Die Freiheit zu sterben: Selbstbestimmung durch Sterbehilfe und Patientenverfügungen
Vorwort (Dr. Andreas Poltermann)
Seit nun bald 30 Jahren gibt es hierzulande die Forderung, mögliche Willenserklärungen von Patienten über ein Ende lebensverlängernder Behandlungen durch Gesetz die notwendige Verbindlichkeit zu verleihen. Bisher hat der Gesetzgeber nichts unternommen. Die gesetzgeberische Enthaltung wurde stattdessen von der Rechtsprechung kompensiert. In einer Vielzahl von Entscheidungen hat sie festgelegt, dass der Wille des Patienten von Ärzten und Pflegern zu befolgen ist. Dies gelte auch für Willenserklärungen, die künstliche Ernährung auch außerhalb der Sterbephase beenden oder das Leben durch die Gabe von Morphinen als Nebeneffekt der Schmerzbehandlung verkürzen zu lassen.
Dies sind nach gängiger Rechtsprechung zulässige Formen der passiven und indirekten Sterbehilfe. Dennoch blieb die Unsicherheit groß und führte nachweislich zu einer Unterversorgung von Patienten – zur Unterversorgung mit Schmerzmitteln etwa, aber auch zu einer Behandlung, die nicht an den Wünschen und Werten der Patienten orientiert ist. Diese Unsicherheit wurde schließlich durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus den Jahren 2003 und 2005 komplettiert, als die Richter die Verbindlichkeit von Vorausverfügungen entgegen der bisherigen Spruchpraxis auf die prognostizierte Sterbephase beschränkten und eine strafrechtliche Klärung der Sterbehilfe anmahnten. Seitdem ist der Gesetzgeber gefordert.
Über den Stellenwert der Selbstbestimmung
Es ist nun nicht einfach damit getan, Patienten, Betreuer, Bevollmächtigte, Vormundschaftsrichter und medizinisches und pflegendes Personal besser über ihre Rechte und Pflichten zu informieren. Nicht nur besseres Wissen ist gefragt, sondern auch eine Entscheidung des Gesetzgebers, welchen Stellenwert die Selbstbestimmung von Patienten und welche Verbindlichkeit ihre Willenserklärungen haben sollen.
Da der freie Wille und die Selbstbestimmung der Person tragende Prinzipien unseres Gemeinwesens und unserer Kultur sind, schien vom Gesetzgeber anfangs nur eine weniger missverständliche zivil- und strafrechtliche Klarstellung der bereits geltenden und – wie es meist heißt – auch bewährten Rechtslage gefordert. Doch so einfach ist das ganz offensichtlich nicht. Während einer der dem Bundestag zugeleiteten Entwürfe zur gesetzlichen Regelung der fünf Patientenverfügung dieses Ziel einer Klarstellung verfolgt, will der andere die geltende Rechtslage eindeutig ändern, indem er die staatliche Verantwortung für den Lebensschutz über die Selbstbestimmung der Patienten stellt. Offenbar gibt es Zweifel daran, dass sich das geltende Recht bewährt hat.
Tatsächlich kann die gegenwärtige Praxis nicht befriedigen
Patientenverfügungen als Ausdruck des autonomen Willens passen selten zu den Situationen, in denen ein Mensch schwer erkrankt ist, in denen er abhängig ist und seine Autonomie treuhänderisch an Ärzte und Pflegepersonal übergibt. Angehörige, die im Ernstfall die Vorausverfügung durchsetzen sollen, haben mit dem Patienten selten über dessen Wünsche und Wertvorstellungen gesprochen, die er in seiner Patientenverfügung ausgedrückt haben will. In den Krankenhäusern scheitern solche Vorausverfügungen oft schon daran, dass nicht nach ihnen gefragt wird oder unklar ist, wer danach fragen und wo dies dokumentiert werden soll. Zudem sind Patientenverfügungen in hohem Maße interpretationsbedürftig, gerade weil sie selten eindeutig eine konkrete Entscheidungssituation antizipieren.
Ihre beste Wirkung entfalten Vorausverfügungen dort, wo Patienten angesichts einer fortgeschrittenen und unheilbaren Erkrankung mit Angehörigen und einem Arzt ihres Vertrauens einen Vorsorgeplan besprechen, bei dem die vorab verfasste Patientenverfügung als Leitfaden dient. Die Patienten und Angehörigen vollziehen in diesem kommunikativen Prozess den Perspektivwechsel, der mit der Diagnose einsetzt und mit dem sie akzeptieren, dass es ans Sterben geht. An einer solchen kommunikativen Einbettung der Patientenverfügungen mangelt es bisher.
Mit ihr ist die Perspektive bezeichnet, in der die Debatte über Patientenautonomie und die Verbindlichkeit von Patientenvorausverfügungen weiter geführt werden sollte. Ziel von Patientenverfügungen ist - in der Regel - ja nicht der schnelle Tod, sondern die gute Behandlung nach den Wertvorstellungen des Patienten, der sich in die Fürsorge von Ärzten und Pflegern begeben hat. Im Streit zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz sollte die nun zu findende gesetzliche Regelung die Perspektive auf die kommunikative Einbettung der Autonomie möglichst weit öffnen. Im Mittelpunkt stünde dann nicht der einmalige Willensakt „Patientenverfügung“, sondern ein Vertrauen bildender Prozess.
Dass die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten einen solchen Prozess einleiten kann, muss freilich bezweifelt werden. Die Begrenzung der Selbstbestimmung auf die unmittelbare Sterbephase läuft auf eine gesetzlich verordnete Pflicht- oder gar Zwangsbehandlung außerhalb der Sterbephase hinaus. Sie würde im Gegenteil die Position der Autonomie herausfordern. Die Vormundschaftsgerichte würden mit Klagen überhäuft und der Ruf nach aktiver Sterbehilfe lauter werden.
Der vorliegende Band ist aus der Tagung „Die Freiheit zu sterben. Selbstbestimmung durch Sterbehilfe und Patientenverfügung“ hervorgegangen, die von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Humanistischen Union am 27. Februar 2007 veranstaltet wurde. Ich danke der Humanistischen Union, namentlich ihrer Bundesvorsitzenden Professor Dr. Rosemarie Will, für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Tagung. Mein besonderer Dank gilt den Referentinnen und Referenten, die ihre engagierten Vorträge binnen weniger Wochen für die Drucklegung überarbeitet haben. Uns eint das Engagement in der Sache und das Interesse, mit dieser Schrift Denkanstöße für die gesellschaftliche und politische Debatte über Selbstbestimmung am Lebensende zu geben.
Dr. Andreas Poltermann ist Referent für Bildung und Wissenschaft in der Heinrich-Böll-Stiftung
"Die Freiheit zu sterben. Selbstbestimmung durch Sterbehilfe und Patientenverfügungen"
Mit Beiträgen von Ralf Fücks, Rosemarie Will, Torsten Verrel, Till Müller-Heidelberg, Volker Lipp, Andrea Mittelstädt, Meinolfus W. M. Strätling, Ulf Kämpfer, Oliver Tolmein