Brasilien: Im Vorfeld der WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016

Brasiliens Stadtverwaltungen wollen die sportlichen Großereignisse für großangelegte städtische Umstrukturierungen ausnutzen. Die Mitglieder des „Comitê Popular da Copa 2014“ versuchen nun, die Gesellschaft zu aktivieren, um das zu verhindern. Ein Gespräch mit Thiago Hoshino, Anwalt der NGO "Terra dos Direitos". ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Lateinamerika.

Herr Hoshino, Sie sind Mitglied eines der Basiskomitees, die sich anlässlich der Fußball-WM 2014 in Brasilien gegründet haben. Was machen diese „Comitês Populares da Copa 2014“?

Es sind Vereinigungen von Aktivist/innen, zu denen soziale Bewegungen und Menschenrechtsorganisation ebenso zählen wie Gewerkschaften und von der WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 betroffene „Comunidades“. Die Basiskomitees wurden gegründet, weil wir realisiert haben, dass die Stadtverwaltungen die beiden sportlichen Großereignisse für großangelegte städtische Umstrukturierungen ausnutzen wollen. Wir versuchen nun, die Gesellschaft zu aktivieren, um das zu verhindern.

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Seit wann gibt es die Basiskomitees?

Bereits im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele von 2007 kam es in Rio de Janeiro zur Gründung eines ersten Komitees – des „Comitê Social do PAN“. Diese Idee wurde 2009 mit der Gründung von „Comitês Populares“ in den zwölf WM-Städten Brasiliens wieder aufgegriffen. Im letzten Jahr haben wir schließlich einen landesweiten Zusammenschluss geschaffen, die „Articulação Nacional dos Comitês Populares da Copa“ (ANCOP). Dafür haben wir einige gemeinsame Ziele definiert, denn obwohl jede der WM-Städte ganz spezifische Probleme hat, gibt es auch Fragen von allgemeinem Interesse – zum Beispiel bezüglich der Auswirkungen bestimmter Gesetze, die eigens für die WM geschaffen wurden und unseres Erachtens zum Teil verfassungswidrig sind.

Eines dieser Gesetze ist das „Rahmengesetz für die Fußballweltmeisterschaft“. Worum geht es in diesem Gesetz?

Die „Lei Geral da Copa“ ist das vielleicht emblematischste Gesetz von allen. Zunächst musste Brasilien dafür 2007 dem „Pflichtenheft“ des Weltfußballverbandes FIFA zustimmen – das ist ein Katalog von Verpflichtungen, denen der brasilianische Staat bedingungslos Folge leisten muss. Im Mai 2012 ist das Gesetz schließlich ratifiziert worden.

Welche Vorschriften im WM-Rahmengesetz halten Sie für besonders problematisch?

Unter anderem die Einrichtung so genannter Ausschlusszonen: Innerhalb eines Radius von zwei Kilometern um die WM-Stadien dürfen nur Partner und Sponsoren der FIFA ihre Dienste anbieten und Waren verkaufen. Dabei gibt es in Brasilien rund um die Stadien traditionellerweise viele Straßenhändler. Ihnen wird durch das Gesetz nun ihre Tätigkeit während der WM untersagt. Unserer Auffassung nach verstößt das gegen die in der Verfassung Brasiliens festgelegten Rechte auf Arbeit und Bewegungsfreiheit. Im Falle von Salvador da Bahia betrifft das zum Beispiel die berühmten „Acarajé“-Verkäuferinnen. Diese „Baianas“ sind ein Wahrzeichen der Stadt. Sie sind aber gut organisiert und protestieren öffentlichkeitswirksam gegen dieses Verbot. Dadurch gibt es zumindest schon einmal eine landesweite Debatte über die Auswirkungen der WM auf die wichtige informelle Wirtschaft.

Es gibt aber anscheinend auch Konflikte um die regulär Beschäftigten?

Ja, das stimmt. Es gibt viele Beschwerden über prekäre Beschäftigungsverhältnisse bei den durchgeführten Bauarbeiten: den Stadienum- und -neubauten, dem Ausbau der Flughäfen und der Verkehrswege. Viele dieser Maßnahmen kommen zudem nicht der Verbesserung der Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen zugute, sondern allein der touristischen Infrastruktur; zum Beispiel wenn die Transportwege zwischen Flughäfen und Stadien ausgebaut werden. Für all das werden Milliarden öffentlicher Mittel ausgegeben – nach offiziellen Angaben sollen es rund 33 Milliarden Reais (ca. 12,2 Milliarden Euro) an Bundesmitteln sein. Für ein Land wie Brasilien mit großen ungelösten sozialen Problemen, zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau, ist das sehr viel Geld.

Welche weiteren Auflagen werden von den Basiskomitees kritisiert?

Schwer wiegt etwa die Privatisierung bestimmter Symbole, Logos und Marken durch ein entsprechendes FIFA-Register beim „Nationalem Institut für Industrielles Eigentum“. Keiner außer der FIFA und ihren Partnern darf diese Marken dann noch benutzen. Es gab schon einen komplizierten Fall bei den Panamerikanischen Spielen 2007, als der Cartoonist Carlos Latuff Ärger bekam, weil er die Besetzung einiger Favelas in Rio de Janeiro durch die Polizei in einer Zeichnung aufgriff und dabei das offizielle Maskottchen benutzte. Das zeigt, wie durch solche Patentregelungen die Meinungsfreiheit beschnitten werden kann – im Scherz heißt es schon, dass die Copacabana bis 2014 nur noch „Soccercabana“ genannt wird, da keiner mehr das Wort „Copa“, Weltmeisterschaft, verwenden darf. Wohl noch problematischer ist die Übernahme des finanziellen Risikos durch den brasilianischen Staat für jedwede Schäden, die der FIFA entstehen könnten. Eine solche Risikoabwälzung ist wirklich absurd.

Neben dem WM-Rahmengesetz wurden noch andere Gesetze abgeändert oder neu verfasst...

Es ist eine lange Liste von Gesetzen, Dekreten, Erlassen oder auch provisorischer Maßnahmen, die auf kommunaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene verabschiedet wurden. Dadurch wird unter anderem nicht nur der FIFA und den WM-Sponsoren Steuerfreiheit gewährt, sondern auch jenen sieben großen brasilianischen Bauunternehmen, welche die öffentlichen Ausschreibungen gewonnen haben.
 
Der Ausschreibungsprozess steht ohnehin in der Kritik. Warum?

Weil Ausnahmeregelungen für öffentliche Ausschreibungen geschaffen wurden – das so genannte „Regime Diferenciado de Contratações Públicas“ (RCD), das letztlich das öffentliche Vergaberecht geradezu umgeht. Es wurde zwar eigens für die Fußball-WM kreiert, aber mittlerweile wird es auch schon in anderen Bereichen eingesetzt. Inzwischen wird fast jedes Bau- oder Infrastrukturprojekt in einer der zwölf Ausrichter-Städte mit der WM begründet oder Umweltverträglichkeitsprüfungen werden vereinfacht, weil sonst angeblich die Fristen für die Fertigstellung nicht eingehalten werden können. Unsere Sorge ist generell, dass all diese Ausnahmebestimmungen am Ende dauerhaft angewendet werden könnten – ähnlich wie in Peking, wo 2008 verschärfte Sicherheitsbestimmungen vorgeblich wegen der Olympischen Spiele eingeführt wurden, aber noch heute gelten. In Brasilien soll nun die Armee zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit während der WM und der Olympischen Spiele eingesetzt werden können.

Und in Rio de Janeiro wurden so genannte UPPs, „Einheiten der Befriedungspolizei“, in einigen Favelas installiert. Was halten Sie davon?

Wenn man es sich genauer anschaut, wird deutlich, dass sich ihre Präsenz auf bestimmte, touristisch interessante Gebiete in der Südzone Rios konzentriert – es wird eine Art Sicherheitsgürtel für die Touristen und Wohlhabenden angelegt. Diese Entwicklung hat schon mit den Panamerikanischen Spielen begonnen und wird mittlerweile auf andere Städte wie Salvador oder Curitiba übertragen.

Aber hat die Strategie der UPPs, dauerhaft in den Favelas zu bleiben, nicht auch Vorteile?

Das ist eine schwierige Debatte, und natürlich gibt es in bestimmten Stadtvierteln eine fragwürdige Kontrolle durch die Drogenhändler. Doch diese werden durch die UPPs nur an den Stadtrand verdrängt, wo es wiederum zu Kämpfen zwischen den einzelnen Drogenbanden um neue Territorien gibt. Es sind also punktuelle Eingriffe, um die Wohngebiete der Reichen zu sichern. Außerdem führt dieser Prozess zu Wertsteigerungen in den betroffenen Favelas, und es kommt dadurch zu Verdrängungen, zumal viele der Bewohner keine legalen Eigentumstitel besitzen. Als eine staatliche Politik ist das unakzeptabel: Der Staat gewinnt die Hoheit über diese Viertel allein durch militärisch-polizeiliche Mittel und kümmert sich weiter kaum um die dort fehlende Infrastruktur wie Schulen, Kindergärten oder Gesundheitseinrichtungen. Das wird auch von vielen Bewohnern und Bewohnerinnen so gesehen.

Sie befürchten, dass diese Vorgehensweise unter dem Vorwand, anders lasse sich keine öffentliche Sicherheit gewährleisten, fortgeführt wird?

Ja. Nehmen wir das Beispiel Brasília: Für die WM sollen allein in der Hauptstadt rund 100 Millionen Reais (ca. 36,9 Millionen Euro) für die Ausrüstung der Sicherheitskräfte ausgegeben werden – von Polizeihunden bis zu Sicherheitskameras, die überall installiert werden. Das ist ein Schritt in die totale Überwachung der Städte, wie es London bei den Olympischen Spielen im Vorjahr schon vorgemacht hat. Das hat auch Auswirkungen auf unsere Fußballkultur: In den neuen Stadien gibt es kaum noch Stehplätze und stattdessen Eintrittspreise, die sich viele nicht leisten können. Der Fußball wird damit zunehmend zur Ware.

Das legendäre Maracanã-Stadion soll sogar privatisiert werden.

Man muss sich das vorstellen: Erst investiert der Staat über eine Milliarde Reais (ca. 369 Millionen Euro) in den Umbau – und im kommenden Jahr soll das Maracanã einem Privatinvestor überlassen werden. In Rio gab es bereits Demonstrationen der Fans gegen die Privatisierung des Stadions, denn das „Maraca“ ist ein innig geliebter Ort, mit dem Viele besondere Momente in ihrem Leben verbinden.

Ein weiterer Fokus der „Comitês Populares“ sind die Menschenrechtsverletzungen durch Zwangsräumungen und -umsiedlungen.

Vom Standpunkt der Menschenrechte her sind die zahlreichen Zwangsräumungen der vielleicht schwerwiegendste Eingriff – nach unseren Schätzungen werden davon mindestens 170.000 Menschen im ganzen Land betroffen sein. Häufig erhalten die Betroffenen gar keine oder viel zu niedrige Entschädigungen. Oder sie werden aus der Innenstadt an den Stadtrand umgesiedelt, an Orte mit schlechter Infrastruktur und Verkehrsanbindung. Es ist ein prinzipielles Problem, dass die Meisten weder Informationen darüber erhalten, was mit ihnen geschehen soll, noch welche Rechte sie haben.

Wie kann sich die Zivilgesellschaft dagegen zur Wehr setzen?

Brasilien ist ein Land, in dem die Durchsetzung eines jeden sozialen Menschenrechts nur durch großen öffentlichen Druck zustande kommt. Auch bezüglich der WM gibt es schon erste Erfolge – allein, dass international über unsere Kritik berichtet wird, ist ein Fortschritt für ein Land, dessen Regierende nichts Negatives hören wollen. Meine Hoffnung ist, dass sich mit dem Druck durch Basisbewegungen von unten und der Unterstützung aus dem Ausland einiges zum Besseren wendet. So hat der UN-Menschenrechtsrat UNHRC zum Beispiel im Vorjahr Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den WM-Vorbereitungen angeprangert und daraus Empfehlungen für die brasilianische Regierung abgeleitet.

Mit welchem Erfolg?

Immerhin wurde daraufhin vom brasilianischen Rat zur Verteidigung der Menschenrechte eine Arbeitsgruppe gebildet, an der die Zivilgesellschaft und die Regierung mitwirken sollen, um eine Studie zum Thema zu erstellen. Das wäre die erste Anerkennung staatlicherseits, dass es bei den WM-Vorbereitungen zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Andererseits weigert sich die Regierung weiterhin, zu anderen wichtigen Fragen Stellung zu beziehen – zum Beispiel zur Einführung von Menschenrechtstandards in Finanzinstitutionen. Denn viele der WM-Baumaßnahmen werden durch staatliche Banken finanziert, vor allem von der Entwicklungsbank BNDES. Hätten diese Banken entsprechende Standards, könnten wir bei Menschrechtverletzungen gegen sie vorgehen.

Wenn man all die Themen nimmt, welche die Basiskomitees anprangern, ergibt sich eine ziemlich umfassende Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Brasilien.

Ich denke, es ist wichtig, dass wir eine Kritik formulieren, die sich nicht nur auf die WM und die Olympischen Spiele bezieht, sondern auf das Entwicklungsmodell, welches Brasilien übernommen hat – ein Modell der Megaprojekte und gewaltiger Investitionen. So wirken einige der Unternehmen, welche am Bau umstrittener Projekte wie dem Wasserkraftwerk in Belo Monte beteiligt sind, eben auch an den WM-Stadien mit. Und gerade diese Bauunternehmen finanzieren zu einem wesentlichen Teil die Wahlkämpfe brasilianischer Politiker. Es geht also um strukturelle Probleme.

Brasilien gibt im Ausland das Bild eines aufstrebenden, ökonomisch starken Schwellenlandes ab, in dem die Menschenrechte geachtet werden – doch mit dem Wirtschaftswachstum entstehen neue Exklusionsprozesse, zum Beispiel Verdrängungen durch die Wertsteigerung bestimmter Wohngebiete. Das zeigt, dass nicht unbedingt alle vom Wirtschaftswachstum profitieren.


Das Interview wurde geführt von Ole Schulz. Er ist Historiker und Journalist (u.a. -taz- und Deutschlandradio Kultur) und regelmäßig in Brasilien. Zurzeit arbeitet er an einer Filmdokumentation über den brasilianischen "Fußballrebellen" Afonsinho.