Am 10. Oktober 1960 hielt Sekou Touré, Staatspräsident Guineas, vor der Vollversammlung der UNO eine Rede programmatischen Charakters. Wir dokumentieren diese Rede, weil sie auch deutlich macht, von welchen Hoffnungen, Ansprüchen und ideologischen Orientierungslinien der Aufbruch des Jahres 1960 begleitet war. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.
Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen
Am 10. Oktober 1960 hielt Sekou Touré, Staatspräsident Guineas, das 1958 als einzige französische Kolonie dem Referendum über eine Gemeinschaft Frankreichs mit seinen afrikanischen Besitzungen eine klare Absage erteilt hatte, vor der Vollversammlung der UNO eine Rede programmatischen Charakters. Wir dokumentieren diese Rede, weil sie auch deutlich macht, von welchen Hoffnungen, Ansprüchen und ideologischen Orientierungslinien der Aufbruch des Jahres 1960 begleitet war.
Man hat es schon oft wiederholt: Die zentrale Idee der Charta der Vereinten Nationen, wie sie sich aus den Beratungen der Konferenz von San Francisco ergeben hat, besagt, dass der Friede nicht gesichert werden kann, solange Unterdrückung, Unrecht und wirtschaftliche Ausbeutung auf der Welt existieren, solange es den Völkern am Lebensminimum fehlt, solange schließlich gewisse Regierungen nach Gutdünken anderen Völkern tyrannische oder gewalttätige Regime aufzwingen können, die eine Erhaltung ihrer Privilegien begünstigen.
Politische Unabhängigkeit und wirtschaftliche Befreiung notwendig
Über dem ganzen Erdteil Afrika grollt eine Bewegung der Revolte; aber nichts erlaubt
die Behauptung, die imperialistischen Mächte seien bereit, freiwillig ihren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Zugriff zu lockern. Das verachtete und seiner Rechte beraubte Afrika spielt heute in den Expansionsplänen der imperialistischen Mächte eine überragende Rolle. Durch geschickte Manöver und unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Abmachungen schließen diese Mächte sich zusammen und koordinieren ihre Bestrebungen zur Errichtung von Militärstützpunkten, die unerlässlich sind, wenn sie die enormen Reichtümer, auf die sie es abgesehen haben, ausbeuten wollen. So neigt der Kolonialismus dazu, sich in eine internationale Form zu kleiden; wohlverstanden – er toleriert die Flaggen und Hymnen des afrikanischen Nationalismus, aber er duldet nicht, dass jemand an seinen Interessen rührt.
Isoliert genommen, bedeutet die politische Unabhängigkeit keineswegs völlige nationale Befreiung. Sie ist gewiss eine entscheidende und notwendige Etappe. Dennoch sind wir gezwungen zu erkennen, dass die nationale Unabhängigkeit nicht nur politische Befreiung, sondern auch und vor allem eine totale wirtschaftliche Befreiung voraussetzt. Ohne diese beiden Forderungen ist kein sozialer Fortschritt möglich. Wenn Afrika sich aber wirtschaftlich befreien soll, darf es nicht länger als Rohstoff-Reservoir gelten.
Wir müssen den gegenwärtigen Zustand der Unterentwicklung fast des ganzen Erdteils Afrika betonen. Sie ist eine direkte Folge des Fehlens jeder typisch afrikanischen Wirtschaft. Die neuen Staaten stehen, wenn sie sich von der Knechtschaft befreien, dem schwerwiegenden Tatbestand gegenüber, dass die afrikanische Wirtschaft zerstückelt und den Wirtschaftsbereichen der jeweiligen ehemaligen Kolonialmächte integriert ist.
Die afrikanische Wirtschaft beruht gegenwärtig auf dem Handel, und dessen wesentliche Funktion ist es, aus der Kolonie ein wirtschaftliches Anhängsel des Mutterlandes zu machen. Afrika wird als ein Markt betrachtet, auf dem jede Konkurrenz, die im Verdacht steht, den Interessen des Mutterlandes Abbruch zu tun, sorgfältig ausgemerzt ist.
Den Zufällen der Kolonisation gemäß, gehören benachbarte afrikanische Länder mit identischen wirtschaftlichen Gegebenheiten heute absolut verschiedenen Wirtschafts- und Handelsorganisationen an. Im Allgemeinen finden wir nirgends eine Akkumulation von Kapital, die fähig wäre, an Ort und Stelle die für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unserer Länder notwendigen Investitionen zu sichern.
Die Werkzeuge unserer Wirtschaft existieren nicht; wir verfügen nur über wenige Spezialisten aus dem eigenen Volk; faktisch müssen wir zur Entwicklung der ehemaligen Kolonialmächte beisteuern, die bereits hochindustrialisiert sind: Kann dieser Zustand zu etwas anderem führen als zum Ruin? Deshalb hat noch kein kolonisiertes Land - allen humanitären Reden zum Trotz - ein soziales Niveau erreicht, das auch nur mit den niedrigsten Lebensniveaus in Europa vergleichbar wäre.
Notwendigkeit einer Industrialisierung Afrikas
Wir haben es mit einem Teufelskreis zu tun: Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Diesen Kreis müssen wir durchbrechen, das heißt, wir müssen den „pacte colonial" völlig zerstören. Nur dann kann Afrika eine Wirtschaft mit nationalem Charakter erhalten, die seinen Völkern eine bessere Zukunft sichert. Wir wissen, dass heute die Idee eines gemeinsamen afrikanischen Marktes ihren Weg macht. Die These setzt sich durch, dass eine authentisch afrikanische Wirtschaftseinheit geschaffen werden muss, die von den Interessen der Bevölkerung ausgeht. Nun gilt es die Imperialisten zu überzeugen, dass letzten Endes alle Industrienationen - auch die am höchsten entwickelten - daran interessiert sein müssen, dass Afrika seine eigene Wirtschaft aufbaut und die Grundlagen für seine eigene Industrialisierung schafft.
Die falsche koloniale Vorstellung, dass es unmöglich sei, Afrika zu industrialisieren, muss aufgegeben werden zugunsten neuer Ideen, die auf die unausweichliche Entwicklung aller Kontinente eingehen - darunter des Erdteils Afrika - und die absolute Notwendigkeit einer Industrialisierung der Länder Afrikas einschließen. Wir sind davon überzeugt, dass die Industrialisierung Afrikas keineswegs die Entwicklungschancen anderer Erdteile beeinträchtigt, sondern sie im Gegenteil beträchtlich erhöht. Die Bedürfnisse Afrikas auf allen Gebieten werden wachsen. Umstellen müssen sich also nur jene, die heute die Weltwirtschaft in der Hand halten; sie müssen sich nicht nur mit der politischen, sondern auch mit der wirtschaftlichen Emanzipation Afrikas abfinden: Sie gehört zur Harmonie und zum neuen Gleichgewicht der Welt.
Hilfe von Außen steigert Chancen
Der Kampf der Völker um ihre wirtschaftliche Befreiung beginnt erst. Besser denn je sind wir heute gewappnet, um ihn zum guten Ende zu führen. Wir sind überzeugt, dass auswärtige Hilfe absolut notwendig ist, um rasch zum Ziel zu kommen. Darum legen wir so viel Wert auf offene und direkte Aussprache mit den anderen Völkern, die bereit sind, uns ihre brüderliche Unterstützung zu gewähren. Vor allem aber müssen unsere jungen afrikanischen und asiatischen Staaten mit sich selber rechnen. Sie müssen ihre Völker voll und ganz mobilisieren, um die Spuren der alten Herrschaft zu beseitigen und mutig die neuen Aufgaben anzupacken. Deshalb proklamiert die Republik Guinea ständig, dass der Kampf des guineischen Volkes untrennbar mit dem Kampf der anderen Völker Afrikas, Asiens und der Welt verbunden ist. Das erklärt auch unsere Freude, wenn wir heute im Kreis dieser internationalen Familie neue Bruderländer begrüßen, die an unserer Seite Platz nehmen. Sie vermehren unsere Aktionsmöglichkeiten und steigern die Chance für eine Befreiung anderer Völker.
Wie wir, werden diese neuen Staaten das stolze Gefühl kennenlernen, das der Widerstand gegen die Isolierungsmanöver der Imperialisten verleiht, die noch davon träumen, das Spiel um Afrika zu beherrschen. Die Imperialisten widersetzen sich der Befreiung Afrikas nicht mehr. Aber sie hoffen, jeder von seiner Seite, in Afrika ihnen ergebene Staaten zu behalten.
Daher die selige Zufriedenheit des imperialistischen Lagers angesichts des massiven Auftretens junger afrikanischer Staaten in den Vereinten Nationen! Wir müssen sie mit Vorsicht genießen. Tatsächlich glauben manche Leute, sie könnten hinter tosendem Beifall ihren geheimen Wunsch verstecken, sich im Kreis der UN afrikanische Stimmen zu sichern - nicht: für die Emanzipation Afrikas und den Kampf um den Weltfrieden, wie es die großen Ideen der Charta wollen, sondern allein für ihre besonderen Anliegen, das heißt: für die Konsolidierung ihrer wirtschaftlichen Position, vor allem in Afrika und Asien. Die Unterdrücker von gestern reden die Sprache perfekter Philanthropen und hoffen, den unabhängigen Regierungen Afrikas und Asiens im Kreis dieser unserer Organisation zu schmeicheln, um ihre rückschrittliche Politik auf sie stützen zu können.
Sturz jeder Form fremder Herrschaft
Bestimmt bedeuten nicht alle Beifallskundgebungen, die neue Mitglieder der Vereinten Nationen begrüßen, das Gleiche. Aber die Führer der neuen Staaten Afrikas sind zum Glück keine Kinder. Sie werden diese neue Form des Kolonialismus nicht hinnehmen - in einem Augenblick, da das Verlangen nach Freiheit und Würde zum ersten Ziel des ganzen Erdteils Afrika aufrückt. Sie werden beweisen, dass der heroische Kampf ihrer Völker nicht einer Flagge, einer Hymne und, wie man so schön sagt, einer UN-Delegation galt, sondern dem Sturz jeder Form fremder Herrschaft und der effektiven Teilnahme an allen Aktionen im Dienst von Frieden und Fortschritt.
Unsere Völker, die bisher unterdrückt waren, sind nicht dazu berufen, Sklavenvölker zu werden; ihre Führer können sich nicht mit der Marionettenrolle abfinden, die man
ihnen bei den Vereinten Nationen anbietet. Jene, die auf gefällige afrikanische Stimmen rechnen, um ihre Stellungen in Algerien, in Südafrika, in den Kolonien zu halten, werden als erste bitter enttäuscht werden. Die anderen, die gleiche Berechnungen angestellt haben - wenn auch zu anderen Zwecken (verlorene Liebesmüh hier wie dort) -, können jetzt, so hoffen wir, die Lehren daraus ziehen, die sich aufdrängen. Es gibt keinen bequemen Weg zur Vollendung der Befreiung Afrikas. Die Imperialisten müssen auf ihre Privilegien verzichten. Es gibt keine andere Lösung. Die Männer und Frauen, die Greise und Kinder Afrikas haben das genau begriffen.
Entnommen aus: Franz Ansprenger, Politik im Schwarzen Afrika. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1961
Ahmed Sékou Touré
Ahmed Sékou Touré gehört zu den legendären Führungspersönlichkeiten Afrikas; zugleich ist sein politischer Lebensweg geradezu Symbol geworden für die Entwicklungen und Bewegungen, die zur Unabhängigkeit führten, und für die Fehlentwicklungen nach der Unabhängigkeit.
Sékou Touré (*9. Januar 1922 in Farana, Guinea) ist Urenkel des Führers des Malinke-Volkes Almamy Samory Touré, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Militärmacht aufbaute, weite Teile Westafrikas beherrschte und den Islam zur Grundlage seines Reiches machte, dann erst 1897/98 von den Franzosen endgültig besiegt wurde. Touré, Sohn eines islamischen Bauern und dessen Frau aus dem Volk der Malinke, besuchte zuerst eine Koranschule, dann nur ein Jahr die französische Technikschule in Conakry, der Hauptstadt Guineas. Nach dem Verweis von der Schule schlug er sich in verschiedenen Jobs durch, bevor er 1941 schließlich seine Prüfung bestand und bei der PTT (Postes et Telécommunications) zu arbeiten begann. 1945 wurde er Generalsekretär der Post-Gewerkschaft, der Beginn seines politischen Engagements, das ihn 1946 zum Mitbegründer der Partei Rassemblement Démocratique Africain (RDA) des Politikers der Elfenbeinküste Félix Houphouët-Boigny werden liess. 1947 entstand dann in Guinea die antikoloniale Parti Démocratique de Guinée (PDG). 1948 wurde er Vorsitzender der Konföderation der Arbeiter Guineas, der lokalen Sektion der französischen Gewerkschaft CGT, die der Kommunistischen Partei nahestand.
1956 wurde er Abgeordneter für Guinea in der französischen Nationalversammlung und im gleichen Jahr Bürgermeister von Conakry. Als das Gebiet bei den Territorialwahlen die Semi-Autonomie erreichte und die PDG stärkste politische Kraft wurde, übernahm Touré die Vizepräsidentschaft der Territorialversammlung. Bei dem vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle einberufenen Referendum (28. September 1958) über eine Gemeinschaft (Communauté) mit Frankreich war Guinea das einzige Land, das massiv mit „Nein“ stimmte, was nach Auffassung vieler Beobachter auf die charismatische Person Sékou Touré zurückzuführen ist. Aus dieser Zeit stammt auch sein berühmter Ausspruch gegen das Referendum: „Nous préférons la liberté dans la pauvreté à la richesse dans l’esclavage“ („Wir ziehen die Armut in Freiheit dem Reichtum in der Sklaverei vor“).
Mit der Ausrufung der Unabhängigkeit am 2. Oktober 1958 wurde Sékou Touré Präsident des neuen Staates. Als Antwort Frankreichs zog Paris jegliche finanzielle und administrative Unterstützung zurück und drängte Touré damit fast zwangsläufig dazu, sich neue Verbündete zu suchen. Die Hinwendung zur UdSSR verfestigte in der Folge die Herrschaft der Einheitspartei PDG, die zunehmend undemokratischer herrschte und der wirtschaftlichen Probleme nicht Herr wurde. Jegliche Kritik am Herrschaftsstil und der Politik des Präsidenten wurde mit bekämpft, wobei besonders von „Komplotten“ (z.B. der Lehrer, der Händler, der Militärs oder der „fünften Kolonne“) gesprochen wurde. Dabei benutzte er auch die „ethnische Karte“, als er 1976 von einem „Komplott der Peulh“ (der im ganzen Westafrika vertretenen vorwiegend als nomadisierende Viehzüchter tätigen Ethnie) sprach und im Verfolg einen der berühmtesten Guineer, den ehemaligen Generalsekretär der Organisation für Afrikanische Einheit OAU Diallo Telli inhaftieren und später liquidieren liess.
Sekou Touré trat dabei zumindest programmatisch für einen panafrikanischen Sozialismus ein. Auch unterstützte er die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika politisch und z.T. auch materiell, aber auch den PAIGC (Partido Africano da Independência da Guiné e Cabo Verde), die afrikanische Befreiungsbewegung gegen die portugiesische Kolonialherrschaft im benachbarten Guinea-Bissau.
Während seiner Amtszeit errichtete er eines der grausamsten diktatorischen Herrschaftssysteme in Afrika. Tausende politisch missliebige Personen wurden inhaftiert, gefoltert und liquidiert. Mehr als zwei Millionen Menschen verliessen das Land. Gegen Ende seiner Amtszeit wurde er zu Beginn der 80er Jahre vor allem durch den zunehmenden Protest insbesondere der Marktfrauen Guineas gezwungen, seine Innenpolitik zu verändern. Frauen waren zuvor wie auch die Gewerkschaften wesentliche Basis der Machtausübung Sékou Tourés gewesen, auch wenn er gerade die Gewerkschaften, denen er entstammte, heftig kontrolllierte. Auch außenpolitisch war er durch eine verstärkte Kooperation mit dem Westen (und vor allem großen multinationalen Firmen) darum bemüht, für Entspannung zu sorgen, um wieder Wirtschaftshilfe oder Entwicklungshilfe zu erlangen. Außerdem verstärkte er wieder seine Beziehungen zu anderen afrikanischen Ländern (insbesondere der Elfenbeinküste und dem Senegal) und bemühte sich verschiedentlich als Vermittler bei innerafrikanischen Konflikten. Auch der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing besuchte Guinea. Sékou Touré starb 1984 plötzlich während einer Herzoperation in Cleveland (Ohio, USA).
Von Peter Ripken