Europawahl im Fokus

Der Europawahlkampf hat begonnen – hat er wirklich? Auch wenn die ersten Plakate hängen, so wird in den Medien, auf Wahlveranstaltungen und auf der Straße nicht wirklich viel von Europa gesprochen. Auch die Umfragen, die eine weiter sinkende Wahlbeteiligung prognostizieren, sprechen für sich. Prof. Dr. Eckart Stratenschulte plädiert daher für ein Schulfach „Europäische Integration“. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Europa.

Der Europawahlkampf hat begonnen – hat er wirklich? Wirklich viel wird von Europa (noch) nicht gesprochen. Auch die Umfragen, die eine weiter sinkende Wahlbeteiligung prognostizieren, sprechen für sich.

Tatsächlich haben Europas Bürger und Bürgerinnen ein ambivalentes Verhältnis zur Europäischen Union. Einerseits formulieren sie weitgehende Erwartungen. Eine Mehrheit der EU-Bürger spricht sich dafür aus, dass über folgende Themenbereiche nicht auf nationaler, sondern auf EU-Ebene entschieden werden solle: Kampf gegen den Terrorismus, wissenschaftliche und technologische Forschung, Verteidigung und Außenpolitik, Energie, Unterstützung von Regionen mit wirtschaftlichen Problemen, Einwanderung, Kampf gegen Kriminalität, Wettbewerb, Bekämpfung der Inflation und Wirtschaft.

Zwischen 40 und 50 Prozent der BürgerInnen nennen zudem als europäische Aufgaben die Landwirtschaft und Fischerei, den Verbraucherschutz, den Verkehr und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

Doch kein Vertrauen in Europa?

Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union bringen der EU also großes Vertrauen entgegen, könnte man meinen. Dem ist aber nicht so. Das lässt sich an den regelmäßigen Eurobarometer-Umfragen, die die Europäische Kommission in Auftrag gibt und denen auch die zitierten Angaben entstammen, ablesen. 53 Prozent der EU-Bürger und 64 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU sei „eine gute Sache“. Negativ formuliert: Fast die Hälfte der EU-Bürger befürwortet es nicht, dass ihr Land zur Europäischen Union gehört. Auch in Deutschland ist das noch mehr als ein Drittel. Eine positive Einschätzung der EU haben gar nur 45 Prozent ihrer Bürger, bei den Deutschen sind es 48 Prozent, also in beiden Fällen weniger als die Hälfte.

Die größte Gefahr, die der Europäischen Union droht, ist, dass sie die Akzeptanz ihrer Bürger verliert. Ohne alarmistisch klingen zu wollen, muss man feststellen, dass sie auf dem Wege dorthin ist. Die hohen Ansprüche, die die Menschen an die EU haben, sind in diesem Zusammenhang kein Trost, sondern erhöhen das Risiko. Wer Erwartungen und Hoffnungen hegt, aber die Zusammenhänge nicht sieht, die Mechanismen nicht versteht und die Grenzen der Erfüllbarkeit nicht erkennt, wird sich früher oder später enttäuscht abwenden.

Die Distanz zu Europa, die wir gegenwärtig beobachten, lässt sich an der Beteiligung der Wahlen zum Europäischen Parlament ablesen. In Deutschland ist sie seit 1979 von über 65 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2004 zurückgegangen - und das obwohl das Europäische Parlament in derselben Zeit einen enormen Kompetenzzuwachs verbuchen konnte.

Unerklärlich ist die Wahlabstinenz jedoch nicht

Lange Zeit war von der EU zu Recht von der „Konspiration der Eliten“ die Rede. In der Gesellschaft herrschte das, was die Politikwissenschaft „permissiven Konsens“ nennt. Die Bürger sagten der Politik sinngemäß: „Wir verstehen zwar nicht, was ihr da treibt, aber wir sind einverstanden.“ Das alles überragende Motiv der Friedenssicherung war für die Menschen so bedeutend, dass sie die Regelungen der Strukturpolitik und des europäischen Stahlmarkts nicht verstehen mussten, um das Projekt Europäische Gemeinschaften zu unterstützen. In dem Maße, in dem die Friedenserhaltung selbstverständlicher wurde und sich andererseits zeigte, dass die Europäische Gemeinschaft / Europäische Union in unser tägliches Leben eingreift, hat sich diese Einstellung gewandelt. Für Deutschland lässt sich der Zeitpunkt auf die Verabschiedung des Vertrags von Maastricht 1991/92 bestimmen, durch den die D-Mark abgelöst und der Euro eingeführt wurde.

Allerdings wurde aus der Erosion des permissiven Konsenses weder bei den BürgerInnen noch in der Bildungspolitik die Konsequenz gezogen, sich nun stärker mit der Europäischen Union, ihren Strukturen und ihren Möglichkeiten zu befassen. Unmittelbare Konsequenzen hat die Zurückhaltung der Wähler ja auch nicht. Ein Parlament ist mit 46 Prozent der Stimmen (das war der EU-Durchschnitt) genauso gewählt wie mit 86 Prozent. Es ist auch durchaus möglich, dass diese „Zuschauerdemokratie“ funktioniert, solange das politische und wirtschaftliche System hinreichende Erfolge - und das heißt in der Regel Wohlstandszuwachs - produziert. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, und das erleben wir ja gerade, besteht die große Gefahr, dass die Ignoranz in Ablehnung und die Ablehnung in Auflehnung umschlagen. Man muss nicht fortwährend das Gespenst der historischen Erfahrungen Deutschlands beschwören, aber Krisenzeiten sind die Stunde der Populisten und Propagandisten, auf die zu reagieren es dann sehr spät ist. Es ist daher wichtig, die Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig zu motivieren und zu befähigen, sich als entscheidende Subjekte in die europäische Integration einzubringen.

Das Engagement des Einzelnen zählt

Ein erster Schritt zur aktiven Teilnahme am europäischen Entscheidungsprozess ist die Stimmabgabe bei den Europawahlen. Es gehört zu den festen Ritualen der europapolitischen Diskussion, die niedrige Wahlbeteiligung zu geißeln. Allerdings verhalten sich die Bürger durchaus vernünftig: Sie wissen nicht, worum es geht, und halten sich daher heraus. In jedem anderen Lebensbereich würde man ihnen das empfehlen. Wer nichts von Autos versteht, sollte nicht anfangen, am Motor herumzuschrauben.

Das bedeutet: Wenn man will, dass die Menschen sich engagieren, muss man dafür sorgen, dass sie Bescheid wissen. Der Einwand, die Informationen seien ja heutzutage leicht verfügbar, zielt ins Leere. Nicht der Informationsmangel ist nämlich das Grundproblem der Wahlabstinenten, sondern die Informationsflut, die den Einzelnen schwer erkennen lässt, was denn nun wichtig und was unwichtig, was richtig und was unrichtig ist. Zusammenhänge müssen durch Bildung vermittelt werden, genau wie die Werte und Prinzipien, auf denen das gesamte EU-System aufgebaut ist.

Partizipation und die Bereitschaft, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, bedingen sich wechselseitig. Wer aktiv mitgestalten kann, ist eher bereit, sich mit komplexen Fragen zu befassen, und wer umgekehrt die Zusammenhänge sieht, bekommt Lust und die Fähigkeit mitzumachen.

Mit der beschriebenen Aufgabe kann man die politischen Parteien nicht alleine lassen. Das Fundament muss in der Schule gelegt werden. Seit 1978 propagieren die Kultusminister der Länder „Europa als Unterrichtsprinzip“, in der Praxis geschieht jedoch oft wenig.

Das Rad ist schon erfunden, aber es dreht sich nicht

Europa ist vielen Lehrkräften ein unbeliebter, weil sich schnell ändernder Unterrichtsgegenstand und es wird zudem isoliert behandelt. Die Rahmenlehrpläne der Bundesrepublik Deutschland erwähnen oft bei der Behandlung von Globalisierung, Entwicklungspolitik oder Sicherheitspolitik die EU mit keinem Wort. Und davon, auch im Deutsch-, Englisch- oder gar Physikunterricht die europäischen Bezüge herzustellen, ist die Schule in der Regel weit entfernt. Dies ließe sich auch nur realisieren, wenn es gelänge, die Gesamtheit der Fachlehrer ins europäische Boot zu holen, was ziemlich aussichtslos erscheint.

Wir werden daher um ein Schulfach „Europäische Integration“ nicht herumkommen. Es ist ein Stück Zukunftssicherung der europäischen Verankerung der Bundesrepublik Deutschland. Nur in der Schule gelingt es frühzeitig, alle anzusprechen und diese Chance muss genutzt werden. Das allerdings entlässt andererseits die Parteien, denen unser Grundgesetz eine besondere Rolle im Meinungsbildungsprozess zuweist, nicht aus der Verantwortung, ihrerseits, gerade auch in Wahlkampfzeiten, einen Beitrag zur politischen Bildung zu leisten.

Die vielleicht größte Illusion über die Europäische Union ist die, dass die EU ein Selbstläufer sei, dass man sie für alles und jedes zum Sündenbock machen und ansonsten mit Ignoranz strafen könne. Jeder Hausbesitzer weiß jedoch, dass ein Gebäude erhalten und bei Veränderung der Familienstruktur auch umgebaut werden muss. Von der „schwäbischen Hausfrau“ ist in der Finanzkrisendiskussion oft die Rede. Wir sollten ihr den „schwäbischen Häuslebauer“ zur Seite stellen.

Das Haus Europa muss wetterfest gemacht werden. Dies geht nur mit Europas Bürgerinnen und Bürgern. Vom 4. bis zum 7. Juni haben diese die Möglichkeit, ihre Stimme zu Gehör zu bringen.


Prof. Dr. Eckart Stratenschulte ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.