Abgesehen vom Tod und den Steuern ist im Leben Südafrikas wenig so gewiss wie der Ausgang einer Wahl, bei der der ANC auf dem Stimmzettel steht. (1) Die Kommunalwahlen von letzter Woche entzogen anders lautenden Spekulationen, die in ihrem Vorfeld laut geworden waren, den Boden. Die 63,5 Prozent der Stimmen, die der ANC auf sich vereinigen konnte, entsprachen fast den 66 Prozent, die die Partei bei den Kommunalwahlen 2006 und den Parlaments- und Provinzwahlen von 2009 erreicht hatte.
Im Brennpunkt steht auch dieses Mal die Frage: Wie kann eine politische Partei, die eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt regiert, eine Gesellschaft, in der ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist und nahezu die Hälfte der Bürger in Armut lebt, eine Wahl nach der andern so deutlich für sich entscheiden?
Gemeinhin führen doch Unzufriedenheit und Not die Bürger gerade auf kommunaler Ebene am ehesten zu Proteststimmen, die vor allem dazu gedacht sind, den Herrschenden „einen Denkzettel zu verpassen“.
Die vielen Dutzend Proteste auf lokaler Ebene, die Monat für Monat gezählt werden, sind Ausdruck der weit verbreiteten Unzufriedenheit der Menschen mit dem Staat und den Leistungen vieler lokaler Politiker und Beamter. Bei einer Umfrage gaben 2010 nur 38 Prozent der Befragten an, sie seien mit der Arbeit ihrer kommunalen Regierung zufrieden – sechs Jahre zuvor hatten das noch 55 Prozent gesagt. Und gerade einmal ein knappes Viertel der Personen, die bei der vom Human Sciences Research Council im Auftrag der Independent Electoral Commission durchgeführten und im März 2011 veröffentlichten Studie befragt wurden, meinten, sie würden den Politikern vertrauen.
Andererseits, werfen wir einen Blick auf Mpumalanga, eine Provinz, die regelmäßig von lokalen Protesten erschüttert wird: Am vergangen Mittwoch entschieden sich dort 78 Prozent der Wähler für einen ANC-Kandidaten und die Partei konnte insgesamt eine halbe Million Stimmen mehr auf sich vereinen als noch 2006 (2,218 Millionen Stimmen gegenüber 1,687 Millionen).
Mit verantwortlich für diesen Erfolg ist, dass sich seit 1994 durchaus viele Dinge verändert haben – jedoch nicht auf eine Art, die als schnell, gerecht oder demokratisch genug empfunden wird. So viel Unmut und Verärgerung das erzeugen mag, kann es aber nicht notwendigerweise auch mit Ablehnung gleichgesetzt werden. So haben sich der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung verbessert und sind die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung und das Elektrizitätsnetz ausgebaut worden, auch wenn sich viele Haushalte diese Dienstleistungen nur eingeschränkt oder gar nicht leisten können.
Und auch der Anteil der Südafrikaner, die unter Hunger leiden, ist gegenüber dem Stand vor 15 Jahren zurückgegangen. So beziehen heute 14 Millionen Menschen Leistungen vom südafrikanischen Sozialsicherungssystem, Leistungen, ohne die ein großer Teil der einkommensschwachen Haushalte wohl nicht über die Runden kommen könnte.
Eine weitere Erklärung für den Erfolg des ANC ist die insgesamt rückläufige Wahlbeteiligung. Nach 1994 ging der Anteil der Wahlberechtigten, die an den Parlamentswahlen teilnahmen, rapide zurück. Lag der Anteil aller Wahlberechtigten, die für den ANC stimmten, 1994 noch bei 54 Prozent, sank er bis 2004 auf 39 Prozent. Seitdem jedoch steigt die Wahlbeteiligung wieder an, ein Trend, den auch die Wahl am vergangenen Mittwoch bestätigt hat. Die Wahlbeteiligung stieg von 48,4 Prozent 2006 auf 57,5 Prozent, darunter eine Million Wähler, die 2006 noch nicht registriert waren. Die Apathie des Wahlvolks ist also auch keine ausreichende Antwort.
Keine Alternative?
Die gängige Erklärung, dass die Wähler in Südafrika keine glaubwürdige Alternative haben, verweist nur zurück auf die ursprüngliche Frage. In der Tat konnte der ANC im Vergleich zu 2006 in den Provinzen in KwaZulu-Natal, Limpopo, Mpumalanga und Western Cape unter dem Strich mehr Stimmen gewinnen.
Bei den Hochrufen, mit denen die Gewinne der Democratic Alliance (DA) bejubelt werden, wird der Umstand ignoriert, dass sie sich hauptsächlich auf die Provinzen Gauteng und Western Cape beschränken. In den anderen Landesteilen konnte die DA kaum zulegen.
Darüber hinaus vernachlässigt die These von der fehlenden Alternative die komplexen Bande, die zwischen dem ANC und seinen Unterstützern bestehen. Diese Beziehungen sind nicht schwarzweiß (an/aus, dafür/dagegen), sondern in vielen Graustufen schattiert, sie verändern sich mit der Zeit und können durchaus zu „widersprüchlichen“ Reaktionen führen.
Mystische Macht
In einer gewissen Hinsicht ist die Stärke des ANC an den Wahlurnen ein Indiz für die Fähigkeit der Partei, ihre Vormachtstellung und Attraktivität selbst unter ungünstigen Bedingungen zu bewahren. Sie tut dies insbesondere dadurch, dass sie sich selbst glaubwürdig in der Geschichte des Kampfes und der Befreiung positioniert, eine Geschichte, die sich über Generationen hinweg spannt.
Seine Unterstützer und Anhänger kennen den ANC in mehreren Inkarnationen. Eine davon ist eine Abstraktion, in der die Organisation ein Reservoir an Idealen und Werten und ein Destillat des Kampfs um Gleichberechtigung repräsentiert. Verkörpert in der organisatorischen Einheit, werden diese Ideale und Werte der Treuhänderschaft der Parteiführer und -funktionäre anvertraut. Man kann sich das als die sozusagen „metaphysische“ Dimension des ANC vorstellen.
Die mystischen Anklänge sind unverkennbar und säkulare Strukturen und Aktivitäten werden in den Dienst der quasi „heilig gesprochenen“ Ideale gestellt.
In diesem Sinne wird der ANC als eine Partei gesehen, die die konkreten Personen transzendiert, aus denen sie sich zusammensetzt. Lokale Proteste implizieren nicht notwendigerweise auch eine Verurteilung der „metaphysischen“ Entität – der Idee des ANC – oder auch nur seiner Anführer.
Vielmehr können sie eine Aufforderung sein, diese Werte und Ideale zu bewahren und Personen und Strukturen zur Ordnung zu rufen, die nach Meinung der Menschen die Organisation und ihre Geschichte entweihen. Als Präsident Zuma 2008 in Kapstadt vor Anhängern erklärte, dass der ANC bis zur „Rückkehr von Jesus“ regieren würde, war das weniger einer Übertreibung als eine bewusste Anspielung auf den Nimbus einer Organisation, die mit der Aufrichtung eines tausendjährigen Reichs betraut ist.
Eine der wichtigsten Forderungen der protestierenden Menschen lautet in vielen Fällen, dass der Präsident zu ihnen kommt und ihre Beschwerden aus erster Hand vernimmt. Dahinter steht die Überzeugung, dass die ANC-Führung, ist sie erst über die Situation informiert, die Missetäter zur Rechenschaft ziehen und rasch und gerecht handeln wird. Paradoxerweise können Proteste im Nachgang sogar ein Vertrauensvotum für die Organisation darstellen – vorausgesetzt, sie hört den Menschen zu und ergreift Maßnahmen zur Behebung der Missstände.
Allerdings ist der ANC in dieser Hinsicht zusehends verwundbar geworden. Die Fähigkeit – ja sogar die Neigung – der Partei, der Öffentlichkeit konsequent zu dienen und die Ursachen der Unzufriedenheit anzugehen, hat in erheblichem Maße gelitten, ein Umstand, der den zunehmenden Widerspruch zwischen der „Idee“ des ANC und seiner weltlichen Realität unterstreicht.
Der Erfolg an den Wahlurnen verschafft dem ANC wenig mehr als eine kurze Atempause. Der Unmut wird anhalten, die Proteste in den Gemeinden werden weitergehen und die Autorität der Partei weiter auf den Prüfstand gestellt, nicht zuletzt von ihren eigenen Anhängern.
Schwindende Autorität
Das sind keine Startschwierigkeiten. Vielmehr wurzeln sie tief liegenden ökonomischen und sozialen Krisen, die bis in die 1970er Jahre zurückreichen und für die die ANC-Regierung bislang noch keine Lösung gefunden hat. So sehr sich der ANC auch dafür eingesetzt hat, die Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zu verbessern, lebt immer noch knapp die Hälfte der Bevölkerung in Armut, sind Arbeitsplätze Mangelware, ist die Ungleichheit im Land größer als je zuvor und die Kriminalitätsrate hoch.
Diese Zustände werden weiter für Unmut sorgen und mit der Zeit zu Instabilität führen. In Anbetracht der offenkundig begrenzten Aussichten auf grundlegende Verbesserungen müssen andere Wege gefunden werden, die Autorität zu stärken und mehr Zustimmung zu erzeugen.
Eine bewährte Methode, den Unmut zu beschwichtigen, besteht darin, jene Bande zu bekräftigen und aufzuwerten, die den Widerspruch dämpfen oder ihn in andere, besser handhabbare Richtungen umzulenken.
Andere Gruppen ausschließende Interpretationen von Zugehörigkeit, Ansprüchen und Rechten könnten sich bald schon als politisch lohnenswert erweisen – selbst oder vielleicht gerade in einer von der Apartheid tief gezeichneten Gesellschaft.
Es besteht eine reale Gefahr, dass wieder einmal Identität und Ansprüche propagiert und populistische Diskurse über Authentizität darüber inszeniert werden, wer ein „echter“ Südafrikaner ist , wer ein „echter“ Afrikaner, wer „schwarz“ und was ein Mann ist – und welchen Platz Frauen in all dem haben.
Diese Manöver könnten einhergehen mit immer „engeren und strengeren“ Auslegungen von Kultur und Tradition und einer wachsenden Antipathie gegen den „importieren Luxus“ des liberalen Konstitutionalismus. In der Tat kann man immer häufiger Klagen über „wertlose Rechte“ und die „papierene Verfassung“ vernehmen.
Wird dagegen nichts unternommen, könnte daraus durchaus eine Art nationalistischer Populismus hervorgehen. Bestimmte Kreise innerhalb des ANC scheinen bereit, ein solches Experiment zu wagen, in dem sozialer Konservatismus mit Gewinnstreben und Maßlosigkeit vereint wird und zielgerichtete Freigebigkeit als Schmiermittel dient. Manche Beobachter sehen in dem Julius-Malema-Spektakel den Prototyp eines solchen „Projekts“ (2).
Was daraus folgen wird, lässt sich nur schwer vorhersagen. Ohne Zweifel werden derartige Manöver heftige Kontroversen auslösen, sowohl innerhalb wie außerhalb des ANC. Aber auf ein fortschrittliches Ergebnis zu hoffen wäre einfältig. Dafür tummeln sich auf den Fluren der Macht in der Zwischenzeit allzu viele Leute, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Eigeninteressen verfolgen.
Endnoten:
(1) Eine Ausnahme macht lediglich die Provinz Western Cape; dort hat die „Democratic Alliance“ die letzten Wahlen (2009) gewonnen.
(2) Malema, der Präsident der Jugendliga des ANC wurde im Nov 2011 wegen parteischädigenden Verhaltens für fünf Jahre vom ANC suspendiert. Er hat gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt.
Hinweis:
Bei dem Artikel handelt es sich um die deutsche Übersetzung des Artikels "ANC`s puzzling winning streak" der am 23. Mai 2011 in der Zeitung "The Sunday Independent" erschienen ist.
Hein Marais
Der politische Analyst Hein Marais war stellvertretender Chefredakteur des linken Monatsmagazin "Work in Progress“ und beschäftigt sich heute aus politökonomischer Sicht kritisch mit der Entwicklung Südafrikas, u.a. in seinem 2011 erschienenen Buch „South Africa pushed to the Limit: The Political Economy of Change”.