Dan Jacobson ist Professor für Organisations- und Politische Psychologie an der Universität Tel Aviv. Seiner Meinung nach reagiert die israelische Öffentlichkeit auf den Zwischenfall mit dem Konvoi nach Gaza auf zweierlei Art: Zwar wird das Militär kritisiert, die Blockade Gazas jedoch als gerechtfertigt angesehen. Jacobson, der sich bei Peace Now für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern engagiert und Vertreter der Meretz-Partei ist, sieht schwere Zeiten auf die Annäherungsgespräche zwischen Israelis und Palästinensern zukommen.
Wie reagiert die Öffentlichkeit in Israel auf den Zwischenfall mit dem Konvoi nach Gaza?
Man kann zweierlei Reaktionen beobachten. Zum einen wird das Vorgehen des Militärs stark kritisiert. Die Mehrheit übt scharfe, manchmal fast verzweifelte Kritik daran, wie die Aktion durchgeführt wurde. Man hält das Ganze für einen schlimmen Patzer. Selbst auf der Rechten denkt man, die Aktion sei schlecht vorbereitet gewesen. Kritisiert wird, dass im Vorfeld nicht genügend Aufklärung betrieben wurde und dass die eingesetzten Mittel unzureichend waren. Diese Reaktionen hört man überall im Land, in den Medien, aber auch bei einigen Politikern und in der Öffentlichkeit.
Aus diesem Gefühl, versagt zu haben, lässt sich aber andererseits nicht schließen, die Haltung zu Gaza habe sich geändert. Zwar mag sich das ändern, und die Medien haben damit begonnen, hier einiges zu hinterfragen, aber aktuell halten die meisten Israelis die Blockade von Gaza weiterhin für notwendig. Ein Ende der Blockade wäre für die meisten gleichbedeutend mit einem Sieg der Hamas, mit neuen Waffen- und Raketenlieferungen.
Wie reagieren die Friedensgruppen in Israel? Gab es Protestaktionen oder sind solche geplant?
Was den Zwischenfall betrifft, sind wir momentan noch auf das angewiesen, was wir durch die Medien mitbekommen. Die meisten Menschen sind sehr verwirrt; eine öffentliche Reaktion muss erst noch heranreifen. Es ist zu früh, zu sagen, wie diese Reaktion ausfallen, welche politische Richtung sie einschlagen wird. Es bleibt abzuwarten, ob der Zwischenfall und die darauf folgenden Entwicklungen ausreichen werden, die israelische Wagenburgmentalität aufzubrechen. Am meisten Sorge macht, dass Israel immer mehr in die Isolation driftet – bis hin zu einer Delegitimierung des Staates. Im Moment hat die Türkei den Iran als Hauptbedrohung fast verdrängt. Sehr viele in Israel fordern, dass diejenigen, die an dem Debakel Schuld sind, zur Verantwortung gezogen werden – wobei unklar bleibt, wer damit gemeint ist. Friedensgruppen auf der extremen Linken haben kleine Spontan-Demonstrationen abgehalten, und eine größere Demonstration ist für Samstag, den 5. Juni geplant.
Denken Sie, es könnte eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, eine, deren Mitglieder vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs bestimmt werden?
Rechtlich wäre es möglich, eine Reihe von Untersuchungskommissionen einzusetzen. Eine Gerichtskommission wäre eine Möglichkeit. Viele glauben, dass eine solche Kommission im aktuellen Fall unvermeidlich ist. Die entscheidende Frage aber ist: Wie wird das Mandat einer solchen Kommission aussehen? Wird sich das Mandat nur auf die Untersuchung der militärischen Fehler und ihrer Quellen erstrecken – oder wird die Kommission die Ursachen, das heißt, die der Krise zugrunde liegenden politischen Maßnahmen, untersuchen können? Ich tippe darauf, dass Ersteres der Fall sein wird.
Wie hat die Opposition im Parlament reagiert?
Unglücklicherweise hat sich Kadima, die größte Oppositionspartei, auffallend eindeutig geäußert. Kadima, unter Führung von Tzipi Livni, hat Regierung und Militär den Rücken gestärkt. Abgesehen vom starken Protest der Parteien, die die israelischen Palästinenser vertreten, war Meretz die einzige Partei, die den Zwischenfall klar kritisiert und eine sofortige unabhängige Untersuchung gefordert hat. Natürlich ist es verführerisch, den Zwischenfall politisch auszuschlachten. Unser Problem jedoch – und da spreche ich als Linker – ist, dass zuallererst die Öffentlichkeit davon überzeugt werden muss, dass die Vorstellung, Gewalt sei die einzige Lösung, fatal ist.
Welche Folgen wird der Zwischenfall für die Annäherungsgespräche haben?
Das ist eine vielschichtige Angelegenheit. Klar ist, dass die palästinensische Führung im Westjordanland, Abu Mazen [d.i. Präsident Mahmud Abbas] inklusive, energisch gegen den Zwischenfall protestiert hat.
Es gibt aber auch weniger offensichtliche Tendenzen, deren Auswirkungen schwieriger einzuschätzen sind. Ganz gleich, was sie öffentlich sagen, Abu Mazen, vermutlich Ägypten und vielleicht auch Jordanien wollen, dass Hamas verschwindet. Hinter verschlossenen Türen treten sie für alles ein, was Hamas einen Dämpfer versetzt. Einigen Medienberichten zufolge soll Abu Mazen nach dem Zwischenfall Netanjahu, der zu der Zeit in Kanada war, angerufen und zu ihm gesagt haben, sie – die palästinensische und die israelische Regierung – müssten die Annäherungsgespräche fortsetzen. Sollten sich diese Berichte als wahr erweisen, wäre das eine nicht unwichtige Entwicklung – vorausgesetzt, Israel nützt die Krise und wendet seine Politik um 180 Grad (was bei der gegenwärtigen Koalition nicht sehr wahrscheinlich ist). Wie auch immer das ausgehen mag, den gemäßigten Kräften unter den Palästinensern und in der arabischen Welt hat der Zwischenfall wieder einmal einen schweren Schlag versetzt.
Ich vermute, die Annäherungsgespräche werden sich verzögern. Das wird aber auch davon abhängen, wie der Sicherheitsrat und wie die EU reagieren.
Und selbst wenn die Gespräche fortgesetzt werden... Wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen, wie ich die Chancen für einen Durchbruch bei den Annäherungsgesprächen einschätze – ich war da schon vor dem jüngsten Zwischenfall sehr pessimistisch. Und jetzt noch mehr. Ich glaube nicht, dass Gespräche unter den gegenwärtigen Umständen irgendwelche positiven Ergebnisse haben können. Beiden Seiten fehlt das politische Kapital und der Wille, durch die Annäherungsgespräche die politischen Realitäten zu verändern. Langfristig kann nur ein energischeres Eingreifen von Außen die Dinge wieder bewegen.
Denken Sie, der Zwischenfall könnte dazu führen, dass Israel seine Haltung zu den Palästinensern allgemein und zu Gaza im Besonderen überdenkt?
Zu den Palästinensern allgemein vielleicht. Die Hauptsorge wird aber der Sicherheit gelten. Was Gaza angeht, bin ich mir nicht sicher, denn da geht es nicht nur um Israels Haltung. Wie schon gesagt, die Palästinenser im Westjordanland, die Ägypter und andere Gemäßigte in der muslimischen Welt, haben Hamas gegenüber und der Rolle, die Hamas in Gaza spielt, sehr geteilte Gefühle. Nach außen sind sie natürlich alle gegen die Blockade. Ist man aber unter sich, wird klar, man will in Gaza Veränderungen sehen. All das ist um einiges komplizierter, als die öffentlichen Erklärungen vermuten lassen.
Die Fragen stellte Christian Eichenmüller, Heinrich-Böll-Stiftung Berlin und Jörn Böhme, Büroleiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.
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