Die Frustration wächst: Kommt der palästinensische Frühling?

Palästinensischer Frühling? Proteste gegen die Autonomiebehörde in Ramallah, Juli 2012; Bild: (c) René Wildangel

21. September 2012
René Wildangel
Während mit dem Arabischen Frühling in einigen Staaten der Region tiefgreifende Umbrüche begannen, verschwanden Palästina und der Nahostkonflikt weitgehend aus den Schlagzeilen. „No news is good news“ mag manch einer gedacht haben, während die Welt gebannt nach Ägypten, Tunesien, Libyen und Syrien schaute. Doch nun mehren sich auch aus den palästinensischen Gebieten die Nachrichten über Proteste.

Hintergrund der jüngsten Streiks und Demonstrationen waren massive Steuererhöhungen und damit verbundene Preissteigerungen vor allem beim Benzinpreis in Israel, was sich aufgrund der anhaltenden Besatzung und wirtschaftlichen Abhängigkeit unmittelbar auf die Preise in Palästina auswirkte. Die Preiserhöhungen seitens der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bewirkten in nur einem einzigen Monat eine Preissteigerung  in der Westbank von über zwei Prozent, Gemüse wurde 15 Prozent teurer als im Vormonat.

Wachsende wirtschaftliche Probleme

Die PA steckt aufgrund fehlender Hilfszahlungen in einer schweren Finanzkrise, die zu Personalabbau im öffentlichen Sektor, Einbehaltung von Löhnen und Etatkürzungen führen. Ihre führenden Vertreter, allen voran Premierminister Salam Fayyad, aber auch Präsident Abbas selbst, werden zunehmend für eine wirtschaftliche Lage verantwortlich gemacht, in der sich eine wachsende Zahl der Palästinenserinnen und Palästinenser abgehängt fühlt. Sie sind von hoher Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Während in Israel das durchschnittliche Einkommen 31.000 US Dollar beträgt, sind es in den palästinensischen Gebieten gerade einmal 1500.

In mehreren palästinensischen Städten kam es zu großangelegten Protesten: Vor allem in den wirtschaftlichen Zentren Nablus und Hebron gingen Tausende auf die Straße, in Ramallah marschierten Demonstranten vor die Mukataa, den Sitz von Präsident Abbas. Zwar hat sich die Lage zunächst wieder beruhigt, nachdem die PA einige Preiserhöhungen zurückgenommen hat, aber viele Palästinenser haben mittlerweile nicht nur den Glauben an einen eigenen Staat, sondern auch an ihr pures wirtschaftliches Überleben verloren.

Dabei sahen viele, insbesondere im Westen, das auf Wachstum setzende Programm des 2007 ins Amt gekommenen palästinensischen Premierministers Salam Fayyad als überaus erfolgreich an. Erstens war man international, insbesondere nach dem Wahlsieg der Hamas 2006, froh über die transparentere Verwendung von Hilfsgeldern unter dem ehemaligen Weltbankangestellten. Zweitens wurden der palästinensischen Wirtschaft fantastische Wachstumsraten von bis zu 9 Prozent zugeschrieben, was manche Hoffnung nährte, mit wirtschaftlichen Erfolgen Vertrauen in den Aufbau eines palästinensischen Staates zurückzugewinnen.

Aufschwung auf Pump

Palästinensische intellektuelle Kritiker der Politik Fayyads bewerteten diese Politik schon seit längerem als hochproblematisch. Denn der „Aufschwung“ wurde weitgehend mit uferlosen Privatkrediten und ausländischen Investitionen erkauft, während die PA am Tropf der internationalen Hilfszahlungen hängt. Nachhaltige Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum, selbst eines palästinensischen Rumpfstaates, sind unter den Bedingungen der anhaltenden israelischen Besatzung und des Oslovertrages, der 1993 eigentlich für eine Übergangszeit von 5 Jahren geschlossen worden war, nicht möglich: Laut Übergangsregelung – mittlerweile seit fast 20 Jahren in Kraft -  haben die Palästinenser nur in den so genannten A-Gebieten eigene Kontrolle, was wenig mehr als die städtischen Räumen und insgesamt nur 18 Prozent der Westbank umfasst. Dorthin fließen sowohl Investitionen aus den arabischen Ländern als auch ein Großteil der internationalen Hilfsgelder und Investitionen, dort entstand auch ein schmales neues Bürgertum, das größtenteils auf Pump in vollen Zügen konsumiert, während ein Großteil der restlichen Bevölkerung ums wirtschaftliche Überleben kämpft.

In den so genannten C-Gebieten andererseits, die rund 62% der Westbank ausmachen, erteilen israelische Behörden den  Palästinensern nur im Einzelfall Baugenehmigungen. Palästinenser unterliegen dort zahlreichen Bewegungseinschränkungen, während die jüdischen Siedlungen florieren. Die israelische Wirtschaft profitiert von der Nutzung dieses Landes und dem Abbau seiner Ressourcen, während die Palästinenser auf den Kauf israelischer Güter und teils gar auf die Anstellung in israelischen Siedlungen angewiesen sind. Umgekehrt haben palästinensische Bauern keine Chance, ihre eigenen Produkte auf den israelischen Markt, geschweige denn international zu exportieren. So verleibt sich Israel durch die Besatzung der Westbank Milliardenbeträge ein, die eigentlich der palästinensischen Wirtschaft zuständen und für den Aufbau eines Staatswesens grundlegend wären.

Zur Strafe: Israel behält Steuereinnahmen ein

Laut Pariser Protokoll, dem wirtschaftlichen Zusatzvertrag von Oslo, hat Israel zudem nahezu die gesamte Kontrolle über die palästinensische Außenwirtschaft und die Zollhoheit inne. Israel erhebt Steuern und ist verpflichtet, sie an die PA weiterzuleiten, behält sich aber vor diese als politische Druckmittel einzubehalten. Bereits mehrfach wurde die Weiterleitung der für die PA erhobenen Steuereinnahmen verweigert, zum Beispiel zur „Bestrafung“ der palästinensischen Initiative für eine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Die PA hat nun die Neuverhandlung des Protokolls gefordert, was die israelische Regierung aber ablehnt.

Während der Aufbau palästinensischer Institutionen unter der PA von Weltbank und IMF gelobt wurde, rückte so die Schaffung des angestrebten palästinensischen Staates in den letzten fünf Jahren immer weiter in die Ferne. Das arabische Ost-Jerusalem ist seit 1980 vom israelischen Staat annektiert, dort leben knapp 200.000 jüdische Siedler, fast genauso viel wie arabische Einwohner (260.000). Israel hat hier mittlerweile auch durch den Bau der Mauer Fakten geschaffen. Ost-Jerusalem ist nahezu vollständig abgetrennt von der Westbank und für seine arabischen Bewohner aufgrund der schlechteren Dienstleistungen und des unsicheren Aufenthaltsstatus immer weniger lebenswert. Der Gazastreifen steht unter Totalblockade und ist seit 2007 vollständig abgetrennt von der Westbank. Der Versöhnungsprozess zwischen der dort herrschenden Hamas und der Fatah ist trotz mehrfacher Anläufe gescheitert. Der Großteil der Bevölkerung in der Westbank hat keinerlei Vorstellung davon, wie es in dem gerade mal 80 km entfernten Gazastreifen überhaupt aussieht.

"Das Volk will das Ende von Oslo"

Während international die Autonomiebehörde noch weitgehend positiv gesehen wird, hat sie bei den Palästinensern auch durch Korruptionsvorwürfe viel Kredit verspielt, der Glaube an eine Verhandlungslösung  und den Staatsaufbau sinkt (siehe auch Umfragen des JMCC). Die Legitimationskrise ist enorm, denn seit den Wahlen von 2006, aus denen die Hamas als Wahlsieger hervorging, fanden keine freien Wahlen mehr statt. Der „Legislativrat“, das palästinensische Quasi-Parlament, kann seit 2007 nicht mehr zusammen treten, mehrere Parlamentarier befinden sich noch immer ohne Anklage in israelischer Haft. Die für Oktober angekündigten Kommunalwahlen, deren Boykott die Hamas bereits angekündigt hat, werden das Legitimationsdefizit palästinensischer Politik nicht beheben, sondern die innenpolitische Spaltung weiter vergrößern.

Mit der fehlenden Legitimation einher gehen zunehmende autoritäre Tendenzen innerhalb der PA. So wurden wiederholt kritische Webseiten geschlossen, Journalisten an ihrer Arbeit gehindert und Demonstrationen vereitelt. Besonders negativ stach die brutale Niederschlagung von Kundgebungen junger Aktivistinnen und Aktivisten im Juli 2012 hervor, die gegen weitere Gespräche mit der israelischen Rechtsregierung protestierten: Die PA, der die Kritik an der eigenen Haltung nicht passte, reagierte mit brutaler Gewalt. Auch im Rahmen der Sozialproteste marschierten in Ramallah mehrere Hundert Menschen zum Präsidentenpalast und skandierten die Parole „Das Volk will das Ende von Oslo“.

Ein palästinenischer Frühling als Herbst für die Autonomiebehörde?


„Viel unterscheidet uns nicht mehr von jenen Regimen, die zu Beginn des arabischen Frühlings hinweggefegt wurden“, sagt ein hoher Repräsentant der Fatah im Gespräch mit dem Autor. Ausgerechnet Präsident Abbas hat nun von der Möglichkeit eines „palästinensischen Frühlings“ gesprochen. Er mag die Hoffnung hegen, dass sich dieser nur gegen Premierminister Fayyad richten könnte, mit dem es unlängst zu Unstimmigkeiten kam, oder dass sich der Unmut der Palästinenser gegen die israelische Besatzungsmacht kanalisieren lässt.

Aber die Unzufriedenheit mit der gesamten derzeitigen palästinensischen Führung ist offenbar. Ohne Maßnahmen gegen diese Frustration – demokratische Wahlen, Fortschritte im Versöhnungsprozess, wirtschaftliche Konsolidierung und vor allem eine wirksame politische Strategie zur Beendigung der Besatzung  – werden die Proteste weiter anwachsen. Diese Schritte liegen aber entweder kaum in der Macht oder gar nicht im Interesse der politischen Führung. Da zudem nichts darauf hindeutet, dass eine Revision des Oslovertrages und den damit verbunden Hemmnissen für palästinensische Staatlichkeit seitens Israel oder der internationalen Gemeinschaft auf der Agenda steht, wird die Unzufriedenheit weiter anwachsen. Ein palästinensischer Frühling könnte dann in nicht allzu ferner Zukunft zu einem Herbst für die palästinensische Autonomiebehörde werden.


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René Wildangel ist Leiter des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Ramallah.