Sie stammen aus Ostdeutschland. Wie erlebten Sie dort das Jahr 1968 und das damalige Verlangen nach Revolte?
Ich war damals 18 Jahre alt, war noch im letzten Jahrgang an der Oberschule, und die Nachricht, die ich am 21. August 1968 am frühen Morgen hörte, bedeutete einen totalen Bruch in meinem Leben. Vorher war ich relativ apolitisch, vielleicht auch ein wenig naiv, und meine Gedanken waren die gleichen wie bei jedem anderen Altersgenossen. Aber ich war sehr empört, dass eine - in meinen Augen vernünftige und richtige - Sache unter den Panzerrädern erdrückt wird. Ich war empört darüber, dass man einfach in ein souveränes Land einfällt, die Regierung festnimmt und den Menschen ein System aufdrängt, mit dem offensichtlich die Mehrheit der Nation nicht einverstanden ist. Und dieser Riss verbreitete sich in den folgenden 21 Jahren weiter. Darüber hinaus wurden zwei Mädchen aus unserer Klasse, die das Pech hatten, dass sie gerade 18 waren, und damit die Volljährigkeit erreichten, in der Nacht vom 22. auf den 23. August von der Stasi gefangen, weil sie mit einem Filzstift die Flugblätter „Freies Prag!“, „Russen raus aus Prag!“ malten und sie in Briefkästen warfen. Sie wurden damals verurteilt und verhaftet, gerade in den Tagen, in denen wir nach den Ferien in die Schule zurückkamen. Am ersten September begann das Schuljahr und es erweckte eine riesige Empörung, denn es waren die Töchter prominenter ostdeutscher Intellektueller. Es wurde auch im Rundfunk und dann noch darüber im Fernseher berichtet. Dann kam ein Funktionär aus der Schulleitung und drängte auf uns, dass wir uns distanzieren müssen.
Und wie habt ihr reagiert?
Wir vereinbarten vorher, dass wir mit Schweigen reagieren. Der Funktionär fragte uns dauernd: „Was sagt ihr dazu?“, aber wir schwiegen wie ein Grab, alle höheren Klassen waren wie ein Mann. Ich blieb auch still. Meine Eltern wurden dann in die Schule eingeladen, man legte ihnen ans Herz, sie sollen mir zureden.
Kamen noch mehr flächendeckende Repressionen?
Dann wurde es allmählich im Laufe des Oktobers und Novembers ruhiger. An den höchsten Stellen der SED wurde entschie-den, keine neuen Märtyrer zu erlauben. Diesbezüglich verhielt sich die Ulbricht-Leitung geschickter als die Leitung von Gustav Husák.
Einige Jahre später wurden Sie aus der Universität hinausgeworfen und begannen, in der Fabrik zu arbeiten. Wie kam es dazu?
Ich lebte mit der Frage: Wie kann man in der Frechheit der Propaganda-Lügen leben, die man nicht vertragen kann und über die man sich jeden Tag aufregen muss? Das ist schwierig, auch gefühlsmäßig. Ich hielt mich immer an dem berühmten Lied von Wolf Biermann: „Du, lass dich nicht verbittern in dieser bitteren Zeit“. Ich sagte zu mir, ich muss Freude und gute Laune beibehalten, oft half ich mir mit Ironie und Zweideutigkeit. Und das wurde mir an der Uni zum Verhängnis. Ich machte ein paar Witze während eines Gesprächs, privat, nur unter meinen Kommilitonen, und jemand zeigte mich an. Er gab der Partei-organisation an, dass der Student Wolle ironische Anmerkungen zur Partei, zur Sowjetunion und zur Marx-Lenin-Ideologie hatte. Sie trugen es ins Protokoll ein; nach der Wende fand ich es im Archiv. Dann folgte ein großes Inquisitionstheater. Ich wurde wegen eines ideologischen Verstoßes verklagt, aber sie boten mir einen Kompromiss an: Ich konnte mich freiwillig zur Arbeit in der Produktion verpflichten und konnte dadurch unter den Arbeitern das verlorene Klassenbewusstsein wieder ge-winnen; ich konnte in der Arbeiterklasse die sozialistische Ideologie einsaugen und dadurch meinen Wankelmut überwinden. Dazu trug sicherlich auch die Tatsache bei, dass mein Vater ein Redakteur bei "Neues Deutschland" war. Eine gewisse Rolle spielte auch meine Mutter. Sie gehörte zu den damaligen antifaschistischen Kämpfern. Das war in der DDR ein fast adliger Titel, der auch auf Kinder und Enkelkinder ausstrahlte, und mit sich im alltäglichen Leben eine ganze Reihe von Privilegien trug.
Wie verhielten sich die Arbeiter zum ausgeschlossenen Universitätsstudenten?
Sie begriffen mein „staats- und parteifeindliches Denken“ überhaupt nicht. Ich führte mit ihnen auch keine großen Diskussionen. Es war für mich eine vollkommen fremde Welt. Der Meister war mit mir zufrieden, ich erfüllte die Norm und sonst interessierte sich niemand für mich. Jeden Morgen musste ich um fünf Uhr in der Fabrik sein, und die Arbeit war schwer. Aber ich verdiente viel, besser als lange danach. Ich sagte einfach zu mir: Du musst aushalten, wenn du in der DDR leben willst. Später absolvierte ich das Universitätsstudium und kam zu dem Kompromiss, dass ich mich mit dem Mittelalter beschäftigen werde. Es war apolitisch, man konnte das machen, was man wollte. Meine Rückkehr an die Universität erinnerte wieder an ein Theater: Ich bekam ein sehr gutes Gutachten von meinem Meister aus dem Betrieb: „Herr Kollege Wolle arbeitete hervorragend, immer erfüllte er die Norm“.
Nach 1989 begannen Sie, sich mit den Archiven der ostdeutschen Staatssicherheit zu befassen. Wie kam es dazu?
Ich schloss mich einer Gruppe an, die die ostdeutsche Staatssicherheit auflöste. Wir kümmerten uns um die Archive in Berlin. Die Oppositionsgruppen besetzten am 15. Januar 1990 die Zentrale der Stasi in Berlin-Lichtenberg. Wir unternahmen die ersten Schritte, und Anfang 1990 gaben wir die erste Ausgabe „Ich liebe Euch doch alle! / I love you all!“ heraus. Das war die Aussage des letzten Ministers der Staatssicherheit in der DDR Erich Mielke vor dem ostdeutschen Pseudoparlament, nachdem sich ihm die Abgeordneten zum ersten Mal stellten. Mielke sprach damals die Abgeordneten als Genossen an und aus den nichtkommunistischen Parteien der Nationalen Front brauste es: „Wir sind nicht alle Genossen!“ Vierzig Jahre lang widersprach ihm niemand, nun wurde er total sprachlos und begann zu blöken: „Aber ich liebe Euch doch alle, ich liebe Euch alle, ich liebe alle Menschen!“ Und so wurde die Aussage „Ich liebe Euch doch alle“ zum geflügelten Satz.
Halten sie die „Diktatur der Liebe“ mit achtzehnjährigem Abstand für ein immer noch lebensfähiges Konzept?
Die „Diktatur der Liebe“ bedeutet, dass sich der Staat das Recht anmaßte, die Bürger wie ein strikter, aber liebender Vater zu behandeln. Der Bürger als Kind wird entweder belohnt oder bestraft, aber es ist immer für sein Wohl. Das ist diese arrogante Haltung der Diktatur, die ihre Kinder liebt. Es ist keine wirkliche Theorie, eher eine Metapher.
In der Diskussion an der Sommerakademie „Europa 1968–2008“ erwähnten Sie die damalige enorme Begeisterung für tschechische Filme, Schallplatten usw. in der DDR. Welches konkrete Kulturprodukt verkörpert für Sie die Nostalgie nach den tschechoslowakischen 60er am meisten?
Im Frühjahr 1968, vielleicht zu Sommerbeginn, kündigte unser Lehrer an, dass am Nachmittag die Schule wegfällt und wir uns einen Film anschauen werden. Wir gingen ins Kulturministerium, wo es einen Kinosaal gab, und unser Lehrer sagte: „Liebe Schüler, wir schauen uns einen Film an und danach werden wir darüber diskutieren.“ Und sie zeigten uns den tschechischen Film "Starci na chmelu" (Die Hopfenpflücker). Wir sagten: „Ja, ein toller Film, es hat uns sehr gefallen, die Musik und der Tanz…“ Wir äußerten uns alle politisch und nahmen es auf ein Band auf. An die Stasi dachte ich damals nicht. Warum sollte sich Stasi für unsere Meinung interessieren? Sie wollten Argumente gewinnen, dass es gefährlich ist, in unseren Kinos tschechische Filme zu zeigen. Am nächsten Tag fiel der Direktor in unser Klassenzimmer herein, vor Wut unzurechnungsfähig: „Das ist furchtbar, sich einen kontrarevolutionären Film anzuschauen, der den prefaschistischen Philosophen zitiert!“ (Vladimír Pucholt zitiert im Film jedoch Seneca – Anmerkung von V. B.) Ich muss zugeben, dass ich den Namen Nietzsche zum ersten Mal hörte. Im Film zitiert die Hauptperson Nietzsche und das Kollektiv tritt in den Hintergrund zugunsten der Individualität. Das war der Kern des Films – das Kollektiv wird an den Pranger gestellt, dadurch, dass es sich stetig so rhythmisch bewegt wie im Ballett. Und ein Individuum, das sich vom Kollektiv trennt, wird im Film als ein positiver Held dargestellt. Das war damals etwas Großartiges! Dann gab es noch eine ganze Reihe von tschechischen Filmen, die wurden durchwegs nur an einem besonderen Filmfestival gezeigt – wieder mit vielen Schwierigkeiten – und im tschechischen Zentrum. Aber am besten erinnere ich mich gerade an „Starci na chmelu“ (Die Hopfenpflücker).
Das Interview, geführt von Matěj Kotalík, ist in der Zeitschrift A 2 - kulturni tydenik (kulturní týdeník) am 16.7.2008 erschienen.