Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Konferenzbericht: Solidarität und Stärke - Zur Zukunft der Europäischen Union

Die Euro-Schuldenkrise hat das politische Europa in einen scheinbar atemlosen Zustand versetzt. Während die Öffentlichkeit sich vor allem berechtigte Sorgen über die fast täglich ausufernden Kosten der Krisenbewältigung macht, versuchen gehetzt wirkende europäische Regierungen, der Notlage in immer neuen Gipfeltreffen Herr zu werden. Dabei geht es längst nicht mehr "nur" ums Geld, sondern ums Ganze: am Ende der Krise könnte die Europäische Union eine Umwälzung hinter sich haben, wie es sie seit dem Vertrag von Maastricht nicht mehr gegeben hat.

Die Heinrich-Böll-Stiftung hatte 19. und 20. Oktober 2011 zur Konferenz "Solidarität und Stärke. Internationale Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union" geladen, um anlässlich der Veröffentlichung des gleichnamigen Berichts einer Expertenkommission mit internationalen Gästen über Charakter und Richtung dieser Umwälzung zu diskutieren. Am Ende überwogen zwei Erkenntnisse: Nur mit einem deutlichen Zuwachs an politischer Integration wird Europa gestärkt aus der Krise hervorgehen können. Und nur mit einem deutlichen Mehr an demokratischer Legitimierung werden die getroffenen Beschlüsse auch Bestand haben.

Europa in der Krise

Was 2010 als vermeintlich beherrschbare "Griechenlandkrise" begann, hat sich mittlerweile zu einem veritablen "Stresstest" (Ralf Fücks) entwickelt, der die gesamte EU erschüttert. Mit Spanien, Italien und mittlerweile sogar Frankreich sind drei der größten Volkswirtschaften Europas in das Visier der Finanzmärkte geraten. Der sich abzeichnende Finanzierungsbedarf für den geplanten "Rettungsschirm" lässt sich nicht mehr mit der "Lebenslüge" (wieder Fücks) vereinbaren, dass Europa keine Haftungsgemeinschaft sei. Ralf Fücks, der die Konferenz als Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung eröffnete, legte in seiner Analyse dar, dass selbst eine rigorose Sparpolitik in den betroffenen Ländern nicht ausreichen werde, um die aktuelle Krise zu bewältigen. 

Um die Divergenz der Volkswirtschaften der Eurozone, neben Bankenmisere und verfehlter Haushaltspolitik eine der zentralen Triebfedern des Dilemmas, umzukehren, brauche Europa eine gemeinsame (und natürlich am besten ökologisch geprägte) Wachstumsstrategie. Dies ließe sich nur mit einer Art Wirtschaftsregierung verwirklichen. Die Währungsunion müsse zu einer "Stabilitätsunion" werden, mit neuen europäischen Institutionen, die über diese Stabilität wachen, so Fücks. Damit sei auch klar, dass der bisherige Modus Operandi der Integrationspolitik an seine Grenzen gestoßen ist. Die notwendigerweise radikalen Schritte zur Krisenbewältigung müssten transparent und demokratisch legitimiert sein, eine Integration "hinter dem Rücken der Bevölkerung"  werde nicht mehr funktionieren.

Die EU ist immer noch ein Erfolgsmodell

Trotz des breit gefächerten Themenfelds der Konferenz standen die Debatten immer wieder im Zeichen der beiden titelgebenden Begriffe "Solidarität" und "Stärke". Dabei ist "Stärke" gerade für Grüne ein nicht ganz einfacher Begriff, wie auch Joachim-Fritz Vannahme anmerkte, der als Leiter der Europa-Projekte der Bertelsmann Stiftung am Bericht mitwirkte. Dass die EU auch künftig innereuropäisch wie international handlungsfähig und überaus erfolgreich bleiben könne, davon war bezeichnenderweise vor allem ein Amerikaner überzeugt. Andrew Moravcsik, Politikwissenschaftler an der Princeton Universität, forderte in seiner Keynote, dass die Europäer ihre eigene Position etwas selbstbewusster einschätzen und allzu großen Pessimismus vermeiden sollten. Politiker wie Journalisten neigten dazu, kurzfristig zu denken, die aktuelle Krise sollte dagegen besser im historischen und ländervergleichenden Kontext analysiert werden, so Moravcsik.

Ähnliches gelte für viele Zahlen und Statistiken, die einen europäischen Niedergang unvermeidlich erscheinen ließen. Fakt bleibe, dass die EU auch in den kommenden Jahrzehnten einer der wichtigsten internationalen Akteure bleiben werde. Moravcsik wies darauf hin, dass dies nicht nur für die europäische Wirtschaftsleistung, sondern auch in Bezug auf den politischen Einfluss gelte: Europäische Machtinstrumente zur Konfliktbefriedung und Modernisierung wie z.B. der Erweiterungsprozess seien im internationalen Vergleich außerordentlich erfolgreich, besonders wenn man sie mit amerikanischen Versuchen in dieser Richtung vergleiche. Auch die internationalen Fortschritte in der Klimapolitik wären ohne die europäische Führungsrolle unmöglich gewesen. Sollte sich Europa entschließen, diese Erfolge anzuerkennen und nach innen wie nach außen positiver und offensiver aufzutreten, würde dies in der ganzen Welt, nicht zuletzt auch in den USA, begrüßt werden, so Moravcsik.

Europäische Solidarität als aufgeklärtes Eigeninteresse

Während Moravcsik (in politikwissenschaftlichem Terminus) vor allem Europas erfolgreichen "output" hervorhob, wurde während der Konferenz doch schnell offensichtlich, dass der Ausgang der Eurokrise vor allem vom "input" in Form der gesellschaftlichen Unterstützung Europas abhängen wird. Europa als neu geordnete Haftungsgemeinschaft mit gemeinsamer Bürgschaft für offensichtlich erhebliche Finanzbeträge wird demnach nur mit einem gewissen Vorrat an gegenseitiger Solidarität Aussicht auf Erfolg haben. Nicht zuletzt die deutsche Griechenlanddebatte der letzten Monate hat demonstriert, dass es hier erhebliche Widerstände gibt.

Während der Konferenz wiesen alle Kommissionsmitglieder darauf hin, dass der europäische Solidaritätsbegriff in ihrem Bericht nach zum Teil intensiver Debatte eigenständig definiert worden sei. Solidarität in Europa könne nicht so uneigennützig oder (in den Worten von Claudio Franzius, Privatdozent an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin) so "dicht" sein, wie z.B. auf nationaler Ebene. Daniela Schwarzer von der Forschungsgruppe Europäische Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin nannte zwei Quellen eines möglichen europäischen Solidaritätsempfindens: ein klares Eigeninteresse, das sich aus den wohl verstandenen Folgen der europäischen Verflechtung speist, sowie das zugrundeliegende Versicherungsprinzip der nötigen Rettungsmaßnahmen, die als Teil einer künftigen gegenseitigen Risikoübernahme verstanden werden können.

Macht muss legitimiert sein

Ob sich das als notwendig erkannte europäische Solidaritätsgefühl tatsächlich entfalten wird, blieb während der Konferenz offen. "Wechselseitige Loyalität" könne jedenfalls nicht einfach "von oben" eingefordert  werden, sondern sei das Ergebnis einer öffentlichen Debatte, so Claudio Franzius. Dass diese Solidaritätsdebatte im Kontext einer europäischen Machtzunahme stattfinden soll, warf neue Fragen auf. Ulrich K. Preuß, Emeritus Professor für Recht und Politik der Hertie School of Governance in Berlin, der gemeinsam mit Claudio Franzius im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung eine Studie zur Zukunft der europäischen Demokratie verfasst hat (die im Erscheinen begriffen ist), betonte, dass eine demokratische Legitimierung europäischer Macht notwendig sei, um die unvermeidbaren Konflikte moderieren und die notwendigen Krisenmaßnahmen politisch abfedern zu können. Viele Podiumsgäste stimmten dem Kommissionsbericht zu, der aus diesen Gründen eine weitere Demokratisierung der Europäischen Union forderte.  Dies müsse durch konkrete Schritte wie den Ausbau der Kontrollrechte nationaler Parlamente und die Förderung europaweiter Bürgerinitiativen, vor allem aber durch die Stärkung des Europäischen Parlaments geschehen.

Die bisherige Rolle des Europäischen Parlaments wurde von vielen Konferenzteilnehmern eher kritisch eingeschätzt. Gerald Häfner, Mitglied der Fraktion Die Grünen/EFA, erzählte aus eigener Erfahrung von der Kluft zwischen EU-Parlamentariern und Unionsbürgern. Es gebe eine große Diskrepanz zwischen dem bereits vorhandenen Einfluss des Parlaments und dem Empfinden vieler Menschen, entsprechende Entscheidungen durch die Europawahlen tatsächlich beeinflussen zu können. Heather Grabbe vom Open Society Institute in Brüssel ergänzte, dass die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments weder repräsentativ sei noch echte Alternativen biete – in vielen wichtigen politischen Fragen unterschieden sich die Antworten der großen Fraktionen kaum voneinander.

Keine völlige Entmachtung von Mitgliedsstaaten

Ulrich K. Preuß nannte ein weiteres Beispiel der Verletzung urdemokratischer Prinzipien: Bisher gebe es keine Möglichkeit, die politisch Verantwortlichen für die EU-Politik in Brüssel abzuwählen. Preuß erörterte einige Vorschläge der Kommission, die darauf abzielten, Missstände wie diese abzustellen und politischen Raum für eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. So sollen künftig ein einheitliches europäisches Wahlrecht  und ein europäisches Parteienstatut dafür sorgen, dass sich gesamteuropäische Parteien bilden und europaweit zur Wahl antreten können. Das Parlament selbst sollte künftig das Initiativrecht in der europäischen Gesetzgebung erhalten und berechtigt sein, selbst Kandidaten für den Vorsitz der Europäischen Kommission vorzuschlagen.

Wie Preuss unterstrichen auch die anderen Experten der Kommission immer wieder, dass die Vorschläge zur Demokratisierung der Europäischen Union nicht darauf hinauslaufen sollen, Mitgliedstaaten völlig zu entmachten. Die EU bleibe ein Mehrebenensystem, in dem die nationalen Demokratien als gleichrangige Stränge der Legitimation eine wichtige Rolle spielten, so Preuss. Trotz dieser Einschränkung stießen die Anregungen der Kommission während der Konferenz nicht selten auf Widerspruch. Andrew Moravcsik und Jan Zielonka, Professor für Europapolitik an der Oxford Universität, waren nicht davon überzeugt, dass die Bereitstellung weiterer Partizipationsmöglichkeiten etwas Grundsätzliches an der geringen Bereitschaft vieler Unionsbürger, sich tatsächlich an europäischer Demokratie zu beteiligen, ändern würde. Darüber hinaus sei fraglich, ob sich eine Änderung der EU-Verträge durchsetzen ließe, ohne die sich viele der ambitionierteren Vorschläge kaum realisieren ließen.

Auch Peter Graf von Kielmansegg, Emeritus Professor für Politik der Universität in Mannheim, glaubte nicht, dass sich die von ihm als unvermeidlich bezeichnete Bürgerferne der EU durch die vorgeschlagenen Reformen korrigieren ließe. Vor jedem europäischen Integrationsschritt müsse deshalb nüchtern abgewogen werden, ob der erhoffte Nutzen den Verlust an politischer Legimitation aufwiegt. Die bedenklichen Forderungen, Mitgliedsländer wie Griechenland in der Krise quasi zu "entmündigen", warfen nach Ansicht von Graf Kielmansegg dagegen die Frage auf: "Wollen wir das?".

Der europäische Umgang mit Griechenland wurde von Jadwiga Staniszkis, Emeritus Professorin für Politik und Soziologie der Universität Warschau, sogar als "strukturelle Gewalt" bezeichnet. Staniszkis wandte sich mit deutlichen Worten gegen die "veraltete" Idee des europäischen Föderalismus und gegen Forderungen nach mehr Demokratie in Europa. Richtig verstandene Solidarität bedeute vielmehr, den Mitgliedstaaten mehr Freiheit für eigene, also dezentrale institutionelle Innovationen zu verschaffen, mit denen sie viel gezielter auf ihre Probleme reagieren könnten.

Europäische Sozialpolitik bleibt begrenzt

Die Motive und Reibungspunkte der "Generaldebatte" des ersten Tages blitzten auch während des zweiten Konferenztages immer wieder auf, der nach der Generaldebatte den einzelnen Politikbereichen, dem "Kleingedruckten"  gewidmet war. Hintergrund der Fachdebatten der Kommission war die Überlegung, so Rainder Steenblock, Minister a.D. und Koordinator der ExpertInnenkommission, dass eine integrationsmüde Öffentlichkeit am besten durch die Demonstration eines ganz konkreten europäischen "Mehrwerts" vom Nutzen weiterer Integrationsschritte überzeugt werden könne. Die Kommissionsvorschläge zur möglichen Zukunft einer europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hatten natürlich einen naheliegenden Bezug zur aktuellen Eurokrise. 

Daniela Schwarzer stellte voran, dass ein gemeinschaftlicher Währungsraum auch eine wirtschaftliche Koordinierung, effektive Krisenmechanismen und eine gemeinsame Ordnungspolitik benötige. Neben Maßnahmen zur Neuregulierung des Bankensektors und der Einigung auf eine europäische Wachstumsstrategie wäre Schwärzer zufolge die Ausgabe von Eurobonds ein Schritt in diese Richtung, auch wenn dieses Werkzeug innerhalb der Kommission nicht unumstritten gewesen sei. Angesichts knapper europäischer Finanzmittel könne eine gezielte Ausrichtung der EU-Ausgaben auf länderübergreifend anerkannte Prioritäten dazu beitragen, die öffentliche Akzeptanz europäischer Kooperation zu erhöhen. In Bezug auf eine europäische Sozialpolitik müsse angesichts "schwacher Solidaritätsgefühle" abgewogen werden, was wünschenswert und möglich sei. Die Kommission schlage unter diesen Voraussetzungen die Einführung sozialer Mindeststandards vor, so Schwarzer. Einige soziale Schutzmaßnahmen z.B. zur Armutsbekämpfung oder Gesundheitsvorsorge könnten demnach ebenfalls europäisiert werden.

Sozialstandards überdenken

Für Ronald Janssen, Berater des Europäischen Gewerkschaftsbunds in Brüssel, bestand kein Zweifel an einem kausalen Zusammenhang zwischen dem Mangel an sozialpolitischen Standards und der Krise der Eurozone. Die Niedrigzinspolitik der EZB habe vor allem Deutschland begünstigt und auf der anderen Seite zur Blasenbildung in den Peripherieländern der Eurozone geführt. Wäre die Sozialpolitik im Lissabon-Vertrag stärker beachtet worden, hätten sich die resultierenden Ungleichgewichte vermeiden lassen, die im vergangenen Jahrzehnt europaweit zu sinkenden Löhnen, der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und wachsender sozialer Unsicherheit führten, so Janssen. Die aktuellen Verpflichtungen der Krisenländer zu Sparhaushalten und weiterem Sozialabbau würden diese Fehlentwicklungen fortführen. Forderungen nach einer verstärkten europäischen Sozialpolitik wurden aber auch von Janssen vorsichtig formuliert. So sollten europäische Eingriffe in nationale Arbeitsmärkte durch "one size fits all"-Regeln, z.B. die Festlegung eines Mindestlohnes, seiner Ansicht nach vermieden werden.

An dieser Stelle war sich Janssen u.a. mit Mats Persson einig, Direktor des Think-Tanks Open Europe in London. Persson verwies auf die großen Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer als eigentliche Wurzel der Währungskrise. Eurobonds oder ähnliche Instrumente könnten hier keine Abhilfe leisten, die betroffenen Euro-Länder müssten sich vielmehr zu tiefgreifenden Strukturreformen und einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitsmärkte durchringen. Persson stellte in diesem Zusammenhang auch den Solidaritätsbegriff der Kommission in Frage. Der anvisierte Euro-Bailout diene offensichtlich vor allem verschuldeten Banken. Es sei verständlich, wenn z.B. die Slowakei zögere, sich an der Finanzierung dieser Rettung zu beteiligen, da das Land selbst eine schmerzhafte Reform des Bankensektors hinter sich habe und nun für Länder einstehen soll, die davor zurückgeschreckt seien.

Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europäischen Parlamentes und Sprecher der deutschen grünen Gruppe , wehrte sich gegen die Mutmaßung Ronald Janssens, dass der Euro und Deutschlands Exportwirtschaft für die wachsende soziale Spaltung in Europa verantwortlich sei. Deutschland stehe als Exportnation im internationalen Wettbewerb und könne sich nicht in den "Kokon des europäischen Gefüges" zurückziehen. Solidarität sei in Europa nur möglich, wenn sie von der Solidität aller Beteiligten begleitet werde. Auch die Krisenländer schuldeten Verlässlichkeit, künftige Governance-Reformen in Europa müssten deshalb wirksame Sanktionsmechanismen gegen Vertragsverstöße enthalten.

Europäische Energiepolitik: Top-down oder Bottom-up?

Auf der Suche nach einem überzeugenden "Fortschrittsprojekt" der EU wird man bei allen berechtigten Einwänden wohl am ehesten in der Energie- und Klimapolitik fündig. Die Kommission bestätigte die positive Prognose vieler Experten, dass eine Umstellung der europäischen Energieversorgung auf 100% Erneuerbare Energien bis 2050 grundsätzlich möglich sei. Auch die "20-20-20 bis 2020"-Initiative der EU sei, abgesehen von Problemen bei den geplanten Effizienzsteigerungen, auf einem guten Weg, berichtete Delia Villagrasa, Senior Advisor der European Climate Foundation in Brüssel. Der enge Zusammenhang zwischen den europäischen Klimazielen und einer langfristigen Energiesicherheit für die Wirtschaft erscheint geradezu prädestiniert, um den "Mehrwert" einer europäischen Energiepolitik zu demonstrieren. Die EU werde in der Lage sein, den Binnenmarkt sehr viel effizienter mit Energie zu versorgen, erläuterte Michaela Schreyer, Mitglied der europäischen Kommission a.D. und Vizepräsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland e.V.

Auf internationaler Bühne könnte Europa als eigenständiger Akteur sowohl die Setzung internationaler Standards als auch die internationale Nachfrage nach Energieressourcen beeinflussen, so Schreyer. Der Solidaritätsgedanke werde vor allem durch eine konsequente Einpreisung der bisher vernachlässigten externen Kosten der Atom- und Kohlenutzung zum Tragen kommen. All dies kann Schreyer zufolge allerdings nur ermöglicht werden, wenn institutionelle Hürden wie der EURATOM-Vertrag und das bisherige Recht der Mitgliedstaaten, selbst über ihren Energiemix zu entscheiden, aus dem Weg geräumt werden können.

Die Ausführungen von Grzegorz Wisniewski, Vorstandsvorsitzender des Institute for Renewable Energy [http://www.ieo.pl] in Warschau, bestätigten, dass sich viele Mitgliedstaaten schwer damit tun könnten, auf dieses Recht zu verzichten. Die polnische Energiepolitik stehe ganz im Zeichen von Energiesicherheit und Niedrigpreisen, Klimapolitik spiele nur am Rande eine Rolle. Anstatt erneuerbare Energien zu fördern bereiteten die großen Energieriesen in enger Kooperation mit dem Staat den Bau von neuen Atomkraftwerken vor. Europa könne Polen zwar Klimazielvorgaben machen, habe aber keine Mittel, auf diese Veränderung des Energiemixes direkten Einfluss zu nehmen. Erfolgversprechender wäre es nach Ansicht von Wisniewski, konkrete Projekte auf lokaler Ebene mit europäischen Mitteln zu fördern. Neben der direkten Einbeziehung der Bürger vor Ort wären auf diesem Weg auch für Polen besonders wichtige Transfers von Energie- und Umwelttechnologien möglich.
Der scheinbare Widerwille einiger EU-Staaten, einer konsequenten Energie- und Klimapolitik zuzustimmen, veranlasste Valentin Hollain von EUROSOLAR e.V. in Bonn, sich klar gegen weitere Versuche zu Energielösungen auf EU-Ebene auszusprechen. Eine "Koalition der Unwilligen" werde immer dazu führen, dass zentrale Einigungen nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zustande kommen (Hollain: "Gemeinsam bedeutet langsamer!"). 

Besser wäre es, z.B. in Deutschland die konsequente Weiterentwicklung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) voranzutreiben, da die Entwicklung hier kurz vor einem Durchbruch stehe. Das Warten auf Lösungen wie den europäischen "Supergrid" würde diese Dynamik zum Erliegen bringen, so Hollain. Erfolge auf nationaler und lokaler Ebene hätten dagegen Demonstrationscharakter und würden eine europäische Vernetzung "organisch" vorantreiben. Hollains Analyse traf nicht unerwartet auf Widerspruch. Der Verzicht auf eine europäische  Führungsrolle würde mit hoher Sicherheit mehr kosten und länger dauern, so Michaele Schreyer. Ein unkoordinierter Ausbau erneuerbarer Energien würde aufgrund der hohen Ineffizienz zudem viel Biodiversität vernichten. Um die Entwicklung in Europa voranzutreiben, sei es wichtig, eine positive Debatte zu führen und darauf zu verzichten, andere Staaten als "Bremser" anzuprangern, nicht zuletzt da auch Deutschland keineswegs ein Musterkandidat sei.

Der Gegensatz zwischen Werten und Interessen muss überwunden werden

Die Suche nach neuen Perspektiven für Europa bot auch in den Workshops zu den anderen Sachgebieten ein eher gemischtes Bild. Im Arbeitskreis zur Zukunft der europäischen Agrarpolitik trafen die Zielsetzungen der Kommission schnell auf die Realitäten europäischer Interessensgegensätze, die von Ico von Wedel erläutert wurden, der  im Kabinett von EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos tätig ist. Die Diskrepanzen zwischen wertbezogenen Absichten und politischer "Machbarkeit" wurden insbesondere bei der Bewertung der internationalen Rolle Europas deutlich. Während sich Christine Chemnitz, Referentin Internationaler Agrarhandel bei der Heinrich-Böll-Stiftung, und Tobias Reichert von Germanwatch in Berlin klar für eine Streichung von Exportsubventionen und eine Reduzierung des massiven Imports von Futtermitteln wie Soja aussprachen, bot von Wedel kaum Aussicht auf eine Veränderung der expansiven EU-Strategie. Deutliche Kritik musste sich der Vertreter der Europäischen Kommission auch von Martin Häusling anhören, der als Mitglied der Grünen im Europäischen Parlament feststellte, dass in Brüssel keine Vision für Strukturveränderungen in der Agrarpolitik zu erkennen sei. Zwei Drittel der Finanzmittel würden ohne erkennbare Strategie pro Hektar ausgeschüttet, der Agrarkommissar sei lediglich für das "grüne Anstreichen" dieser Politik zuständig. 

Ähnliche Widersprüche kamen in der Diskussion um die Erweiterungspolitik der Europäischen Union zur Sprache. Joost Lagendijk, niederländischer Politiker der Partei GroenLinks, sprach sich für eine konsequente Fortführung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und den Ländern des Westbalkans aus, wobei Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte  keinesfalls an den Rand gedrängt werden dürften. Das Beharren der EU auf  "positiver Konditionalität" als Strategie der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik wurde in der Arbeitsgruppe kontrovers diskutiert. Einigkeit herrschte aber darüber, dass ein einfaches „Weiter so“ nicht wünschenswert ist, sondern dass die EU Konditionalität stärker als bisher mit gesellschaftlichem Dialog und Austausch verknüpfen müsse.
   
Der vermeintliche Gegensatz zwischen Werten und Interessen trat bei der Debatte über die künftige Außen- und Sicherheitspolitik Europas naturgemäß auffällig zu Tage. Die Kommission habe sich bemüht, eine Dichotomie zwischen beiden Begriffen aufzuheben, erklärte Ulrike Guérot vom European Council on Foreign Relations. Die außenpolitische Vielstimmigkeit der EU sei Schwäche und Stärke zugleich und könne dabei helfen, eine europäische wertbezogene "Weltordnungspolitik" zu betreiben, die das Denken des 20. Jahrhunderts hinter sich lasse. Frithjof Schmidt, Stellvertretender Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion, bestätigte, dass eine "kohärente Außenpolitik" Werteorientierungen, Sicherheitsbedürfnisse und handfeste Wirtschaftsinteressen kombinieren müsse. Die EU-Politik im arabischen Raum sei auch deshalb gescheitert, weil sie fast völlig von Sicherheits- und Wirtschaftsfragen dominiert worden sei. Wie ernst die aktuellen "Festtagsreden" zu nehmen seien, werde sich im künftigen Umgang mit Diktaturen wie Saudi-Arabien zeigen, so Schmidt. Skepsis herrschte bei der Frage vor, ob sich Europa auf diesem Weg auch zu einer echten Vergemeinschaftung der Außenpolitik durchringen könne. Die aktuelle Krise Europas könnte auch hier zu einem unerwarteten "window of opportunity" werden, wie Ulrike Guérot hoffte. Würden Integrationsschritte "durchgestoßen" werden, die in Richtung Staatlichkeit weisen, wären auch in der EU-Außenpolitik revolutionäre Veränderungen denkbar.