Die Suche nach historischen Vergleichen, an Hand derer man die Ereignisse besser einordnen könnte, ist in vollem Gange. Nicht nur in Zeitungskolumnen, sondern in Diskussionsrunden und Politgesprächen machen zwei Daten regelmäßig die Runde: einerseits 1979, das Jahr der Islamischen Revolution im Iran und andererseits das Jahr 1989, die friedliche Revolution in Ostdeutschland.
Während das Jahr 1979 für einige im Westen den Verlust eines „wertvollen“ – wenn auch autokratischen –Verbündeten und das Entstehen eines „islamischen politischen Systems“ symbolisiert, steht 1989 für die Befreiung eines halben Kontinents von sowjetischen Unrechtsregimen. Beide Ereignisse bieten Anknüpfungspunkte für eine Gegenüberstellung mit den aktuellen Ereignissen.
Aus derzeitiger Perspektive sprechen allerdings einige Aspekte eher für den Vergleich mit der friedlichen Revolution in Ostdeutschland.
Für Prognosen über den letztendlichen Ausgang der Proteste ist es noch zu früh. Allerdings können wir bereits jetzt anhand des Verlaufs bestimmte Punkte festhalten: Erstens, die Protestbewegungen sind grenzüberschreitend. Zweitens, die Protestbewegung überraschte die Eliten der jeweiligen Länder. Und drittens, die Proteste entwickelten sich zunächst aus Forderungen nach besseren Lebensbedingungen. Alle drei Aspekte erlauben den Vergleich zu 1989/90.
Eine grenzüberschreitende und überraschende Protestbewegung
Die Ereignisse in Tunesien haben Menschen in Ägypten und weiteren Staaten dazu inspiriert, ebenso auf die Straße zu gehen – ähnlich wie 1989/90 wird eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich der Kontrolle der Regime entzieht und ihre Autorität untergräbt. Das Phänomen dieser Kettenreaktion, angetrieben durch die Ähnlichkeit der Herrschaftsstrukturen in den arabischen Staaten, jagt sämtlichen autokratischen Regime in Nordafrika und im Mittleren Osten derzeit Angst und Schrecken ein. Die Entlassung der jordanischen Regierung durch den jordanischen König und die Rückzugsankündigung des jemenitischen Präsidenten Saleh sind in diesem Zusammenhang als Versuche zu deuten, ähnliche Protestbewegungen vorzubeugen. Diese internationale Qualität und Symbolträchtigkeit der Ereignisse für eine ganze Region folgt einem Muster, das schon in der osteuropäischen Revolutionswelle zu beobachten war.
Wie 1989 scheint auch im Jahre 2011 noch wenige Wochen vorher niemand die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Prognosen für einen solch radikalen Wandel in kurzer Zeit wären vor wenigen Monaten als Hirngespinste abgetan worden. Die unvorhergesehene Dramaturgie und Eigendynamik ist es, die dem Wandel seine „revolutionäre“ Komponente verleiht.
Forderungen nach besseren Lebensbedingungen
Die ersten Analysen der Protestbewegungen in Tunesien zeigen, wie sich aus dem Protest gegen Korruption, Willkürherrschaft und miserable Lebensbedingungen, die Forderung nach mehr politischen Rechten entwickelte. Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi aus Protest gegen ignorante Behörden und Polizeigewalt, war einer der Auslöser der Proteste in Tunesien. Ähnliche Forderungen nach einem besseren Leben sind es, die den Protestbewegungen in Algerien und Ägypten zu Grunde liegen.
Wie 1989 in Mittel- und Osteuropa, kommt es auch in Ägypten derzeit zu einer Explosion der freien Meinungsäußerung. Was noch vor Tagen mit Prügel und Gefängnis beantwortet wurde, ermutigt immer mehr Menschen, selbst auf die Straße zu gehen und wird vom internationalen Publikum dankbar aufgenommen und interpretiert. Umso bemerkenswerter ist es, dass das Thema Nahostkonlikt zwar bei Analysten und Kommentatoren die Runde macht, in den Bildern und Botschaften der Straßen Kairos und Alexandrias zumindest bisher komplett fehlt.
Die zögerliche Haltung der internationalen Staatengemeinschaft
Der Zusammenbruch der DDR wurde von Helmut Kohl von Anfang an als das begriffen, was er war: eine historische Chance. Dass er sie zu nutzen wusste, machte ihn zum Einheitskanzler. Das Jahr 2011 bietet ebenfalls eine historische Chance für eine Weltregion, sie zu nutzen, wird allerdings durch einen wesentlichen Unterschied erschwert: Die Angst vor islamistischen Kräften.
Zwar waren 1989/90 Zweifel an einem wiedervereinten Deutschland in Paris und London weit verbreitet, eine Blockade des Demokratisierungsprozesses war damals allerdings ausgeschlossen und die Überzeugungsarbeit der Vereinigten Staaten im Falle Deutschlands ausschlaggebend für die Wiedervereinigung. Das Dilemma des Jahres 2011 ist allerdings ein anderes. Der Westen scheint wie gelähmt und voller Sorge hinsichtlich neuer Kräfteverhältnisse im Mittleren Osten.
In Ägypten galt die Muslimbruderschaft bisher als stärkste Oppositionsbewegung. Die skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber diesem Teil der Opposition durch die USA und Europa, hat realpolitische Implikationen und moralische Konsequenzen. Die unmittelbare Unterstützung für demokratische Mechanismen scheint leider weiterhin getrübt. Nach den Erfahrungen des Jahres 2006, als das Nahostquartett die Zusammenarbeit mit der aus der Wahl erfolgreich hervorgehenden Hamas verweigerte, bittet sich nun allerdings die Möglichkeit einer Kurskorrektur. Inwieweit sind die USA und Europa mittlerweile bereit diese Kräfte unter bestimmten Vorzeichen einzubinden? Wie muss Politik aussehen, die sich nicht auf autoritäre Strukturen stützt, demokratisch ist – und gleichzeitig den Extremisten ihren Raum nimmt?
Chance zur Neuausrichtung der Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten
Entscheidend wird sein, ob demokratische Prinzipien und Spielregeln institutionalisiert und von allen Gesellschaftsteilen akzeptiert werden. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union sollten ihre Ressourcen hinter dieses Ziel stellen, ihre eigenen Positionen deutlich – und vor allem ohne double standards – formulieren und die demokratische Transformation aktiv unterstützen. Aufgabe der deutschen und europäischer Regierungen wäre es demnach, finanzielle Unterstützung und Entwicklungsprogramme an Fortschritte im Demokratisierungsprozess zu knüpfen.
Eine Einbindung der Vereinten Nationen in diesem Prozess wäre denkbar. Da sich die derzeitigen Proteste aus verschiedensten Gesellschaftsteilen speisen, sollten Vertreter aller Bevölkerungsschichten und der Zivilgesellschaft als Teil der Lösung anerkannt werden. In Ostdeutschland boten Runde Tische den Raum für basisdemokratische Beteiligung. Besonders Europa sollte Kraft und Inspiration aus den Erfahrungen der 80er und 90er Jahre ziehen und versuchen, die Lehren – positive wie negative – in demokratische Politikinitiativen einzubringen.
Ein weiteres Merkmal in den Jahren 1989/90 war die Gewaltfreiheit, die aus dem Protest letztendlich eine erfolgreiche friedliche Revolution werden ließ. Die Berichte von Verletzten und Toten in Tunesien und Ägypten gibt in diesem Zusammenhang Anlass zur Sorge. Auch in Zukunft kann ein wirklicher Demokratisierungsprozess nur mit einem klaren Bekenntnis aller Akteure zu Pluralität und Gewaltlosigkeit gelingen.
Dennoch verlief auch die Transformation in den osteuropäischen Ländern nicht reibungslos. Zu erwarten, dass der Transformationsprozess im arabischen Raum ohne Rückschläge vonstatten gehen wird, wäre naiv. In den Wendejahren der 80er und 90er Jahr stand in Osteuropa die Unterstützungsbereitschaft und Hilfestellung des Westens zur friedlichen Transformation nie in Frage – die Herausforderung wird es sein, eine ähnliche Form der demokratischen Solidarität nun auch gegenüber den arabischen Nachbarn an den Tag zu legen. Letztendlich sind die aktuellen Entwicklungen eben auch eine historische Chance, Millionen von Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen.
Christian Eichenmüller, geboren 1984 in Ostdeutschland, ist verantwortlich für das Außenpolitikprogramm der Türkei-Vertretung der Heinrich Böll Stiftung.