Viele Nahost-Experten sind sich darin einig, dass die moderaten Kräfte auf beiden Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts zu den politischen Opfern der israelischen Militäroperation „Gegossenes Blei“ in Gaza gehören. Die Podiumsdiskussion Der Konflikt im Nahen Osten. Politische Perspektiven nach dem Krieg der Heinrich-Böll-Stiftung verstärkte den Eindruck, dass die Konfliktparteien auf absehbare Zeit zu keiner eigenständigen politischen Initiative in der Lage sein werden. Die hoffnungsvollen Blicke richten sich auch hier vor allem auf den neuen US-Präsidenten Barack Obama.
Die Opfer des Gaza-Krieges
Der israelische Militärschlag im Gaza-Streifen, der nach bisherigen Informationen über 1.300 palästinensische und 13 israelische Todesopfer gekostet hat, stand im Mittelpunkt der Debatte am 21. Januar. Der renommierte palästinensische Menschenrechtsanwalt Raji Sourani (Interview mit Raji Sourami), der israelische Wissenschaftler, Politiker und Friedensaktivist Prof. Dan Jacobson (Artikel von Dan Jacobson) sowie die Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) waren sich in der Verurteilung des israelischen Vorgehens einig. Raji Sourani, der trotz der schwierigen Situation seiner Familie in Gaza nach Berlin gekommen war, beschrieb das bisher entdeckte Ausmaß der Zerstörungen in eindringlichen Worten. Das von ihm geleitete Palestinian Centre for Human Rights versuche gegenwärtig trotz aller Hindernisse, die mutmaßlichen israelischen Menschenrechtsverletzungen während des Krieges zu dokumentieren. Es sei zu befürchten, dass in den kommenden Tagen und Wochen regelrechte „Massaker“ an Palästinensern aufgedeckt werden, so Sourani.
Auch Dan Jacobson, der als Mitglied der linksgerichteten Partei Meretz zu den Kritikern der israelischen Besatzungspolitik gehört, fand deutliche Worte zum übermäßigen Einsatz von Gewalt durch die israelischen Truppen. Die Raketenangriffe der Hamas auf Südisrael könnten die palästinensischen Zivilopfer und die massive Zerstörung der Infrastruktur Gazas niemals rechtfertigen. Im Gegensatz zu Raji Sourani beharrte Jacobson allerdings darauf, dass die israelische Regierung auf den permanenten Raketenbeschuss reagieren und die Bevölkerung Süd-Israels aus der „Geiselhaft“ der Hamas befreien musste. Es sei reines Glück, dass die Hamas-Angriffe nicht mehr israelische Todesopfer gefordert hätten. Viele Familien seien durch die ständige Angst vor der Bedrohung traumatisiert. Die große Unterstützung der israelischen Bevölkerung für den Militäreinsatz sollte deshalb niemanden überraschen.
Die Blockade muss beendet werden
Raji Sourani charakterisierte die von Dan Jacobson verurteilten Raketenangriffe der Hamas als legitimes Mittel im Kampf gegen das Grundübel des Nahostkonflikts: die faktisch andauernde Besetzung und systematische Abriegelung der palästinensischen Gebiete. Israel wende das „Gesetz des Dschungels“ an und habe deshalb kein Recht, sich über die Gegenwehr zu beschweren. Die israelische Blockade-Politik habe seit der demokratisch legitimierten Regierungsübernahme der Hamas in Gaza das tägliche Leben der Bewohner immer unerträglicher gemacht. Sourani berichtete über massive Probleme bei der öffentlichen Versorgung mit Strom, Treibstoff und Medizin. Die Wirtschaft sei weitgehend zum Erliegen gekommen. An Warenhandel mit dem Ausland oder freien Personenverkehr sei nicht zu denken. In der von der Fatah kontrollierten Westbank sieht es nach Ansicht von Sourani nur wenig besser aus. Israel habe dort eine „de-facto-Apartheid“ eingeführt. In beiden Gebieten sei es deshalb momentan am wichtigsten, das humanitäre Desaster zu beenden und einen freien Personen- und Warenverkehr durchzusetzen.
Raji Souranis Forderungen stießen bei Dan Jacobson auf grundsätzliche Zustimmung. Jacobson erinnerte daran, dass es in der israelischen Bevölkerung eine große Mehrheit für die Beendigung der Besetzung gebe. Eine Lösung des Konflikts liege in Grundzügen bereits seit Jahren auf dem Verhandlungstisch. Das Kernstück der Pläne werde von den kompromissbereiten Kräften beider Seiten prinzipiell anerkannt: die Errichtung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967. Eine Einigung wird nach Ansicht von Jacobson jedoch unmöglich bleiben, solange die berechtigten Sicherheitsängste Israels nicht ernst genug genommen werden. Eine Öffnung der palästinensischen Grenzen lasse sich nur durchsetzen, wenn Israel sich danach nicht vor geschmuggelten Waffen oder Terroranschlägen fürchten müsse. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma sei die langjährige Stationierung internationaler Truppen an den Grenzen. Auch Raji Sourani stimmte diesem Vorschlag zu. Sollten sich die Israelis tatsächlich hinter die Grenzen von 1967 zurückziehen, gäbe es Sourani zufolge auch unter den Palästinensern eine große Mehrheit für eine internationale Sicherung der Grenzlinien.
Der Westen hat versagt
Das zum Teil hitzig geführte Podiumsgespräch und die anschließenden Stellungnahmen aus dem Publikum ließen erahnen, warum beide Konfliktparteien im Moment nicht in der Lage sind, aufeinander zuzugehen. Auch in Berlin führte die auf beiden Seiten spürbare Verbitterung immer wieder zu gegenseitigen Schuldzuweisungen. Nicht nur der Gaza-Krieg, auch die politische Spaltung der Palästinenser und der mögliche Wahlsieg der konservativen Likud-Partei bei den israelischen Parlamentswahlen am 10. Februar lassen kaum Hoffnung auf eine baldige Verbesserung der politischen Wetterlage.
Ein Ausweg aus der Sackgasse kann offenbar nur unter tatkräftiger Hilfe des Auslands gelingen. Die gegenwärtig auf diplomatischer Ebene einzig ernstzunehmende Initiative stammt nach Ansicht von Dan Jacobson von der Arabischen Liga. 2007 wiederholten die in der Liga repräsentierten 22 arabischen Staaten ihr Angebot, normale Beziehungen mit Israel aufzunehmen, sofern alle 1967 besetzten Gebiete Palästinas geräumt, Ostjerusalem als palästinensische Hauptstadt anerkannt und die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge geregelt wird. Der arabische „Frieden für Land“-Vorschlag hat jedoch bisher kaum öffentlichen Widerhall in Israel gefunden. Für Raji Sourani ist die Initiative deshalb „klinisch tot“.
Ein Grund für das Scheitern der Friedensverhandlungen der letzten Jahre ist das Verhalten der Bush-Regierung. Dan Jacobson warf dem früheren US-Präsidenten vor, Israels Interessen mit seiner parteiischen Haltung im Nahost-Konflikt geschadet zu haben. Der fehlende amerikanische Druck habe u.a. dazu geführt, dass sich das „Krebsgeschwür“ des israelischen Siedlungsbaus fast ungehindert ausbreiten konnte. Dazu kommt Muriel Asseburg zufolge, dass die US-Regierung auf der Annapolis-Konferenz im November 2007 die Isolierung der Hamas betrieben und damit die politische Spaltung der Palästinenser festgeschrieben habe.
Die USA können allerdings nicht allein für die Rückschläge im Nahen Osten verantwortlich gemacht werden. Muriel Asseburg kritisierte auch die Europäische Union, die in den vergangenen Jahren eine völlig verfehlte Nahost-Strategie verfolgt habe. Mit der Unterstützung der Gaza-Blockade trage Europa eine Mitschuld an der resultierenden humanitären Krise. Noch kurz vor Ausbruch des Gaza-Krieges habe die EU völlig falsche diplomatische Signale an Israel gesendet, indem sie den Bruch des Waffenstillstandes in Gaza durch israelische Truppen nicht nur ignorierte, sondern auch noch eine Vertiefung der Beziehungen anbot. Eine grundsätzliche Änderung dieser Haltung sei bis heute nicht zu erkennen.
Auch die langjährige europäische Finanzhilfe für die palästinensischen Gebiete ist offenbar kein Ersatz für eine konsequente Nahost-Politik. Die Zahlungen werden Raji Sourani zufolge von vielen Palästinensern zunehmend als Alimentierung der israelischen Besatzung interpretiert. Auch die Idee der Entsendung internationaler Truppen zur Sicherung des Gaza-Streifens sollte deshalb schnell vergessen werden. Ohne einen umfassenden Friedensvertrag würden sie nach Ansicht von Muriel Asseburg die gegenwärtige Spaltung der palästinensischen Gebiete nur zementieren.
Warten auf Obama
Die Podiumsdiskussion stellte klar, dass die Krise in Gaza nicht mit dem israelischen Bombardement oder den Hamas-Raketen auf Süd-Israel, sondern mit dem Wahlsieg der Hamas 2006 und der darauf folgenden Spaltung Gazas von der Westbank begonnen habe. Die politische Einigung der Palästinenser ist deshalb eine wichtige Voraussetzung für künftige diplomatische Fortschritte. Israel wird auch in Zukunft einen demokratisch legitimierten Ansprechpartner im Friedensprozess benötigen. Sowohl Raji Sourani als auch Muriel Asseburg waren der Überzeugung, dass dies ohne eine Einbindung der Hamas nicht gelingen könne. Da deren Rückhalt in der palästinensischen Öffentlichkeit offenbar auch durch den Gaza-Krieg nicht gebrochen werden konnte, plädierten beide dafür, die westliche Isolationspolitik gegenüber der islamistischen Organisation zu beenden.
Europas bisherige Vorschläge für einen dauerhaften Waffenstillstand ließen Muriel Asseburg allerdings daran zweifeln, dass die Ursachen der Gewalteskalation tatsächlich erkannt worden sind. Noch ist ebenso unklar, ob der neue US-Präsident der amerikanischen Nahost-Politik eine Wende geben wird. Die befürchtete Radikalisierung der Palästinenser nach dem Gaza-Krieg und der mögliche Amtsantritt einer konservativen Regierung in Israel lassen die Aufgabe für Barack Obama ohnehin nicht besonders aussichtsreich erscheinen.
Dan Jacobson versuchte trotzdem, ein mögliches Erfolgsszenario zu entwerfen. Er äußerte die vage Hoffnung, dass die Tragödie in Gaza beide Konfliktparteien zum Innehalten bringen wird. Eine geschwächte Hamas und die Fatah könnten zu einer politischen Einigung gezwungen sein. Die Unterstützung Israels durch die USA und die EU könnte stärker von Fortschritten im Friedensprozess abhängig gemacht werden. Sowohl in Palästina als auch in Israel gibt es Jacobson zufolge zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die den Druck auf die Verantwortlichen "von unten" erhöhen könnten. Sollte es dann tatsächlich zu einer neuen Einigung kommen, wäre eine konservative Regierung in Jerusalem möglicherweise besonders gut geeignet, sie innenpolitisch durchzusetzen.
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Der Friedensprozess nach dem Gaza-Krieg – Rückschritt oder Hoffnung?
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