Krieg zu Ende ging und die Sowjetunion zerbrach. Trotz aller Unterschiede würden die meisten Bewohner der EU aber wohl der Aussage zustimmen, das sei ein Sieg der Freiheit gewesen; ein Sieg der Freiheit für die Völker die Jahrzehnte oder noch viel länger Teil des russischen Imperiums sein mussten und Freiheit für all die Menschen, die in den Diktaturen Mittel- und Osteuropas gelebt und gelitten haben. In Russland wird diese Meinung heute nur von einer eher kleinen Minderheit geteilt. Es wäre aber ein Fehlschluss, das darauf zurück zu führen, dass die Russen schlechte Europäer seien oder sich nicht als Europäer fühlten. Es ist nur schlicht ein Unterschied, ob man sich aus kolonialer Abhängigkeit befreit oder befreit wird oder ob man aufhört, ein Imperium zu sein und die Kolonien freigibt. Denn das ist es, was Russland unter Jelzin getan hat - selbst wenn viele Russen das heute bedauern.
Dieses Bedauern ist die Spätfolge der enormen narzistischen Kränkung, welche die Bewohner der Supermacht Sowjetunion erfahren haben, als sie sich in den 1990er Jahren als Bürger eines schwachen Landes wieder fanden, dessen Regierung Befehle vom Internationalen Währungsfond entgegen nehmen musste. Die Menschen in der Ukraine, in Polen oder in den baltischen Staaten haben neben großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen und politischen Erschütterungen nicht nur das Versprechen einer demokratischen und freien Zukunft in einem vereinten Europa gehört, sondern haben schon in den 1990er Jahren wirkliche Schritte in diese Richtung erlebt. Die Tragik Russlands ist, dass seine Bewohner die gewonnene Freiheit mit großer Armut, großer Ungleichheit, Krieg im eigenen Land und einer handlungsunfähigen Regierung bezahlen mussten. Deshalb wird Freiheit heute dort weithin mit „Chaos“ assoziiert. Das ist es, was die Menschen in Russland hören, wenn Putin den Untergang der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nennt.
Nun zur Geschichte. Die gleiche Geschichte, die selben Ereignisse bedeuten nicht unbedingt das Gleiche für die davon betroffenen Menschen. Hat die Sowjetunion Estland, Litauen und Lettland von der deutschen Besatzung befreit? Ja natürlich. Hat die Rote Armee mit ihren NKWD-Kommissaren gleichzeitig ein grausames Okkupationsregime errichtet? Ebenfalls richtig. Vielen Esten, Letten und Litauern fällt es aber unendlich schwer, das erste anzuerkennen. Die meisten Russen leugnen das zweite. Ein anderes Beispiel: War die große Hungersnot im Süden der Sowjetunion 1932/33, der „Holodomor“ ((Ukrainisch Голодомор), wie die Ukrainer sagen, ein Völkermord, ein bewusster Versuch Stalins die Ukraine als Staat und die Ukrainer als Volk endgültig zu vernichten? Die Antwort lautet wieder ja und nein, je nach Standpunkt. Die meisten seriösen westlichen Historiker kommen heute zum Schluss, dass die Hungersnot in erster Linie eine Folge der brutal durchgesetzten Industrialisierung und der gewaltsam erzwungenen Kollektivisierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion war. Der Hunger traf die Ukraine, die „Kornkammer“ Europas, stärker als andere Teile des Landes. Aber viele Menschen im Süden Russlands oder in der kasachischen Steppe verhungerten ebenfalls. Allerdings gehen die Historiker auch davon aus, dass es für Stalin zumindest ein erwünschter, wenn nicht bewusst angestrebter „Nebeneffekt“ war, dass die meisten Toten Ukrainer waren.
Nationale Narrative
Die Auseinandersetzungen um den sogenannten „Bronzenen Soldaten“ in der estnischen Hauptstadt Tallinn im Frühjahr 2007 und die, vorsichtig ausgedrückt unangemessene, deutlicher gesprochen hysterische Reaktionen in Russland darauf (und sie waren nur zum Teil von den Polittechnologen des Kreml gesteuert) sagen uns eine Menge über die Stärke der Kräfte hinter nationalen Narrativen. Es geht hier nicht darum, zu entscheiden, wer in diesem Streit nun Recht hat und wer nicht. Meist ist das auch gar nicht möglich und oft nicht nötig. Beunruhigend ist, dass vor allem in Mittel- und Osteuropa die Narrative dessen, was im 20. Jahrhundert in Europa passiert ist, als Mittel eingesetzt werden, Trennlinien zu schaffen, um Identitäts- und Machtprobleme zu lösen.
Nationale Narrative oder, wie es Memorial in seinem Aufruf nennt „nationale Geschichtsbilder“ prallen in den vergangenen Jahren im Osten des Kontinents immer öfter, immer heftiger und immer unversöhnlicher aufeinander. Das geschah und geschieht zwar auch im Westen, aber es gibt drei wichtige Unterschiede. Erstens erkennen dort die streitenden Parteien inzwischen meist an, dass diese Unterschiede, wenn schon nicht überwunden, so doch zumindest auf der Grundlage gemeinsamer demokratischer und liberaler Werte ausgehalten werden müssen, sie also, solange sie nicht offen nationalistisch sind, eine moralische und ethische Existenzberechtigung haben. In der EU wurden dazu eine ganze Reihe von Foren und Instrumente entwickelt, mit deren Hilfe solche Konflikte meist erfolgreich zivilisiert werden können. Zum zweiten war Russland über Jahrhunderte Kolonialmacht und Imperium. Alle neuen EU-Mitgliedsländer im Osten und auch die GUS-Republiken lebten lange Zeit unter seiner oft harten Herrschaft. Sie versuchen nun selbstverständlich ihre erst jüngst gewonnene Unabhängigkeit zu sichern – und tun dies nach innen und nach außen verständlicherweise in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich gegen Russland. Viele dieser Länder haben diesen Schutz bereits in der NATO- und in der EU gefunden. Andere, wie Georgien oder die Ukraine, hoffen darauf. Der dritte Unterschied ist die natürliche Unsicherheit aller Länder der Region über die noch junge Identität und die Stabilität der noch neuen oder erneuerten Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit. Das gilt auch für Russland. Diese Unsicherheit verleitet zu unnötiger Aggressivität.
Memorial und die "Russifizierung" der Geschichte
Viele Russen, und das betrifft durchaus nicht nur die Kremlnahen politischen und wirtschaftlichen Eliten, empfinden angesichts der hier beschriebenen Entwicklungen ein tiefes Gefühl der Ausgrenzung, genauer gesagt einer zweifachen Ausgrenzung:
Die meisten der Länder, die unter sowjetischer Herrschaft gelebt haben, entziehen sich, so sieht es jedenfalls aus russischer Sicht oft aus, durch ihren Westdrang der gemeinsamen Verantwortung für die sowjetische Geschichte, indem diese „russifiziert“ wird. So ist es ihnen möglich, sich vorwiegend als Opfer russischer Unterdrückung darzustellen. Die neu entstehenden nationalen historischen Narrative erzählen Geschichte zudem überwiegend als kollektive Geschichte. Für Russland und wohl noch wichtiger, für die Russen (darunter auch die außerhalb Russlands in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken lebenden) bleibt darin oft nur die Täterrolle übrig. In den alten EU-Ländern ist verständlicherweise die Neigung zur Solidarität mit den Neumitgliedern und damit zur Übernahme ihrer Narrative groß.
Innerhalb der EU gibt es eine starke Tendenz, sich selbst mit Europa gleichzusetzen. Diese Versuchung ist besonders stark, wenn es um Werte geht. Die EU-Erweiterungskriterien sagen klar und offen, dass nur demokratische, liberale und freie Gesellschaften Mitglied der Union werden dürfen. Das wird vor dem Beitritt streng geprüft. Doch nicht alle Mitgliedsstaaten und schon lange nicht alle Beitrittskandidaten haben diese Reife. Nichtsdestotrotz sind einige Länder zweifelhafter demokratischer Reputation bereits EU-Mitglieder oder haben gute Chancen, es über kurz oder lang zu werden. Die Menschen in Russland schließen also richtigerweise, dass es noch andere Gründe geben muss. Für Russland wird gleichzeitig eine Mitgliedschaft in der EU ausgeschlossen. Dafür lassen sich viele gute und kluge Argumente finden und Russland hat wohl selbst am meisten dazu beigetragen, dass das kein Thema mehr ist. Doch über den verbreiteten, damit einhergehenden und nach einer kurzen Pause in den 90er Jahren erneuerten Mythos, Demokratie sei für Russland einfach nichts, wird das Land zum Gefangenen seiner autoritären und undemokratischen Vergangenheit gemacht – ohne Ausweg.
Der Aufruf von Memorial zeugt aber noch von einem dritten, diesmal innerrussischen Ausschluss. Kritiker der offiziellen großrussischen Geschichtspolitik finden im Land selbst immer weniger Gehör. Das vorgeschlagene Forum kann auch ein Weg sein, einem vernünftigen und weniger ideologischen Umgang mit der jüngeren Geschichte in Russland selbst ein bisschen mehr Spielraum zu verschaffen. Denn frontal kann diese Initiative kaum angegriffen werden. Modest Kolerow, bis vor kurzem im Kreml für die "interkulturellen Verbindungen mit dem Ausland" zuständig, bescheinigte der Memorial-Initiative, "moralisch makellos" zu sein, aber mit ihr einen "Idealismus zu zeigen, der an Inkompetenz" grenze. Warum wohl? In den Nachbarländern, so Kolerow, würde die Geschichtspolitik in den Geheimdienstzentralen konzipiert und so die Geschichtsdebatten unifiziert, während in Russland ein "vielfältiger und vielstimmiger" Geschichtsdiskurs herrsche. Memorial ist der lebende Beweis dafür.
Über den Autor
Jens Siegert ist Leiter des Landesbüros Russland der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau
Nationale Geschichtsbilder - Das 20. Jahrhundert und der „Krieg der Erinnerungen“
Die Völker Ost- und Mitteleuropas verarbeiten ihre gemeinsame Geschichte oft in unterschiedlicher Weise. Dabei ist das Wie des Erinnerns und des Verarbeitens im bestehenden Krieg der nationalen Geschichtsbilder und Erinerungen nicht zu vernachlässigen. Geschichte sollten wir gemeinsam aufarbeiten und nicht jeder für sich - ein Aufruf der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL.
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