Der Schlachtenlärm ist verstummt. Der Pulverdampf hat sich verzogen. Die Bevölkerung hat mit den Aufräumarbeiten im Gaza-Streifen begonnen. Doch nicht nur Häuser und Infrastruktur liegen in Schutt und Asche. Erst jetzt wird das ganze Ausmaß des politischen Trümmerfeldes sichtbar, das dieser Krieg im Gaza-Streifen hinterlassen hat. Gewiss: Am wichtigsten für die traumatisierten Menschen in der Region ist, dass die Waffen schweigen - aus welchem Grund auch immer. Doch das Ende der Kampfhandlungen bedeutet einen Tiefpunkt der nahöstlichen Diplomatie.
Es herrscht kein ausgehandelter Waffenstillstand, sondern eine brüchige, von beiden Seiten einseitig verkündete und zu nichts verpflichtende Waffenruhe. Ein vereinbarter Waffenstillstand hat jedoch eine andere politische Qualität als die Summe zweier unilateraler Erklärungen zur Einstellung von Kampfhandlungen. Darin manifestiert sich das Scheitern der wochenlangen ägyptisch-französischen Bemühungen um eine Vereinbarung, deren Entwurf ja mehr vorsah, als das Ende des Krieges. Ziel war eine Waffenruhe gewesen, mindestens als Einstieg in ein gemeinsames palästinensisch-ägyptisch-israelisches Grenzregime für den Gaza-Streifen - möglicherweise unter internationaler Beteiligung.
Scheitern ägyptischer Diplomatie
Ein drittes Mal erlitt das ägyptische Regime damit Schiffbruch mit seinen nahöstlichen Vermittlungsversuchen. Zum einen stecken die Versuche, zwischen Israel und der Hamas einen Gefangenenaustausch zu vermitteln, seit langem in der Sackgasse. Dieser soll insbesondere auch zur Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit führen, der seit Juni 2006 im Gaza-Streifen festgehalten wird. Zum anderen scheiterten bislang Ägyptens Bemühungen, eine innerpalästinensische Versöhnung zwischen Hamas und Fatah herbeizuführen. Und schließlich ist dem jüngsten Waffengang im Dezember der erfolglose Versuch Ägyptens vorausgegangen, eine Verlängerung der im Juni 2008 noch erfolgreich vermittelten Waffenruhe zu bewirken.
Die diplomatische Erfolgsbilanz Ägyptens ist also ziemlich mager. Die Gründe für das Scheitern liegen auf der Hand. Ägypten ist kein „ehrlicher Makler“, sondern eine durch vielfältige eigene politische Interessen sowohl in den innerpalästinensischen als auch den israelisch-palästinensischen Konflikt verwobene Regionalmacht. Das Regime Mubaraks gerät innenpolitisch durch die islamistischen Kräfte immer stärker unter Druck; jede Stärkung der islamistischen Hamas, ein Kind der ägyptischen Muslimbruderschaft, wird als Bedrohung der eigenen Herrschaft wahrgenommen. Aber Mubarak kann es sich auch nicht leisten, als Marionette Israels oder der USA zu erscheinen, die sich zum willfährigen Kumpan der israelischen Strangulationspolitik gegenüber den „arabischen Brüdern und Schwestern im Gaza-Streifen“ machen lässt. So wandelt das Regime innen- wie außenpolitisch auf einem schmalen Grat. Dies gelingt nur noch, weil immer ungenierter die politische Opposition unterdrückt wird und sich das autokratische Regime der wohlwollenden Duldung durch das Ausland immer sicherer sein kann,
EU-Außenpolitik gescheitert
Da kam natürlich der politische Hyperaktivist aus Paris gerade recht. Sarkozy wechselte flugs das Mäntelchen der EU-Präsidentschaft mit dem Negligé der Co-Präsidentschaft der Mittelmeerunion, die er mit Ägypten teilt. Doch diplomatischer Erfolg war auch ihm nicht beschieden. Die hektische Betriebsamkeit europäischer Außenminister und Emissäre, die sich in Jerusalem und Kairo die Klinke in die Hand gaben, sorgte eher für Verwirrung denn für Druck. Soviel „Flohzirkus“ (Joschka Fischer) in der EU-Außenpolitik war selten! Den krönenden Abschluss der Bemühungen um einen Waffenstillstand sollte dann das Gipfeltreffen in Scharm El-Scheich bilden: Eine Demonstration erfolgreicher Europäischer Außen- und Sicherheitspolitik im Nahen Osten, die EU als einflussreicher politischer „player“ statt als belächelter machtloser „payer“, die großen EU-Regierungschefs als durchsetzungsfähige Krisenmanager! Doch die nachts zuvor von Israel unilateral erklärte Waffenruhe machte das Treffen zu einer substanzlosen Show-Veranstaltung. Ironischerweise war es Hamas, die dem Treffen die komplette Peinlichkeit ersparte: Aufgrund der dann auch von der Hamas erklärten Waffenruhe, konnten die EU-Größen mit Herrn Mubarak wenigsten das Glas auf das Ende des Krieges erheben, wenn auch nicht auf den Erfolg ihrer Diplomatie. Das durch den Präsidentenwechsel in den USA entstandene diplomatische Vakuum konnte die EU nicht nutzen. Welcher Schaden durch Profilsucht und Rivalität einer gemeinsamen EU-Außenpolitik zugefügt wurde, ist noch nicht abzusehen.
Bundesrepublikanischer Wahlkampf vor levantinischer Kulisse
Zu allem Unglück musste auch der deutsche Außenminister gleich zwei Mal die Region bereisen, um deutsche Hilfsdienste für ein auszuhandelndes Grenzregime anzubieten. Der rastlose politische Einsatz führte inzwischen sechs deutsche Spezialisten für Bodenerschütterungen in den Sinai - wahrlich kein Ruhmesblatt deutscher Nahost-Diplomatie, eher bundesrepublikanischer Wahlkampf vor levantinischer Kulisse. Die deutsche Regierung hatte sich früh irgendwelcher diplomatischen Einflussmöglichkeiten begeben. Die Bundeskanzlerin proklamierte unkritisch schon am ersten Kriegstag die Alleinschuld der Hamas am Krieg - darüber sei sie sich bei einem Telefongespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Olmert einig gewesen (sic!). Und der Außenminister profilierte sich mit der mutigen Forderung, ein Waffenstillstand müsse die Sicherheit Israels garantieren - die Sicherheit der Palästinenser blieb bezeichnenderweise unerwähnt! Mit derartig einseitiger Parteinahme empfiehlt man sich nicht gerade für eine Vermittlungstätigkeit.
Kein Frieden mit der Hälfte Palästinas
Erste Lehren aus dem nahostpolitischen Desaster deuten sich vorsichtig an. Die Debatte über den Umgang mit Hamas ist erneut entbrannt. Gesprächsbereitschaft mit Hamas fordern jetzt immerhin nicht nur der ehemalige Außenminister Joschka Fischer und der ehemalige britische Premierminister Tony Blair ein. Zu hoffen bleibt, dass sich derartige politische Einsichten auch über den Kreis abgetretener Politiker hinaus verbreiten. Zwei Gründe sind von Bedeutung: Der Krieg hat deutlich gemacht, dass sich Hamas als eine politische und soziale Kraft nicht auf eine Terrororganisation reduzieren und mit militärischen Mitteln besiegen lässt. Selbst wenn es Israel gelungen wäre, Hamas militärisch nicht nur zu schwächen, sondern zu schlagen, und der Versuch erfolgreich gewesen wäre, die de facto Hamas-Regierung im Gaza-Streifen zum Teufel zu jagen, dann hätte sich damit die politische Bewegung Hamas, die bei den letzten Wahlen immerhin eine deutliche Mehrheit gewonnen hatte, nicht in Luft aufgelöst. Auch die bisherige Isolierungs- und Strangulationsstrategie gegenüber Hamas und dem Gaza-Streifen hat nicht zur ihrer Schwächung beigetragen. Diese Politik führte im Gaza-Streifen, dem größten Freiluftgefängnis der Welt, zu einer humanitären Katastrophe und stellt eine völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung dar. Vieles deutet darauf hin, dass eine Fortsetzung dieser Politik die augenblickliche Waffenruhe zu einer Episode werden lassen würde. Vielleicht hätte man Hamas nach dem Wahlsieg die Chance zum „Scheitern aus eigener Kraft“ geben sollen.
Auch die Politik, einseitig die Westbank und die Regierung unter Präsident Mahmud Abbas (Fatah) und seines Ministerpräsidenten Salam Fayad in Ramallah zu fördern, hat sich als Fehlschlag erwiesen. Zwar konnte dort eine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Konsolidierung erreicht werden, doch spätestens der jüngste Krieg hat die reformunfähige Fatah und seinen Repräsentanten Abbas marginalisiert. Dazu hat zum einen beigetragen, dass der mit Hamas im zweiten Halbjahr 2008 für den Gaza-Streifen vereinbarte Waffenstillstand nicht auf die Westbank ausgeweitet wurde, sondern der israelischen Okkupationsmacht dazu diente, die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik mit Razzien, gezielten Tötungen, Siedlungs- und ethnischer Trennungspolitik etc. ungehindert voranzutreiben. Zum anderen zeitigte der so genannte Annapolis-Prozess keinerlei spürbare Fortschritte, so dass Präsident Abbas auch diesbezüglich keine Erfolge vorweisen kann. Das israelische Interesse konzentrierte sich bislang auf die Aufrechterhaltung des Prozesses unter Vermeidung irgendwelcher substanziellen Ergebnisse.
Wege aus der politischen Blockade
Nachdem die heiße Phase der Konfrontation, der Gaza-Krieg, mit einer prekären Waffenruhe zunächst einmal wieder in das Stadium eines low intensity conflicts zurückgeführt worden ist, droht das Interesse an einer Konfliktregelung eher wieder zu erlahmen. Dennoch sollten drei zentrale Probleme, deren aktuelle Bewältigung die zukünftigen Perspektiven der Region entscheidend prägen werden, jetzt im Vordergrund stehen:
- Ruhe und Sicherheit für die Menschen im Gaza-Streifen und im Süden Israels sind nur durch einen vereinbarten Waffenstillstand zu sichern, der den Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen und militärische Aktionen Israels im Gaza-Streifen, die israelische Blockade und den Waffenschmuggel beendet. Ein dauerhafter Waffenstillstand ohne Beendigung der israelischen Blockade ist eine Illusion. Alles Gerede über großzügige Wiederaufbauhilfen bleibt aber Makulatur, solange Israel wie bisher die Einfuhr von Zement, Nägeln und Bauholz verweigert. Wird Hamas den Wiederaufbau zur Konsolidierung und Stärkung ihrer Position nutzen können, oder wird es gelingen, aus der Beseitigung der Schäden einen Neuanfang internationaler Nahostpolitik in Gaza zu machen?
- Die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas steht ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Vieles deutet darauf hin, dass Hamas daran nun ein größeres Interesse entwickelt als vor dem Krieg. Auch in der durch den Krieg mehr und mehr an den Rand gedrängten Fatah könnte die Bereitschaft steigen. Mit den Modalitäten des Wiederaufbaus wie künftiger Grenzregime werden hier entscheidende Weichenstellungen vorgenommen. Die erneute Bildung einer Einheitsregierung aus Fatah und Hamas ist die Voraussetzung dafür, über das aktuelle Krisenmanagement hinaus wieder Perspektiven einer Konfliktregelung zu eröffnen.
- Das bisherige Scheitern der Waffenstillstandsverhandlungen zeigt, das substanzielles Engagement Dritter gefragt ist. Waffenstillstand und Wiederaufbau wie auch der innerpalästinensische Versöhnungsprozess bedürfen der Hilfe von außen. Damit eine Einheitsregierung nicht wieder wie im Frühsommer 2007 scheitert, müssen vor allem USA und EU klären, ob sie zur Zusammenarbeit mit einer von Fatah und Hamas getragenen Einheitsregierung bereit sind. Eindeutige Signale könnten den internen Befriedungs- und Versöhnungsprozess beschleunigen.
Doppelstrategie
Die Zwei-Staaten-Regelung - international weitgehend unbestritten - ist in den letzten Jahren zu einer fernen Vision geworden, deren Realisierung vom vermeintlichen Wohlverhalten der Palästinenser und der Gnade Israels abhängig gemacht wird. Ohne konkrete politische Perspektiven für die Palästinenser wird sich jedoch das nahöstliche Pulverfass kaum auf Dauer entschärfen lassen. Der Krieg im Gaza-Streifen hat nicht zuletzt auch das Desaster israelischer und westlicher Friedenspolitik offenbart. Diesen Scherbenhaufen zu beseitigen, ist kein leichtes Unterfangen. Es ist Zeit für einen nahostpolitischen Neuanfang.
Auf palästinensischer Seite fehlt es an einer handlungsfähigen Regierung. Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um festzustellen, dass auch von einer neuen israelischen Regierung keine substanziellen friedenspolitischen Initiativen zu erwarten sind. Bewegung kann nur durch internationale Intervention erzeugt werden. Die freundliche Ermahnung der USA und EU, die jahrzehntelangen erfolglosen bilateralen Gespräche und Verhandlungen fortzusetzen, wird auch in Zukunft nicht ausreichen. Deshalb muss zum einen die Unterstützung der Konfliktparteien in Zukunft politisch konditioniert werden. Zum anderen ist eine Internationalisierung der Konfliktregelung notwendig. Die road map des Nahostquartetts müsste dabei aufgrund der völkerrechtlichen Vorgaben und im Lichte der bisherigen Verhandlungsergebnisse in einen konkreten Lösungsvorschlag mit einem verbindlichen Fahrplan überführt werden.
Friedensdividende notwendig
Ein solcher Versuch kann allerdings glaubwürdig nur sein und Unterstützung bei den Konfliktparteien nur erlangen, wenn es gleichzeitig der internationalen Gemeinschaft gelingt, die Lebensverhältnisse der Palästinenser zu verbessern und dafür Sorge zu tragen, dass mit der israelischen Okkupationspolitik nicht weiterhin ungehindert gegen Völkerrecht verstoßen und die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Regelung sabotiert wird. Seit Jahren unterstützen vor allem USA und EU palästinensische Bemühungen, die Verpflichtungen aus der road map im Hinblick auf die Terrorbekämpfung zu erfüllen. Wenn sich die Staatengemeinschaft mit ähnlicher Intensität auch um die Erfüllung der israelischen Verpflichtungen kümmern würde, dann wäre dies ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Glaubwürdigkeit internationaler Politik.
Ob eine internationale Konferenz - wie vom französischen Präsidenten vorgeschlagen - ein geeignetes Instrument darstellt, um einen neuen Friedensprozess in Gang zu setzen, sei dahin gestellt. Die Geschichte diplomatischer Friedensbemühungen für den Nahen Osten ist reich an gescheiterten und folgenlosen Konferenzen. Oft dienten sie eher dem Profilierungsbedürfnis der Veranstalter als der Friedenssuche. Die Menschen in der Region benötigen gewiss kein französisches Annapolis. Substanzielle Fortschritte im Friedensprozess werden nur dann die gewünschten politischen Veränderungen bewirken, wenn die Menschen „vor Ort“ nicht weiterhin vergeblich auf eine Friedensdividende warten müssen.