Coronavirus - Die Lage in Italien nach dem EU-Gipfel

Kommentar

Die heraufziehende wirtschaftliche Krise bedroht in Italien die Lebensgrundlagen der Bevölkerung und die liberale Demokratie. Dennoch haben die nördlichen EU-Staaten europaweite Finanzierungs- und Kreditprogramme verweigert.

Italien war das erste Land in Europa, das von den Covid-19 Viren betroffen wurde. Es war auch der erste demokratische Staat, der Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie – so hieß sie damals noch, bevor sie zur Pandemie mutierte – ergriffen hat.

Italien war das erste Land, nach China und Südkorea, dass elementare Freiheitsrechte in einem seit dem Mussolini-Faschismus nie erreichtem Ausmaß einschränkte. Dabei hat Italien zumindest den Versuch gemacht, rechtsstaatliche Prinzipien zu bewahren. Beispielsweise ist, trotz aller Reisebeschränkungen, das Menschenrecht auf Rückkehr in das eigene Land garantiert.

Die Eildekrete der Regierung sind zwar sofort wirksam, müssen aber nach der Verfassung binnen spätestens 60 Tagen vom Parlament genehmigt und in Gesetze umgewandelt werden. Das Parlament hat nicht aufgehört zu funktionieren, in normalen Sitzungen unter Einhaltung von Sicherheitsregeln. Der dem linken Flügel der 5-Sterne-Bewegung zuzurechnende Präsident der Abgeordnetenkammer Roberto Fico hat ausdrücklich Online-Sitzungen abgelehnt, weil dabei die rechtlichen Regelungen nicht voll beachtet werden könnten, und hat die Parlamentarier/innen mit medizinischem Personal verglichen, die in erster Linie bei der Bekämpfung der Pandemie zu stehen haben.

Italien ist zwar kein föderativer Staat, aber die Regionen haben die ausschließliche Kompetenz in Gesundheitsangelegenheiten und die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz im Erziehungsbereich. Die nicht konfliktfreie, aber schließlich doch erreichte Abstimmung zwischen der Zentralregierung und den Regionen wurde erschwert durch die Tatsache, dass einige Regionen wie die Lombardei als am stärksten betroffenes Gebiet von der Lega regiert werden. Der missglückte Vorstoß des Lega-Chefs Salvini für die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ mit seiner eigenen Beteiligung hat seiner Partei eher geschadet. Gegenwärtig ist niemand daran interessiert, neben der Gesundheitskrise auch noch eine Regierungskrise zu erleben.

Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft nehmen zu

Die relative Gelassenheit, mit der die Bevölkerung auf immer einschneidendere und das tägliche Leben von Grund auf verändernde Maßnahmen reagiert, ja sie teilweise sogar eingefordert hat, ist erstaunlich angesichts der historisch gewachsenen Skepsis gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen. Man sollte sich aber über die Belastbarkeit dieser Zustimmung und der sozialen Ruhe keinen Illusionen hingeben. Wie in jeder großen Krise spielt die Zeitdimension eine erhebliche Rolle. Bis jetzt noch steht die Angst vor Ansteckung im Vordergrund und jede persönliche Einschränkung wird ganz überwiegend als akzeptabel empfunden, sofern dadurch die Gefahr für den Einzelnen eingedämmt werden kann. Aber langsam wird sich die Sorge um die ökonomische Zukunft breitmachen. Erste Anzeichen dafür sind schon in diesen letzten Tagen sichtbar geworden, vor allem in Süditalien, wo hier und da Versuche der Plünderung von Supermärkten nur mit erheblichem Polizeieinsatz abgewehrt werden konnten.

In der italienischen Wirtschaft spielen die kleinen und mittleren Unternehmen eine herausragende Rolle. Die Verurteilung zur völligen Untätigkeit in Bereichen wie Tourismus, Mode, Design, Bauwesen, Einzelhandel mit der einzigen Ausnahme von Lebensmitteln und Apotheken, sowie unzähligen anderen Sektoren, in denen die kleinen und mittleren Betriebe vorherrschend sind, führt zu ansteigenden Fällen von Zahlungsunfähigkeit und Liquiditätsengpässen. Was bis vor kurzem noch eine rein makroökonomische Angelegenheit zu sein schien, beginnt nun die einzelnen Familien zu betreffen.

Noch kann auf Ersparnisse zurückgegriffen werden sowie auf die Möglichkeit, sich innerhalb der Familienzusammenhänge, die in Italien und gerade im Süden weit mehr als in anderen europäischen Ländern aufrechterhalten sind, Kredite zu besorgen. Aber diese Möglichkeiten erschöpfen sich schnell. Und dann wird die Frage, wie auch nur die täglichen Einkäufe bezahlt werden können, in den Vordergrund treten. Die Furcht, selbst von dem Virus betroffen zu werden, wird sich für viele dann erst in zweiter Linie stellen. Wenn der Staat nicht sehr schnell eine zumindest vorübergehende Aushilfe schafft, sind anti-demokratische Bewegungen, in die sich auch die Mafia einschleusen könnte, nicht auszuschließen. 

Überlebt die liberale und rechtsstaatliche Demokratie?

Man sollte auch nicht vergessen, dass nach wie vor die rechten und Mitte-Rechts- Parteien, Lega, Forza Italia und Fratelli d'Italia die Zustimmung von fast der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung haben und vermutlich im Falle von vorgezogenen Wahlen die Regierung stellen könnten. Die relative Schweigsamkeit dieser politischen Strömungen in den letzten Wochen würde schnell zu massiver, lautstarker und mutmaßlich erfolgreicher Opposition gegen die Regierung und der von ihr zu verantwortenden Maßnahmen umschlagen, wenn der heraufziehenden wirtschaftlichen Krise nicht wirksam und nachhaltig gegengesteuert wird. Und das kann Italien nur in einem europäischen Zusammenhang bewältigen. Es ist den deutschen, niederländischen und anderen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, die, zumindest für den Augenblick, beim Gipfel des Europäischen Rats vom 26. März die Verabschiedung eines umfangreichen europaweiten Finanzierungs- und Kreditprogramms verhindert haben, vielleicht nicht ganz klar, was auf dem Spiel steht.

Es geht nicht allein um die Frage, wie die katastrophalen wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen der Pandemie auf einzelne Länder abgefedert werden können. Es geht auch nicht allein um die Besorgnis, das Ausbleiben einer gemeinschaftlich-europäischen Krisensteuerung könne den europafeindlichen Tendenzen neuen Auftrieb geben. Es geht, im Falle Italiens, dem drittgrößten Land der EU und der drittstärksten Volkswirtschaft im Eurogebiet, um die Frage des Überlebens einer liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie. Es geht darum, rechtzeitig der Gefahr vorzubeugen, dass eine nicht auszuschließende zukünftige Salvini-Regierung dem Beispiel Orbans folgt und ein Ermächtigungsgesetz erlässt, mit dem er die demokratischen Institutionen aushebelt.

In den Worten des italienischen Staatspräsidenten Sergio Matarella, der sich in einer Fernsehansprache – seiner zweiten überhaupt – am 27. März, dem Tag nach dem EU-Gipfel, an die Bevölkerung wendete, ist etwas von der Besorgnis deutlich geworden, die über die finanziellen Engpässe hinausgeht:

Ich hoffe nur, dass alle voll verstehen, bevor es zu spät ist, wie schwerwiegend die Bedrohung für Europa ist und dass Solidarität nicht allein von den Werten der Union eingefordert wird, sondern auch im gemeinsamen Interesse ist.

Europa ist gespalten

Es ist auch im gemeinsamen europäischen Interesse, dass Italien nicht auf ein autoritär-nationalistisches Regime abdriftet. Die größte italienische Zeitung „la Repubblica“ hat in breiten Lettern am 27. März getitelt: „Hässliches Europa“. Und weiter: „Conte steht vor der von Deutschland errichteten Mauer.“

Ein Riss geht durch Europa, diesmal nicht zwischen West und Ost, sondern zwischen Süd und Nord. Italien, zusammen mit Frankreich und Spanien und mittlerweile 9 anderen Mitgliedsstaaten, lehnt die Abspeisung mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Dieser sei ein, wie Materalla sagt, „altes Schema außerhalb der Realität“, bei dem die Kreditvergabe mit umfassenden, die nationalen Politikspielräume zusammenpressenden Auflagen verbunden sind, wie weiland in Griechenland. Als ob es in der Corona-Krise um die Schwächen einzelner Länder ginge und nicht um eine weltumspannende, nie vorher dagewesene gemeinsame Herausforderung.

„Das gesamte europäische Gebäude riskiert, seine Daseinsberechtigung zu verlieren“ hat Conte, der nie ein Mann der großen Worte war, gesagt und zugefügt, Italien würde in jedem Fall, notfalls auch allein, weitergehen. Sicherlich, er konnte das sagen angesichts der Rückenstärkung, die nun, nach anfänglichem Zögern von Seiten von Christine Lagarde, die EZB gegeben hat.

Das italienische Gesundheitssystem – im Unterschied beispielsweise zum US-amerikanischen – garantiert für alle Einwohner/innen weitgehende Kostenfreiheit der ärztlichen Versorgung. Angesichts der unvorhergesehenen und unvorhersehbaren ungeheuren Zahl neuer Patient/innen brechen nicht nur in den besonders betroffenen Regionen die Versorgungskapazitäten zusammen, sondern auch ihre Finanzierung. Andere EU-Mitgliedsstaaten werden vermutlich sehr bald mit ähnlichen Problemen konfrontiert sein. Das Prinzip der Intra-EU-Solidarität und des Lastenausgleichs zwischen den Mitgliedsstaaten sollte auch hier dazu führen, gemeinschaftliche Auswege zu finden. 

Wer in der Schattenwirtschaft arbeitet, hat kaum soziale Sicherung

Angesichts der alle – aber nicht alle in gleicher Weise – angehenden Krise werden leicht diejenigen vergessen, die von den Auswirkungen am härtesten betroffen sind: Asylbewerber/innen, Geflüchtete, Arbeitsmigrant/innen und alle, die bis jetzt irregulär gearbeitet haben, ohne Vertrag, ohne Absicherung, ohne gewerkschaftlichen Schutz, und häufig auch ohne Aufenthaltsgenehmigung. Sie kommen nicht in den Genuss von Lohnfortzahlungen, Kündigungsschutz, sozialen Netzen die jetzt langsam ausgespannt werden. Nach Schätzung des Statistischen Amts sind in Italien 3,7 Millionen Menschen in dieser Schattenwirtschaft beschäftigt. Besser gesagt, sie waren bis vor wenigen Wochen beschäftigt, vor allem gerade in den Bereichen, die jetzt als erste von der Schließung betroffen sind.

In einer Familie aus meiner Nachbarschaft, bei der seit Jahren eine Frau aus der Ukraine gearbeitet hat, wird sie jetzt nicht mehr in die Wohnung gelassen. Auf die Frage, warum sie die Angestellte nicht wenigstens weiterbezahle, sagt die Arbeitgeberin, die in einem Restaurant arbeitet, das vermutlich nie wieder aufgemacht wird, sie hätten ja selbst kaum noch zu essen. Heute hat die Regierung allerdings ein „Noteinkommensprogramm“ von 6 Mrd. Euro angekündigt für all diejenigen, die auf Grund ihrer nicht abgesicherten oder nicht nachweisbaren Arbeitsverhältnisse in der Gefahr stehen, in völlige Armut zu geraten. Es kommt jetzt darauf an, diese Unterstützung sehr schnell und unbürokratisch an die Betroffenen auszuzahlen.

In der Zwischenzeit kümmern sich, mit sehr beschränkten Mitteln, die Wohlfahrtseinrichtungen, kirchlichen Verbände, Nachbarschaftshilfen, Stadtteilinitiativen um diese Geflüchteten und Arbeitsmigrant/innen. Einige von ihnen haben in diesen Tagen gefordert, die Abschiebezentren zu öffnen. Ohnehin kann ja niemand abgeschoben werden. Andere Organisationen haben gefordert, jetzt eine umfassende Regularisierung oder „Amnestie“ für alle anwesenden Drittstaatsangehörigen ohne Aufenthaltserlaubnis zu erlassen. Das würde allerdings nicht automatisch das Problem der vertragslos Arbeitenden, zu denen auch viele legal anwesende Ausländer/innen sowie Italiener/innen zählen, lösen. Die einzige Maßnahme, die die Regierung bis jetzt für Migrantinnen und Migranten getroffen hat, ist die automatische Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen bis zum 15. Juni.

Viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten in systemrelevanten Bereichen

Auf der anderen Seite, und auch das wird wenig beachtet, arbeiten mehr als 22.000 ausländische Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in italienischen Krankenhäusern, etwa 5 Prozent dieser Berufskategorie. Es wäre anzumerken, dass nach einer Studie der OECD von 2019 die Zahl der Krankenpfleger/innen in Italien im Verhältnis zur Einwohnerzahl außerordentlich gering ist, nämlich 5,5 pro 1000 Einwohner/innen (in Deutschland: 12,9; im Durchschnitt der OECD Staaten: 8,9). Die Studie hat auch nachgewiesen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Sterblichkeitsraten und der Zahl der Krankenpfleger/innen gibt.

Weitere viele zehntausend Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten in Supermärkten, Lebensmittelwarenlagern, Transportunternehmen und Fahrdiensten für Lebensmittel und pharmazeutische Produkte, Kleinläden für Lebensmittel und Getränke, die häufig von Migrantinnen und Migranten betrieben werden. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass gegenwärtig die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung ohne sie gravierende Engpässe erleiden würde.

Das Recht, Asyl zu suchen, ist zwar, anders als in Griechenland, nicht abgeschafft. Aber es gibt praktisch keine neuen Asylbewerber/innen. Die Zahl der Bootsankünfte aus Nordafrika ist im März auf 197 Personen, etwa ein Zehntel der beiden Vormonate, heruntergegangen. Seit dem 20. März ist überhaupt niemand mehr angekommen. Die NGO-Schiffe für Seenotrettung im Mittelmeer habe ihre Ausfahrten eingestellt. Aus Libyen, wo der Krieg ungeachtet weitergeht, kommt niemand mehr heraus.

Die Gesellschaft teilt sich entlang der Frage, wer noch arbeiten kann

Wie woanders auch, versucht man sich mit viel Einfallreichtum anzupassen, den Lebensrhythmus und die Arbeitsweise zu verändern. Das Smart-Working und die Digitalisierung überhaupt waren in Italien vergleichsweise unterentwickelt. Das wird jetzt in wenigen Wochen nachgeholt. Die Länderregierungen verteilen hunderttausende von Tablets an Schulkinder, um den Unterrichtsbetrieb aufrechtzuerhalten. Für viele Werktätige und Studierende vergeht kein Tag ohne Videokonferenzen, E-Learning, den Besuch von virtuellen Schul- und Universitätsklassenräumen. Für viele – nicht für alle.

Es deutet sich eine neue Teilung der Gesellschaft an zwischen denen, die mehr oder minder ungehindert, wenn auch auf neue Weise, ihrer Arbeit nachgehen können und dafür bezahlt werden, und den Anderen, den „Handarbeitern“ im weitesten Sinne des Wortes, für die die Option des Smart-Working nicht besteht. Zur ersten Gruppe gehören auch diejenigen, die die öffentliche Meinung bilden und beeinflussen, und die geneigt sind, die Existenz der zweiten, sicher weitaus zahlreicheren Gruppe nicht so sehr zu beachten. Es wird aber diese letztere Gruppe sein, die möglicherweise nach dem “starken Mann“ rufen wird, wenn ihre Lebensgrundlage bedroht ist.

Heute ist die Zahl der am oder mit dem Virus in Italien Gestorbenen auf über 10.000 gestiegen. Aber die Tendenz der letzten Tage zu einer leichten, vorsichtigen Minderung der Zahl der Neuinfizierten, auch und gerade in der Lombardei hat sich erneut bestätigt.

Dieser Gastbeitrag von Christopher Hein erschien zuerst auf der Seite unseres Pariser Büros.