Syrien-Krise: Das Ende des türkischen Traums im Mittleren Osten?

Zu Beginn noch loyal gegenüber dem syrischen Regime unter Assad, hat sich die Türkei zu einem der größten Unterstützer der syrischen Opposition entwickelt. Doch was bedeutet der Wandel des türkisch-syrischen Verhältnisses für die Region? Und welche Auswirkungen hat die Krise auf den Kurdenkonflikt in der Türkei? -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu EU & Nordamerika.

Obwohl die Türkei anfangs ihrem Verbündeten Bashar al-Assad gegenüber loyal geblieben war, als die Volksaufstände ausbrachen, ist es ihr von März bis August 2011 nicht gelungen, ihn dazu zu bewegen, ausreichende und befriedigende Reformen durchzuführen. Man kann nicht genug betonen, dass die Türkei damals wie heute darauf bedacht ist, die in vielerlei Hinsicht lebenswichtigen Beziehungen zu Syrien nicht zu zerstören. Denn diese sind vor allem nach dem Prinzip „Zero Problems“ mit den Nachbarn gestaltet.

Außerdem steht das Land im Zentrum der Politik für den Mittleren Osten und wird zumindest als regionale Macht, wenn nicht gar mehr, betrachtet. Einen weiteren Grund stellen die positiven Wirtschaftsbeziehungen mit Syrien dar. Zusätzlich zu den bilateralen Handelsbeziehungen ist Syrien für die Türkei gleichzeitig ein Tor zu den Wirtschaftsräumen Ägypten, Jordanien und den Golfstaaten. Schließlich wollte Ankara es insbesondere vermeiden, dass die Zusammenarbeit mit Damaskus durch den Kampf gegen den Terror der PKK Schaden nimmt.

Dennoch gelang es Ankara trotz aller Bemühungen ab August 2011 nicht mehr, ein Abreißen der Beziehungen zu verhindern. Nachdem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einsehen musste, dass er seinem alten Freund nicht mit Worten beikommen kann und es keine andere Alternative für die Türkei gibt, als die syrische Opposition zu unterstützen.

Abschied vom alten Freund

Die Türkei gehört heute, insbesondere seit dem Abschuss eines türkischen Spähflugzeugs über dem syrischen Luftraum, zur vordersten Front derer, die die Opposition gegen das Regime in Damaskus unterstützen. Die wichtigste syrische Oppositionsbewegung, der Syrische Nationalrat (SNR), hat mit Unterstützung Ankaras seine Zentrale in der Türkei aufgebaut. Selbstverständlich ist der SNR nicht die einzige Oppositionsbewegung gegen das Regime von Bashar al-Assad. Dennoch wird er von der internationalen Staatengemeinschaft als legitime Vertretung des syrischen Volkes betrachtet.

Außerdem ist die Türkei das Land, das die meisten Flüchtlinge aufnimmt, die vor den Kämpfen zwischen dem Militär und den Milizen der Opposition fliehen. Ende August 2012 lebten fast 80.000 zivile Flüchtlinge in Zeltstädten in der Region um Antakya und Kilis. Am deutlichsten wird die Unterstützung der Türkei für einen Regimewechsel in Damaskus allerdings dadurch, dass sie die Führung der Freien Syrischen Armee (FSA) auf ihrem Territorium beherbergt.

Diese eindeutige Haltung der Türkei gegen die Regierung von Bashar al-Assad ist vor allem eine ganz persönliche Entscheidung von Ministerpräsident Erdogan. Betrachtet man die Entwicklungen der letzten Monate, zeigt sich, dass Erdogan noch zu Beginn der Krise glaubte, er könne seine guten Beziehungen zu Assad nutzen um das Regime zum Dialog mit der Opposition zu bewegen und so zu zeigen, dass die Türkei als aufstrebende Macht der Region in der Lage ist, Krisen ohne Eingreifen des Westens zu managen. Hierdurch wurde dem syrischen Diktator eine Galgenfrist eingeräumt. Assad verletzte aber Erdogans Ego und Ehre so tief, dass der türkische Ministerpräsident die Fronten wechselte und sich zum Verteidiger des unterdrückten, unschuldigen syrischen Volks wandelte.

Doch hinter dieser persönlichen Kränkung stehen auch politische und strategische Überlegungen. Der unlogische Trotz, mit dem Assad dem „Arabischen Frühling“, durch den die autokratischen Regime in Tunesien, Libyen und Ägypten gestürzt wurden, begegnete, führte nur zu einer weiteren Schwächung Syriens und brachte das Ende des Regimes ein weites Stückchen näher. Für die Türkei war damit die Zeit gekommen, die Fronten zu wechseln und sich auf die Zeit nach Assad vorzubereiten. Aber wie viele andere auch ist Erdogan dem Irrtum erlegen, dass das Regime in Syrien sich nicht lange widersetzen könne.

Die Türkei, die das Machtverhältnis zwischen dem Regime und der Opposition falsch eingeschätzt hatte, geriet in eine Sackgasse. Täglich kommen neue Unsicherheiten und Risiken auf Ankara zu. Die Türkei ist in ein unlösbares Dilemma verstrickt: Erstens verschärft die Verlängerung der Krise in Syrien das Kurdenproblem in der Türkei. Zweitens besteht das Risiko, dass sich in Syrien ein Glaubenskrieg entwickelt, der auf die Türkei überspringen könnte. Die Tatsache, dass die Türkei in der Krise Partei ergriff, schadet den wirtschaftlichen Beziehungen zu Syrien und den angrenzenden Regionen. Und natürlich spiegelt sich auch in den Beziehungen zu den Nachbarländern wider, dass Ankara die syrische Opposition unterstützt, allen voran Iran, Irak und Russland.

Der Kurdenkonflikt in der Türkei spitzt sich zu

Seit Gründung der Republik durch Atatürk im Jahre 1923 stellt das Kurdenproblem einen der größten Konflikte dar, mit denen sich die Regierung in Ankara beschäftigen muss. Durch die Entwicklungen in Syrien, Irak und auch Iran, insbesondere jedoch durch die Destabilisierung Syriens, hat sich der Konflikt weiter verschärft. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Türkei seit Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 trotz aller gegenwärtigen Spannungen die Haltung zu und den Umgang mit dem Kurdenproblem veränderte, was positive Entwicklungen nach sich zog . Die wichtigsten Forderungen der Kurden  wurden in dem Reformpaket „demokratische Öffnung“  aufgegriffen. Hierdurch konnten auch bedeutende Fortschritte in der Politik erzielt werden.

Als erster Schritt dieser Reformen, die bei weitem nicht ausreichend sind, wurde Kurdisch-Unterricht, ein Fernsehsender, der auf Kurdisch sendet, Radiosender und Kurdisch-Kurse an Universitäten eingeführt. Neben diesen zaghaften, aber doch sehr konkreten Bemühungen wurde ein bei weitem mutigerer Schritt unternommen: In Oslo wurden geheime Gespräche zwischen dem türkischen Staat und Vertretern der PKK geführt und damit erstmals ein Dialog in Gang gesetzt und nach Lösungsansätzen gesucht . Diese Fortschritte gerieten allerdings bereits vor Ausbruch der Unruhen in Syrien an einen toten Punkt. Die Krise in Syrien und die Tatsache, dass sich die Spannungen und die Unsicherheit zwischen dem türkischen Staat und den handelnden Akteuren im Kurdenkonflikt verstärken, vergrößern auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Lösung für das Problem auf unbestimmte Zeit verschoben wird.

Neue regionale Strategien

Offizielle Kreise wie auch unabhängige politische Kommentatoren bewerten den Neuaufbau der Beziehungen zwischen Damaskus und der PKK als Revanche für die Politik der Türkei zugunsten der syrischen Opposition . In der Tat lässt sich beobachten, dass die Angriffe der PKK auf das türkische Militär parallel zur Verschlechterung der Beziehungen zu Syrien zunahmen. Die tiefsten Spuren hinterließen die Anschläge zwischen Juli 2011 und Juni 2012, durch die dem türkischen Militär empfindliche Verluste beigefügt wurden. Für viele politische Kommentartoren sind diese minutiös geplanten und durchgeführten Anschläge ein Anzeichen dafür, dass die PKK erneut eine Union mit Damaskus eingegangen ist und von dort Unterstützung erhält. Es wird sogar behauptet, dass ein Angriff im Juli 2011 direkt von Fehman Hüseyin, Codename „Dr. Bahoz Erdal“, einem syrischen Kommandeur der PKK, ausgeführt wurde.

Betrachtet man die Machtverhältnisse in der Region, hat die PKK in der Türkei wie auch im Nordirak genügend Macht, um Militäraktionen auch ohne die Unterstützung von Damaskus durchführen zu können. Durch den Aufstand in Syrien hat sich die Situation für die PKK aber verändert. Während ihr Vertrauen in den türkischen Staat sinkt, entwickelt sie eine neue regionale Strategie, die auch die Kurden in Syrien und dem Irak umfasst.  

Wenn man das Verhältnis Türkei-Syrien-PKK betrachtet, muss man auch die Beziehungen Syriens mit der PYD (Partei der Demokratischen Union) einbeziehen. Diese stellt - auch wenn es ihre Anführer bestreiten und lieber von einer „ideologischen Nähe“ sprechen - die Verlängerung der PKK in Syrien dar . Zu Beginn der Aufstände verfolgte Damaskus das Ziel, die PYD gegen die Türkei, aber auch gegen ihre eigenen kurdischen oder arabischen Oppositionellen zu instrumentalisieren. Denn die Unterstützung der PYD für das syrische Regime verhinderte, dass sich andere kurdische Organisationen an den Kämpfen beteiligten. Die Strategie der PKK (und ihres syrischen Ablegers) bestand darin, durch die Unterstützung von Bashar al-Assad für die Kurden in Syrien nach dem Assad-Regime einen Sonderstatus zu erwirken oder ihre Position so zu stärken, dass den Kurden kein ungewollter Führer aufgezwungen werden kann. Sie nahm dabei in Kauf, in den Augen einiger Akteure in der Region in Misskredit zu geraten.

Die Unterstützung für die syrische Opposition als Bumerang in der Kurdenfrage

Die Unterstützung, welche die PKK Assad zu Teil werden lässt, basiert also auf einer klugen Berechnung, die zweierlei Ziele verfolgt: Zum einen Ankara derart zu schwächen, dass es den Kurden in der Türkei mehr Rechte einräumen muss. Zum anderen dafür zu sorgen, dass die Kurden in Syrien einen besseren Status erhalten . Ankara ist sich dessen bewusst und versucht etwas unbeholfen, den Syrischen Nationalrat (SNR) bei seinen Verhandlungen mit dem kurdischen Teil in der syrischen Opposition zu beeinflussen. Diese sind von einer türkischen Einflussnahme jedoch nicht begeistert. Als Reaktion darauf haben kurdische Parteien die Sitzungen des SNR boykottiert und ihre eigenen Strukturen geschaffen, die jedoch eine ambivalentere Haltung gegenüber dem syrischen Regime einnehmen. Diese vorsichtige Haltung der syrischen Kurden wird auch von den Kurden in der Türkei geteilt, die aufgrund einer erneuten Verhaftungswelle gegen militante Vertreter der Kurdenfrage noch weniger Vertrauen in die türkische Regierung hegen.

Das schlechteste Szenario für die Türkei besteht darin, dass sich ihre Unterstützung für die syrische Opposition in einen Bumerang verwandelt und in Syrien eine autonome Kurdenregion gebildet wird, in der die kulturellen und politischen Rechte gewährt werden, welche die Kurden der Türkei seit zehn Jahren fordern.

Die Perspektive auf ein autonomes kurdisches Gebiet beunruhigt nicht nur die Türkei, sondern auch die syrischen oppositionellen Kräfte. Man fürchtet eine Abspaltung von kurdischen, arabischen, sunnitischen und alawitischen Gebiete. In einer Informationsschrift des SNR garantiert dieser den syrischen Kurden, dass ihre Rechte in dem zukünftigen Syrien geschützt werden .  Dennoch bevorzugen kurdische Organisationen weiter, ihren eigenen Weg zu gehen und sich in zwei Blöcken zu organisieren, dem aus verschiedenen Parteien bestehenden Kurdischen Nationalrat (KUK) sowie der isoliert agierenden PYD, deren Waffenbesitz ihr zur Macht verhilft. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in Syrien eine autonome Kurdenregion formiert, ist also ausgesprochen hoch. Ende Juli 2012 flammten die Kämpfe auf und wegen der Schwäche des Regimes in Damaskus oder weil dieses absichtlich wegsah, konnten Militante der PYD viele Siedlungen in den kurdischen Gebieten (Afrin, Derek, Kamışlı, Kobane, Amude) unter ihre Kontrolle bringen. Die Türken müssen daher wohl oder übel auch die Kurden in das neue Syrien nach dem Sturz von Assad in ihr Kalkül mit auf nehmen.

Auch wenn die Kurdenfrage nicht unterschätzt werden darf, soll diese nicht dazu dienen, andere Probleme im Zusammenhang mit der Krise in Syrien zu verschleiern. Der Aufstand in Syrien könnte sich zu einem Glaubenskrieg ausweiten, durch den die bestehenden Spannungen in der Türkei erneut aufflammen könnten. In Ankara herrscht die Angst, dass die Spaltung zwischen Anhängern und Gegnern Assads, zwischen Sunniten und Schiiten, auf die türkische, kurdische, alevitische, sunnitische usw. Bevölkerung Anatoliens übergreifen könnte.

Weitet sich der Aufstand in Syrien zum Glaubenskrieg aus, beeinflusst dies auch die Türkei

Bekanntlich gehört die Familie Assad, die seit rund 40 Jahren in Syrien an der Macht ist, der Glaubensgemeinschaft der Alawiten an, einer Strömung des schiitischen Islams, in deren Zentrum Ali steht . Diese alawitische Minderheit lebt auch in der türkischen Provinz Hatay, im gesamten Grenzgebiet zu Syrien. Allerdings sind die Alawiten (auch die entlang der syrischen Grenze in der Türkei) nicht mit den ebenfalls in der Türkei lebenden Aleviten zu verwechseln, die ebenfalls Ali als Kultfigur verehren. Auch wenn beide Ali verehren, handelt es sich nicht um eine homogene schiitische Glaubensgemeinschaft. Beide Gruppen werden häufig miteinander verwechselt, so dass Unterschiede zwischen den verschiedenen schiitischen Minderheiten und deren Untergruppierungen ausgeblendet werden. Die Aleviten in der Türkei haben ihre Wurzeln in den türkischen Stämmen Zentralasiens. Ihr Glaube basiert auf vorislamischen Traditionen und Vorstellungen (insbesondere dem Schamanismus und Tengrismus), die eine Synthese mit anatolischem und islamischem Glauben eingegangen sind . In der Türkei gehören rund 20 Prozent der Bevölkerung per definitionem dem Alevitentum an. Eigentlich handelt es sich dabei aber um eine inhomogene Gruppe, die vor allem in Bezug auf ihre Ethnie große Unterschiede aufweist . Einige gehören beispielsweise dem türkischen Kultur- und Sprachraum an, andere sind sogenannte Zaza-Kurden. Die Anzahl der Nusairi  in der Türkei, welche dieselbe Abstammung haben wie die syrischen Alawiten, ist sehr gering (500.000 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 70 Mio.).

Die Aleviten und Nusairi in der Türkei fühlten sich in der Vergangenheit so wie auch die Alawiten in Syrien, von der herrschenden sunnitischen Schicht unterdrückt. Das mag erklären, warum sie sämtliche Regierungen, welche die Kontrolle der Sunniten beschränkten, treu und bedingungslos unterstützt haben. Deswegen haben die Aleviten und Nusairi in der Türkei sowie die Alawiten in Syrien stets traditionell laizistische Regime unterstützt, durch welche der Einfluss der Sunniten in Schranken gehalten wurde. Doch ist das ausreichend, um sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und dafür geographische, sprachliche, ethnische und kulturelle Grenzen zu überwinden? Abgesehen davon, dass sie sich von der sunnitischen Mehrheit nicht sonderlich geliebt fühlen, unterscheiden sich die Aleviten in der Türkei und die Alawiten in Syrien stark voneinander. Sie leben grundsätzlich verschiedene religiöse Praktiken und sprechen unterschiedliche Sprachen. Beide Gruppen haben nur beschränkten Einfluss aufeinander oder Beziehungen untereinander.

Möglicher Glaubenskrieg?

Dennoch steht die Frage im Raum, wie sich die Aleviten in der Türkei verhalten, wenn sich die Krise in Syrien immer weiter hoch schaukelt, zu einem Glaubenskrieg zwischen Alawiten und Sunniten ausweitet und ein Militäreinsatz, an dem sich auch die Türkei beteiligen würde, immer wahrscheinlicher wird. Werden die Aleviten an der Seite der Alawiten in Solidarität zu dem Assad-Regime stehen? Würde ein Ausweiten des Aufstandes in Syrien zu einem Glaubenskrieg die Beziehungen zwischen der sunnitischen Mehrheit und der alevitischen Minderheit in der Türkei beeinflussen? Die 500.000 Nusairi, die seit Jahrzehnten in Hatay unter türkischer Herrschaft leben, fühlen sich noch immer ihren Glaubensbrüdern an der Macht in Syrien verbunden . Aber das heißt nicht, dass sie automatisch auch das Assad-Regime verteidigen. Seit Beginn der Aufstände verhalten sie sich äußerst zurückhaltend. Die Beteiligung an den wenigen Solidaritätsbekundungen für Assad, die in der Grenzstadt Antakya im Februar 2012 stattfanden, war äußerst gering.

Die Aleviten in der Türkei, die nicht Arabisch sondern Türkisch oder Kurdisch sprechen, fühlen sich Damaskus kaum verbunden. Genau genommen nehmen die alevitischen Anführer in der Türkei Anstoß an dem, was in Syrien vor sich geht. Da sie traditionell Opfer der schlechten Behandlung durch die sunnitische Mehrheit sind, sind sie in jedem Kampf gegen Ungerechtigkeit oder Ungleichheit immer an vorderster Stelle. Und im Fall von Syrien unterdrücken die Alawiten die sunnitische Mehrheit. Ihr ethisch nicht zu vertretendes grausames Vorgehen erschwert eine Unterstützung durch die Aleviten der Türkei. Daher dürfte auch eine religiöse Nähe nicht dazu führen, dass die Aleviten in der Türkei sich an die Seite des Assad-Regimes stellen oder die dortige sunnitische Mehrheit zur Zielscheibe erklären. Die Konflikte zwischen den Alawiten und Sunniten in Syrien sind aus diesen Gründen nicht auf die Türkei übertragbar und die Wahrscheinlichkeit, dass die Konflikte auf die Aleviten und Sunniten in der Türkei überschwappen, ist folglich eher gering - so wie man es bereits im Libanon beobachten konnte.

Erdogans Popularität schwächen

Allerdings hat die Situation in Syrien zu einer Politisierung und Polarisierung in der Türkei geführt. Als sich die AKP-Regierung auf die Seite der Assad-Gegner stellte, wendete die Opposition eine positive Rhetorik für das Regime in Damaskus an, ohne aber das Regime offen zu unterstützen. Wie dargestellt handelt Erdogan nicht nur aus politischen sondern auch aus persönlichen Erwägungen. Seine politischen Gegner werten seine Haltung als ein Zeichen der Solidarität mit den syrischen Sunniten, die gegen das Assad-Regime kämpfen. Allerdings glauben weder die Organisationen der Kurden noch die ultralinken Parteien in der Türkei, dass Erdogans Unterstützung religiös motiviert ist. Dennoch nutzen diese die Politik gegenüber Syrien dazu, die Politik der AKP insgesamt anzugreifen.

Die Kritik an der Politik von Erdogan im Syrienkonflikt hat sehr unterschiedliche Beweggründe. Die größte Oppositionspartei, die CHP, will damit die Popularität von Erdogan schwächen. Ultralinke, wie die Kommunistische Partei der Türkei, die Arbeiterpartei und die linken Gewerkschaften vertreten die Ansicht, dass in Syrien nicht ein unterdrücktes Volk einen Aufstand gegen das Regime führt. Sie meinen, es handelt sich um ein Komplott der internationalen kapitalistischen und imperialistischen Mächte. Die progressive und beliebte Musikband Yorum ging sogar so weit, ihre Solidarität mit dem syrischen Regime als „Opfer eines internationalen imperialistischen Komplotts“ zu proklamieren. Dem kurdischen Block und der BDP gelingt es wiederum nicht, eine eigenständige und unabhängige Haltung einzunehmen. Die BDP mit ihrer klaren Haltung gegenüber repressiven Regimen, ist wie sonst auch gezwungen, den Anordnungen der PKK zu folgen, die sich dazu entschieden hat, das Regime von Assad zu unterstützen.

Auch wenn die Krise in Syrien nur geringen Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Glaubensrichtungen in der Türkei hat, spaltet sie dennoch die Politik in der Türkei. Beteiligt sich die Türkei offen an einem bewaffneten Einsatz, wird dies zu einer Verhärtung der Fronten in der Innenpolitik führen. Dies würde wirtschaftliche und finanzielle Konsequenzen mit fatalen Auswirkungen auf einige Regionen der Türkei haben. 

Der Einfluss der Krise in Syrien auf die Wirtschaft der Türkei

Im August 2011 bezog die Türkei klare Position gegen das Regime in Damaskus. Ende November 2011 führte sie gemeinsam mit den westlichen Bündnismächten und der Arabischen Union wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen ein, um Bashar al-Assad dazu zu bewegen, mit der Opposition in seinem Land zu verhandeln. Die Sanktionen sahen in erster Linie ein Einfrieren der Beziehungen zur syrischen Regierung, ein Einfrieren des Handels sowie der Beziehungen zwischen der türkischen und syrischen Zentralbank vor. Diese Maßnahmen bedeuteten auch das Aus für die strategische Partnerschaft und die wunderbaren wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen, die zu Zeiten guter bilateraler Beziehungen beider Länder entstanden waren.

Die türkischen Exporte nach Syrien stiegen von 1,424 Mrd. Dollar im Jahr 2009 auf 1,845 Mrd. Dollar in 2010, fielen jedoch in im Jahr 2011 erneut auf 1,611 Mrd. Dollar. Laut amtlichen Erklärungen des türkischen Wirtschaftsministeriums ist der bilaterale Handel im Jahr 2012 fast vollständig zum Erliegen gekommen. Besonders betroffen ist der Transportsektor, der in den Grenzregionen wie Gaziantep, Adana und Hatay eine wichtige Rolle spielt . Doch auch der Tourismus wurde in Mitleidenschaft gezogen: Vor dem Umbruch besuchten jährlich über 800.000 Syrer die Türkei.

Doch die größten Verluste erleidet die Türkei seit dem Blutbad im Nachbarland dadurch, dass Syrien nicht mehr als Transitweg für türkische Waren in die Golfregion und den Orient dienen kann. In naher Zukunft dürften daher auch die Handelsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien und den Golfstaaten Schaden nehmen. Denn alles deutet darauf hin, dass der Konflikt in Syrien noch lange dauert. Allerdings sind die Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in der Türkei insgesamt eher unbedeutend. Denn der Außenhandel mit Syrien nimmt nur einen geringen Anteil am Gesamthandelsvolumen der Türkei ein. Im Jahr 2011 exportierte die Türkei insgesamt Waren und Güter im Wert von 137 Mrd. Dollar, auf Syrien entfiel nur ein Anteil in Höhe von 1,6 Mrd. Dollar.

Für die türkischen Grenzregionen, wie beispielsweise Gaziantep, wo man sich auf den Handel mit Syrien und den Nachbarstaaten konzentriert, ist der Einfluss spürbarer. Einige Handels- und Logistikunternehmen, denen die Umsätze vollkommen wegbrachen, müssen ihre Strategien revidieren, um weiterhin Produkte exportieren zu können. Die Türkei ist durch diese Krise, die offensichtlich noch länger andauern wird, gezwungen, Alternativen zu suchen, um die wirtschaftlichen Interessen im Mittleren Osten bewahren zu können. Doch schwerer als die wirtschaftlichen Folgen, welche die türkische Gesamtwirtschaft nur gering treffen, wiegt das Risiko, dass die eindeutige Haltung der Türkei gegen das Regime in Damaskus die Beziehungen zu einigen Nachbarländern schwächen könnte, die andere Positionen zu Syrien vertreten.

Der Einfluss der Krise in Syrien auf die Beziehungen der Türkei zu den Nachbarn Iran, Irak und Russland

Durch die Aufstände in Syrien verschieben sich die Kräfteverhältnisse in der Region. Es ist sicher, dass viele Länder, mit denen auch die Türkei partnerschaftliche Beziehungen pflegt, die Machtverhältnisse neu austarieren werden. Der Iran beispielsweise vertritt eine andere Lösung für den Konflikt in Syrien. Hier spielt zunächst die Nähe des schiitischen Islams im Iran mit dem Glauben der Alawiten in Syrien eine wichtige Rolle. Noch schwerer ins Gewicht fallen allerdings politische und strategische Gründe, aus denen heraus der Iran das Assad-Regime voll unterstützt. Teheran ist der Ansicht, dass die Vorkommnisse in Syrien Resultat eines Komplotts des Westens sind, um Irans mächtigsten Verbündeten in der Region zu stürzen und den Iran zu isolieren. So gesehen halten die Iraner die Türkei für das trojanische Pferd des Westens.

Auch wenn diese klassischen Anschuldigungen des Iran gegen die Türkei eine bilaterale Annäherung zur Türkei nicht verhindern, glaubt man in Teheran dennoch, dass sich Ankara gemeinsam mit den westlichen Alliierten Vorteile aus den Aufständen in Syrien verschafft und darauf vorbereitet, in Damaskus eine prowestliche, dem Iran gegenüber feindlich gesinnte Regierung zu etablieren. Außerdem bezieht die Türkei im Syrienkonflikt Stellung neben Saudi Arabien und Qatar, den beiden Erzfeinden des Iran in der Region. Dadurch wird einmal mehr die religiöse Seite des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten unterstrichen. Die iranische Wahrnehmung der  türkisch-syrischen Beziehungen spielt eine wichtige Rolle für die Verschlechterung der bereits bestehenden fragilen iranisch-türkischen Beziehungen. Man muss nicht erst bis zum Konflikt zwischen den Osmanen und Saffawiden zurückgehen.

Auch in jüngerer Zeit bestehen seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 zwischen beiden Ländern weitreichende ideologische Meinungsverschiedenheiten. Die AKP-Regierung konnten diese zwar nicht vollständig ausräumen, zumindest teilweise jedoch abschwächen. Zweifellos hat die Persönlichkeit des türkischen Ministerpräsidenten als charismatischer muslimischer Anführer und Staatsmann den Iran beeindruckt. Allerdings entstand gleichzeitig das Paradoxon, dass ein auf der internationalen Bühne strahlender Erdogan automatisch Teheran in seinen Schatten stellt. Seit einigen Jahren gilt Erdogan auf der Straße in den arabischen Ländern als populärer politischer Anführer. Bereits vor Ausbruch des Arabischen Frühlings diente die AKP für einige arabische politische Bewegungen als Modell.

Ernsthafter Schaden für die Beziehungen zwischen Iran und Türkei?

Auch wenn der Versuch der Türkei, sich gemeinsam mit Brasilien als Vermittler in der Atomfrage anzubieten, die bilateralen Beziehungen zum Iran positiv beeinflusste, vergiftete sich das Klima unmittelbar danach erneut, als die Türkei im Rahmen der NATO-Verpflichtungen der Errichtung eines gegen den Iran gerichteten Raketenabwehrschirmes zustimmt. Die Aufstände in Syrien, zu denen die Türkei und der Iran unterschiedliche Positionen einnehmen, brachen zu einem Zeitpunkt aus, als die bilateralen Beziehungen offen, aber fragil waren. Jetzt geht es darum, ob der Konflikt in Syrien den iranisch-türkischen Beziehungen ernsthaften Schaden zufügen kann. Dies wird vor allem der weitere Verlauf der Entwicklungen in Syrien bestimmen und die Frage, welche Regierung in Damaskus gebildet wird. Der Iran wird einer Regierung, die eine Allianz mit der Türkei und dem Westen eingeht, nicht positiv gegenüberstehen.

Es würde auch die für die Wirtschaft beider Länder wichtigen wirtschaftlichen Beziehungen erschweren. Die Türkei bezieht einen großen Teil des Erdgases und Erdöls, das sie für die sich rasant entwickelnde Wirtschaft benötigt, aus dem Iran. Der international isolierte und von den Wirtschaftssanktionen schwer leidende Iran könnte sich ebenso nicht den Luxus leisten, die Beziehungen zur Türkei komplett abzubrechen. Von gemeinsamem Interesse sind auch Fragen wie allen voran das Kurdenproblem. Auch wenn gegenwärtig die Syrienfrage beide Länder spaltet, dürften beide Länder dennoch in Zukunft kooperieren. Sollte im neuen Syrien ein autonomes Kurdistan gegründet werden, dürften sowohl die türkische als auch die iranische Regierung den Druck der kurdischen Minderheit im eigenen Land noch deutlicher zu spüren bekommen. Dies würde trotz der Uneinigkeit in Bezug auf Syrien zu einer Zusammenarbeit führen.

Man geht davon aus, dass nicht der Iran sondern Russland der größte politische und militärische Protektor des Regimes in Damaskus ist. Russlands Motive für seine Unterstützung des syrischen Regimes reicht weit über die syrische Frage hinaus . Zweifelsohne hat Moskau wirtschaftliche und strategische Interessen in Syrien. Gleichzeitig aber möchte sich der Kreml im Fall Syriens auf der internationalen Bühne und insbesondere gegenüber den USA als Großmacht manifestieren.

Die komplexen Beziehungen zu Russland

Kann die konträre Haltung, die Moskau und Ankara in der Syrienfrage einnehmen, den traditionell eher guten Beziehungen schaden? Auf den ersten Blick lautet die Antwort nein, weil nationale wirtschaftliche Gewinne im Vordergrund stehen. Türkische Unternehmen sind in Russland sehr aktiv und russische Touristen strömen in die Türkei. Die Abhängigkeit von Russland wird jedoch am meisten vom Faktor Gas bestimmt. Um ihren Energiehunger zu stillen, benötigt die Türkei Gas aus dem Iran und aus Russland. Umgekehrt ist auch Russland abhängig vom türkischen Markt. Außerdem will niemand, dass den Differenzen in der Syrienpolitik der Bau des Atomkraftwerks, ein türkisch-russisches Vorhaben, geopfert wird. In diesem Kontext steht der Besuch des türkischen Premierministers in der russischen Hauptstadt im Juli dieses Jahres, als der Aufstand in Syrien eine bedenkliche Wende zu nehmen schien. Ankara wollte Russland zum Nachdenken anregen, Bashar al-Assad davon zu überzeugen, sich ein neues Syrien vorzustellen. Der eigentliche Grund des Besuches galt aber der erneuten Bestätigung der für beide Seiten existenziellen Wirtschaftsbeziehungen. Solange Erdogan seine diplomatischen Bemühungen, sich mit Moskau gut zu stellen, fortsetzt, werden die Aufstände in Syrien keine nennenswert negativen Auswirkungen auf die russisch-türkischen Beziehungen haben.

Auch der Irak sieht seine Beziehungen zur Türkei seit Ausbruch der Krise in Syrien bedroht. Ankara ist gezwungen, nicht nur in Bagdad, sondern auch in Erbil, der Hauptstadt des autonomen Kurdistans, Verhandlungen zu führen. Dies gestaltet die Beziehungen noch komplizierter. Das Verhältnis zur schiitisch geprägten Regierung in Bagdad verschlechtert sich zunehmend. Der irakische Präsidenten, Nuri al-Maliki beschuldigt Ankara, die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten aktiv zu schüren . Außerdem wirft die Regierung in Bagdad der Türkei vor, privilegierte Beziehungen zur autonomen Kurdenregierung im Nordirak zu unterhalten und betrachtet dies als eine Bedrohung für die Einheit des Landes. Denn, selbst wenn dies widersprüchlich klingt, so unterhält die Türkei, wenngleich sie ihre eigene kurdische Minderheit stark unterdrückt, aus wirtschaftlichem und politischem Pragmatismus heraus starke und nachhaltige Beziehungen zu den irakischen Kurden.

Das dünne Eis eines Glaubenskonflikts

Aufgrund seiner Solidarität mit den Schiiten nimmt Bagdad keine offene Haltung gegen die syrische Regierung der Alawiten ein. Bagdad wirft der Türkei vor, mit ihren besonderen Beziehungen zum SNR, welcher der Muslimbruderschaft nahesteht, Politik auf Basis von Religion zu betreiben. Unterstützt wird der Irak dabei vom Iran, seinem stärksten Verbündeten in der Region in dieser Frage. So sehr sich die einzelnen Parteien auch bemühen, nicht auf das dünne Eis eines Glaubenskonflikts zu geraten, so werden dennoch durch die Krise in Syrien die Konfliktpunkte zwischen Sunniten und Schiiten sichtbarer.

Gute Beziehungen zu den Anführern des autonomen Kurdengebietes sind für Ankara vor allem für die Zeit nach den Auseinandersetzungen in Syrien von größter Bedeutung. Einen besonderen Mehrwert erhalten gute Beziehungen mit Erbil auch dadurch, dass die syrischen Kurden als neue politische und auch unabhängige militärische Macht erscheinen und Erbil als einzige politische Instanz Einfluss auf alle syrischen Kurden nehmen kann, einschließlich der wegen ihrer engen Beziehungen zur PKK in Ankara verhassten PYD. Man erwartet Garantien, dass durch geheime Verhandlungen der irakischen Kurden die Kurdenfrage in Syrien unter Kontrolle bleibt. Hierzu stärkt man Erbil politisch und wirtschaftlich den Rücken gegenüber Bagdad, das wenig Begeisterung für das ausgeprägte Autonomiebestreben der Kurden zeigt.

Für Ankara haben die irakischen Kurden, die man als möglichen Verhandlungspartner mit der PKK betrachtet, schon immer einen wichtigeren Stellenwert als Bagdad. Dadurch, dass Ankara direkte Beziehungen mit der Autonomieregierung aufgebaut hat, leistet es gleichzeitig aber auch Vorschub zur Stärkung dieses Gebildes und zur Entwicklung eines eigenen Staates. Man kann wiederum kaum behaupten, dass dies Ankaras Interessen dienlich wäre. Es ist also unvermeidbar, dass der Konflikt in Syrien für die Türkei ein neues Dilemma in der Kurdenfrage nach sich zieht. Hierdurch wird die Türkei gezwungen sein, erneut verstärkte Unterstützung im Ausland zu suchen, was sie selbst wiederum schwächen könnte.

Schwacher Halt der Türkei gegen die Krise in Syrien

In der Syrienkrise steht die Türkei an vorderster Front und versucht dieser chaotischen Situation zu entkommen ohne dabei international und national zu großen Schaden zu nehmen. Je länger der Konflikt anhält, umso mehr verschärft sich das Kurdenproblem, beeinträchtigt dies die Wirtschaft und erschwert die Politik und Führungsrolle der Türkei in der Region. Die Bemühungen der Türkei konzentrieren sich darauf, eine Teilung Syriens zu verhindern und die kurdischen Forderungen zu zügeln. Noch ist ungewiss, welche Couleur eine mögliche Regierung nach Beendigung der Krise haben wird. Ebenso ist Ankaras Einfluss dabei eher gering. Dennoch hat die Türkei einige Instrumente und Gehilfen, die sie bei der Wahrung ihrer Interessen in der Zeit nach Assad unterstützen.

Der wichtigste Trumpf in den Händen Ankaras ist der SNR, der nach vielen Treffen in der Türkei mit Unterstützung von AKP-nahen NGOs gegründet wurde. Die türkische Regierung unterhält beste Verbindungen zum SNR und besonders zur Muslimbruderschaft, die im SNR die Mehrheit stellt und für die islamische Rhetorik der AKP äußerst empfänglich ist. Eine weitere Unterstützung erfährt die Türkei durch die bisher wenig bekannte, aber durch die Umwälzungen ins Gespräch geratene kleine turkmenische Minderheit in Syrien. Diese gehört derselben Ethnie an wie die Türken.

Nicht ohne Grund behaupten zahlreiche politische Kommentatoren, dass der türkische Premierminister, der der Tradition des politischen Islam entstammt und heute einen konservativen gemäßigten Islam vertritt, eigentlich darauf abzielt, seinen Freunden der Muslimbruderschaft in Damaskus an die Regierung zu verhelfen . Hier lohnt es, sich die komplexen Beziehungen zwischen den syrischen und türkischen Islamisten und die Bedeutung des politischen Islams in Syrien vor Augen zu führen.

Die Rolle der Muslimbrüder

Unbestreitbar hatte das Gedankengut der Muslimbruderschaft insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren großen Einfluss auf die Islamisten der Türkei. Necmettin Erbakan, der historische Anführer des politischen Islam in der Türkei, machte aus seiner Unterstützung für die Muslimbruderschaft, deren ägyptische, jordanische und syrische Vertreter er regelmäßig in der Türkei empfangen hatte, nie einen Hehl. Der heutige Premierminister Erdogan, einst engster Schüler und Mitarbeiter von Erbakan, bemühte sich jedoch seit seinem Regierungsantritt im Jahr 2002 um eine Änderung dieses Images und um Distanz zum politischen Islam. Seine ehrgeizige Politik in der Region und seine privilegierten Beziehungen mit Bashar al-Assad, der den harten Kurs seines Vaters gegenüber der Muslimbruderschaft und ihren Sympathisanten übernommen hatte, führte zu einer Distanz zu den Muslimbrüdern. Einige fanden Zuflucht in der Türkei, beispielsweise der Geschäftsmann Gazvan al-Massri, der eine wichtige Rolle bei der Operation „Mavi Marmara“ gespielt hat, mit der das Embargo gegen den Gazastreifen gesprengt werden sollte. Gleichzeitig hielt die türkische Regierung, die sich von 1998 bis zum Ausbruch der Aufstände um die Normalisierung der Beziehungen bemühte, die wenigen Muslimbrüder in der Türkei unter ihrer Kontrolle.

Doch als in Syrien die Revolution ausbrach, änderte sich die Sachlage. Dass sich der SNR mit zahlreicher Beteiligung der Muslimbrüder in der Türkei formierte, hat bei den Politikern und Strategen der AKP die Hoffnung auf eine zukünftige Allianz zwischen der Türkei und der Muslimbruderschaft in Syrien genährt. Die stärkste politische Opposition der AKP in der Türkei - die kemalistische und die kurdische Presse – wie auch die säkularen Kräfte der syrischen Opposition werfen dies Erdogan gleichermaßen vor.

Diese Vorwürfe entbehren nicht ganz einer Grundlage. Bekanntlich versucht die AKP die islamische Welt davon zu überzeugen, dass ihr die Synthese aus Islam und Demokratie gelungen sei und sie so ein Vorbild darstelle . In vielen muslimischen Ländern, in denen der Arabische Frühling stattfand - beispielsweise in Tunesien – werden die Erfahrungen der AKP tatsächlich als ein gangbarer Weg oder zumindest als Quelle der Inspiration gesehen . Einige Anführer der Muslimbruderschaft, die sich wie Ali Sadreddin Albayanouni und Muhammed Faruk Tayfur, im Jahr 2011 in der Türkei niedergelassen haben, werden nicht müde, ihre neue Heimat als ein gelungenes Beispiel für einen demokratischen Islam zu loben. Die syrischen Muslimbrüder als vertrauenswürdige, langanhaltende Unterstützer zu betrachten und eine Allianz mit ihnen einzugehen, könnte aber komplizierter sein, als es sich die AKP vorstellt. Denn die Macht der Muslimbrüder wird von ihren Anhängern und auch Gegnern meist überschätzt.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte des politischen Islam in Syrien zeigt, dass sich die Muslimbruderschaft nach ihrer Zerschlagung im Jahr 1982 nie wieder richtig organisieren konnte . Nach den Worten ihrer Verantwortlichen musste die Organisation herbe Verluste an der Basis hinnehmen. Die islamischen Akteure der syrischen Revolution entspringen daher nicht ausschließlich der Muslimbruderschaft. Darunter befinden sich auch Salafisten und Gruppen, die der Hizb al-Tahrir verbunden sind. Deren Ansichten unterscheiden sich stark von denen der Muslimbruderschaft.

In Syrien arbeiten die Muslimbrüder verdeckt. Im Ausland hingegen sind sie hervorragend organisiert und zweifelsfrei auch im SNR sehr einflussreich. Wie in der syrischen Opposition insgesamt so sind auch im SNR die Muslimbrüder nicht die einzigen Vertreter islamischen Gedankengutes. Einige religiöse Oppositionelle wie Mahmut Osman, der seit zehn Jahren in der Türkei lebt, sind zwar Mitglied der SNR nicht aber der Muslimbruderschaft. Zudem schaffte es die „Partei für Gerechtigkeit und Befreiung“, eine im Londoner Exil gegründete weitere islamische Partei, mit ihrer jungen und dynamischen Mitgliedschaft die traditionellen  Anführer der Muslimbrüder alt aussehen zu lassen und in ihren Schatten zu stellen. 

Ein islamistisches Syrien: islamophobe Paranoia?

Der Gedanke, die Zukunft Syriens werde in den Händen von Islamisten, allen voran der Muslimbruderschaft liegen, könnte durchaus der Paranoia von übertriebenen Anhängern des Säkularismus, von islamophoben westlichen Medienvertretern und traditionellen Verbündeten des Assad-Regimes - wie dem (ebenso islamophoben) Russland - stammen. Denn Syrien lässt sich nicht mit anderen arabischen Ländern wie Tunesien oder Ägypten vergleichen, in denen die Islamisten traditionell sehr mächtig und nun durch den Arabischen Frühling an die Macht gekommen sind. Ein Blick auf die demographische und die ethnisch-religiöse Zusammensetzung der syrischen Bevölkerung reicht aus, um die Angst vor den Islamisten zu entkräften.

Geht man von freien Wahlen in dem Post-Konflikt-Syrien aus, dann würden die Islamisten höchstens rund 30 Prozent der Stimmen erhalten. Denn bei den Wahlen dürfte die Zugehörigkeit zu einer Nationalität oder die religiöse Identität ausschlaggebend sein; die Islamisten können weder auf die Christen (rund 10 Prozent der Bevölkerung), noch die Alawiten (10 Prozent), noch die Drusen und Tscherkessen (5 Prozent) oder die Kurden (10 Prozent) zählen. Selbst wenn die sunnitischen Araber ausschließlich für die Islamisten wählen, würde dies für das Endergebnis nicht ausschlaggebend sein. Denn die oppositionellen Gruppen im In- und Ausland sind stark zersplittert. Das ist mit Grund dafür, warum Erdogan vielfältige Kontakte und Bündnispartner innerhalb und außerhalb des SNR pflegt und nicht allein auf den Kontakt mit der Muslimbruderschaft setzt.

Durch die Krise in Syrien hat die bisher fast völlig unbekannte kleine Volksgruppe der Turkmenen von sich Reden gemacht . Sie sprechen einen ähnlichen Dialekt wie das Turkmenische im Irak, fühlen sich aber eher der Türkei verbunden . Es scheint, als wäre das Bewusstsein über ihre Identität im Zuge der Revolution erwacht. Auch wenn sie zahlenmäßig gering sind (höchstens 500.000 Menschen), brachten sie Staatsmänner wie Schukri al-Quwatli hervor, der Präsident Syriens in den Jahren 1943 bis 1949 und erneut 1955 bis 1958. Insgesamt haben die Turkmenen jedoch ihren Platz in der syrischen Geschichte eher als assimilierte und arabisierte Syrer gefunden. Nur eine Minderheit ist sich der türkischen Identität bewusst. Die turkmenische Gemeinde organisierte sich während der Revolution und unterhält auch eine kleine Vertretung im SNR. Außerdem gründete sie die Bewegung der demokratischen Turkmenen Syriens, die mit der Vertretung der Turkmenen im SNR eng zusammenarbeitet. Sie will Sonderrechte für ihre Gemeinde in Syrien sichern, und hierbei die speziellen Beziehungen zur Türkei nutzen . Können die syrischen Turkmenen, wie das Beispiel der irakischen Turkmenen mit ihren intensiven Beziehungen zur Türkei eine Stütze für die Türkei bilden? Ihre geringe Anzahl und ihre Suche nach Identität zwischen lange vergessenem Türkentum und einem auferlegten Arabertum deutet nicht darauf hin.

Syrien als Stolperstein der Türkei im Ansturm auf die Arabische Welt

Für die Turkmenen und die Muslimbruderschaft im SNR gilt: Die Gruppen, auf die sich die Türkei stützen kann, um ein Mitsprachemöglichkeit bei der Gestaltung der Zukunft Syriens zu haben, sind schwach und marginal. Die Türkei hat keine Alternative, als sich der internationalen Gemeinschaft anzuvertrauen und auf die Seite der westlichen Bündnispartner, insbesondere der Vereinten Nationen, zu stellen, wenn sie die Zukunft Syriens mitgestalten und ihre nationalen Interessen wahren möchte.

Noch bis vor kurzem waren die bilateralen Beziehungen mit Syrien das beste Beispiel für die Politik der Türkei im Mittleren Osten. Während Syrien noch Ende der 1990er Jahre der Staatsfeind Nr. 1 der Türkei war, hat es sich zu Ankaras bestem Verbündeten in der Region gemausert. Der Arabische Frühling hat politische Formationen an die Macht gebracht, die der AKP sehr nahe stehen und Erdogans Popularität in der arabischen Welt steigerte. Schnell vergaß man sogar, dass Erdogan zunächst eine eher zögerliche Haltung gegenüber den Entwicklungen in Tunesien, Libyen und Ägypten einnahm. Der Konflikt in Syrien zeigte die Grenzen der „Null Probleme mit den Nachbarn“-Politik von Davutoglu. Letztendlich hat die Syrienkrise sich in einen Albtraum verwandelt, der nicht nur das Ende der türkischen Politik und ihrer Soft Power in der Region einläutete sondern auch die Sympathien im Mittleren Osten riskierte.

Dabei ist Erdogans Krisenmanagement im Grunde genommen nicht so schlecht. Ganz im Gegenteil, zu Beginn war seine Politik sehr diplomatisch und bedacht. Als sich aber die Haltung des Regimes in Syrien verschärfte und eine „alles oder nichts“ Haltung einnahm, wurde auch Erdogan aggressiver. Er hoffte, dass die Übergangsphase kürzer sein würde. Doch trotz der 17 Monate dauernden gewalttätigen Auseinandersetzungen hat die Regierung in Syrien noch immer nicht aufgegeben. Das Land steuert auf einen Bürgerkrieg zu, der auch die Stabilität der Türkei gefährden kann. Die wirklich „böse“ Überraschung für Erdogan in Syrien ist, dass sich im Juli 2012 eine politische Macht unter der Kontrolle von PYD und PKK ganz offen präsentierte und damit die Stütze seiner Politik wegbrach. 

Die Türkei kann diese Krise nicht allein überwinden. Sie muss also ihre Schwäche eingestehen und einen Prestigeverlust hinnehmen. Deswegen ist die Türkei bei den syrischen Oppositionellen, den Staaten in der Region und auch den internationalen Institutionen auf der Suche nach Unterstützung und Hilfe. Mit Blick auf die mögliche Gründung eines autonomen Kurdengebiets im Grenzland muss die Türkei ihr eigenes Kurdenproblem endlich mutig und entschlossen angehen. Aber das ist keine einfache Aufgabe. Weder die Öffentlichkeit noch die Politik sind dazu bereit. Stattdessen ist der Reflex, die Repressionen fortzusetzen, noch immer stark ausgeprägt. Leider sieht es so aus, als würde die Regierung auf Gewalt statt auf Dialog setzen. Für diese Sackgasse trägt der Ministerpräsident die persönliche Verantwortung. Die Öffentlichkeit verschwendet ihre Energien darauf, über das Abtreibungsrecht - das nie ein großes Thema in der Türkei war - zu debattieren, anstatt einen wirklichen Dialog mit den Kurden zu initiieren. Der Türkei gelingt es nicht, sich an die postmodernen Bedingungen anzupassen und sich als Führungsmacht in der Region auf internationalem Niveau zu präsentieren.


Bayram Balcı ist derzeit Visiting Scholar im Carnegie Middle East Program.

Die englische Version dieses Beitrages mit detaillierten Fußnoten ist in der zweiten Ausgabe von "Perspectives – Political analysis and commentary from Turkey" erschienen.