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Krisenherde: Ausbruchserie und Aufsichtsversagen

Die drei größten aktuellen Krisen der internationalen Politik, der von außen nicht nur nicht zu stoppende, sondern forcierte Bürgerkrieg in Syrien, die hartnäckige Weigerung des Iran, sich dem Diktat zur Beendigung seines Atomprogramms unterzuordnen und die rabiat vorgetragene Forderung Nordkoreas, ihm den Status einer Atomwaffenmacht einzuräumen, haben einen gemeinsamen globalen Kontext. Sie sind Ausbruchsversuche aus der Abhängigkeit, in der diese Staaten durch die Blockordnung gehalten worden waren. Es sind keine isolierten Krisen. Sie alle haben ihre Wurzeln in der Blockordnung, auch wenn sie sich zumeist erst nach deren Auflösung bemerkbar machten.

Der Iran bricht aus

Das erste Anzeichen der jetzigen Krisenkette war der Sturz des diktatorischen Schah-Regimes und die Übernahme der politischen Macht durch das nicht weniger diktatorische Regime der von Khomeini etablierten schiitischen Theokratie. Der Regimewechsel im Iran war nicht mit einem Blockwechsel verbunden. An die Stelle der Vorherrschaft der USA konnte sich keineswegs die Sowjetunion setzen. Das nächste neuartige, die Blocklogik durchbrechende Ereignis war der brutale Krieg zwischen dem Iran und dem Irak. Ab dato ließ sich die Selbstverteidigung des herrschenden Regimes im Iran immer weniger von der Selbstbehauptung des iranischen Staates trennen. Die USA und der Westen, denen mit dem Schah-Regime der wichtigste Verbündete in der Golfregion abhanden gekommen war, setzten nun auf den Irak, der zuvor eher des sowjetischen Einflusses verdächtig war. Dass die Blocklogik nicht mehr richtig funktionierte, zeigte sich daran, dass die kriegführenden Staaten sich einerseits selbst überlassen blieben und zugleich andererseits von allen Seiten mit Waffen beliefert wurden. Die unsicheren Kantonisten sollten sich in dem jahrelangen Krieg gegenseitig schwächen. Damit wurde der Weg Saudi-Arabiens in eine führende Rolle unter den sunnitischen Kräften erleichtert. Heute steht es an der Spitze des regionalen arabischen Bündnisses gegen den Iran. Auch ist seine Unterstützung der islamistisch-terroristischen Kräfte im Irak und in Syrien nicht zu übersehen. Dabei handelt Saudi-Arabien auf eigene Rechnung. Als zuverlässiger Verbündeter der USA und des Westens gegenüber dem Iran wirkt es zugleich unter der Hand als extremistischer und destabilisierender Faktor in der ganzen Region.

Der Irak dreht durch

Durch die weitgehende Unterstützung seines Krieges gegen den Iran verführt und durch seine völlige Überschuldung getrieben versuchte Saddam Hussein die Auflösung der Blockordnung zu einem neuen Überfall auf ein anderes Mitglied der UN zu nutzen und sich das reiche und feudal beherrschte Kuwait als irakische Provinz einzuverleiben. Seine militärische Annexion versuchte Saddam antikolonialistisch und antifeudalistisch zu legitimieren. Der unverhüllte Angriff auf die UN und das Völkerrecht entsprang einer völligen Fehleinschätzung der Situation. Die antikolonialistische Argumentation zielte auf den panarabischen Nationalismus und auf die stillschweigende Billigung durch die beiden Supermächte, die an der kolonialen Grenzziehung in diesem Teil der Welt nicht beteiligt waren. Außer der demonstrativen Unterstützung durch einen Teil der Palästinenser blieb Saddam dieses Mal isoliert. Mit Beifall aus den arabischen Staaten konnte er nicht rechnen. An seiner Stärkung waren sie nicht interessiert. Die beiden Supermächte, der Westen insgesamt, aber auch China schlugen sich in diesem Fall auf die Seite des Völkerrechts und der UN. Unter Führung der USA wurde die Eroberung Kuwaits beendet und zugleich entsprechend der Beschlusslage der UN auf einen „Regimechange“ in Bagdad verzichtet. Diese UN-Treue der USA war richtungsweisend, leider aber nicht stilbildend.

Der Terrorismus schreckt auf

Die UN und die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates hätten daran gehen können, im Rahmen der UN und mit dem Sicherheitsrat als Kräftezentrum eine ausreichende internationale Ordnungsmacht zu konstituieren, um die globale Staatenordnung zu sichern und zu festigen. Die Kriege um die Auflösung Jugoslawiens in seine Republiken oder Großserbien und Provinzen erschwerten zwar Fortschritte auf diesem Weg, waren aber im Wesentlichen doch innerjugoslawische Konflikte. Die politischen und militärischen Interventionen waren im Grunde nicht mehr als die Moderation eines Auflösungsprozesses, dessen Grenzen durch die Existenz der Republik in der jugoslawischen Verfassung schon gezogen waren, auch wenn Serbien sie nicht akzeptieren wollte. Die russische Führung fühlte sich zwar durch die NATO-Intervention im Kosovo übervorteilt und in ihrem Einfluss geschmälert, war sich aber zugleich darüber im Klaren, dass hier für sie nichts zu holen war. Deshalb konnte die Nachkriegssituation wieder in den UN-Rahmen überführt werden.

Und dann kam der 11. September 2001. Dieser brutale Überfall aus dem blauen Himmel änderte die gesamte Situation. Die USA konstruierten eine Bedrohungstrias von internationalem Terrorismus, Schurkenstaaten und Massenvernichtungswaffen, die sich jeder Zeit aktualisieren konnte und den USA ein Selbstverteidigungsrecht in Permanenz einräumte. Beim Angriff auf Afghanistan, wo sich al-Qaida eingenistet hatte, folgte der Sicherheitsrat dieser Argumentation noch und übernahmen die UN nach dem Sturz des Taliban-Regimes die politische Verantwortung. Bis heute hält sich ein gewisser Konsens im Sicherheitsrat im Bemühen um die Stabilisierung Afghanistans. Dass die Stabilität dennoch nicht gesichert werden konnte, zeigt wie schwierig es ist, von außen auf eine latente Bürgerkriegssituation befriedend einzuwirken.

Der damalige rasche militärische Erfolg gegen das Taliban-Regime weckte auf Seiten der USA die bekannten Allmachtphantasien. Zunehmend war von den USA als „einzig verbliebene Supermacht“ die Rede. Als globale Ordnungsmacht müssten sie aus eigenem Recht bereit sein, dem Terrorismus entgegen zu treten, wo immer er sich versteckt. Mit der Entdeckung und Entlarvung der „Achse des Bösen“ wurde die Gefahr eines Kurzschlusses von Schurkenstaaten, globalem Terrorismus und Einsatz von Massenvernichtungswaffen konkretisiert. Der Irak, der Iran und Nordkorea wurden als Glieder einer Kette von Angriffszielen benannt. Das imaginierte Bedrohungsszenario begründete die Selbstermächtigung, notfalls allein oder im Bündnis mit einer Allianz der Willigen im eigenen, aber auch universellen Interesse die notwendigen Selbstverteidigungsschläge zu führen. Der Irakkrieg war der Anfang. Mit ihm wurde unabsichtlich zugleich der Beweis geführt, wie leicht es passieren kann, dass mit dem Sturz des verhassten Regimes zugleich der Staat zertrümmert wird, den das Regime diktatorisch zusammenhielt. Noch immer steht die staatliche Existenz des Irak auf dem Spiel. Er ist ethnisch, religiös und politisch bis zum Zerreißen gespalten.

Die drei aktuellen Krisen

In Syrien stehen die USA und der Westen einerseits, Russland und auch China andererseits auf entgegengesetzten Seiten des Bürgerkrieges. Das macht eine offene Intervention wie in Libyen politisch unmöglich. Zugleich könnte ein gemeinsamer Druck des Sicherheitsrates auf beide Seiten immer noch einen Waffenstillstand herbeiführen. Die jetzige Situation wird im weiteren Verlauf fast zwangsläufig Syrien als Staat zertrümmern. Daran kann nur jemand Interesse haben, der sich von einer Auflösung der Staatenordnung in der Region politischen Nutzen verspricht. Es sind jene islamistischen Kräfte, die von einer Wiedererrichtung des Kalifats träumen, also die Neuauflage eines islamischen Imperiums anstreben. Im Bürgerkrieg in Syrien geht es unterschwellig auch darum, wo das Zentrum eines solchen erneuerten Imperiums liegen sollte. Die entgegengesetzte Politik der Mächte des Sicherheitsrats fördert Entwicklungen, die die Staatenordnung in der ganzen Region gefährden und untergraben. Weitsichtig ist das nicht. Die jeweilige Interessenpolitik ist borniert.

In der Auseinandersetzung mit dem Iran scheinen sich die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und ihr Gefolge die beigeordnete Bundesrepublik verhältnismäßig einig zu sein, wenn gleich ihre Beteiligung an dem Sanktionsregime gegen den Iran unterschiedlich intensiv ist. Für die Atommächte geht es um ihr Monopol auf Atomwaffen. Als Atommächte Druck auszuüben, ein Staat solle grundsätzlich auf die Fähigkeit verzichten, auch nur in die Nähe einer Atombewaffnung zu kommen, ist eine Form der Abschreckung, die bei dem betroffenen Staat nur Trotz hervorrufen kann und das Kalkül fördern muss, auf keinen Fall grundsätzlich auf die Fähigkeit der Gegenabschreckung zu verzichten. So bestärkt gerade das gemeinsame Beharren auf dem Atomwaffenmonopol den Iran darin, nicht grundsätzlich auf die atomare Abschreckungsfähigkeit zu verzichten. Der Irak wurde unter Berufung auf sein Arsenal an Massenvernichtungswaffen angegriffen. Vielleicht wurde er gerade deshalb angegriffen, weil die Angreifer ihrer eigenen Propaganda gar nicht glaubten? Spekulationen ausgesetzt, wie weit das eigene Atomprogramm an die Schwelle der Bombe gelangt sein könnte, dürfte beim Iran die Bereitschaft, dieser Schwelle möglichst fern zu bleiben, nicht eben fördern.

Zur Zeit des Schah-Regimes stand der Iran im Prinzip unter dem amerikanischen Atomschirm. Dennoch wurde das jetzige Atomprogramm schon unter dem Schah eingeleitet. Von Anfang an hatte es Züge eines nationalen Programms. Unter dem wachsenden Sanktionsdruck dürfte es im Iran immer schwerer werden, in der Selbstherrlichkeit des Regimes nicht auch Elemente der Selbstbehauptung des iranischen Staates zu sehen. Wie im syrischen Bürgerkrieg die fehlende Einheit der großen Mächte einen politischen Erfolg unmöglich macht, führt der unterschiedlich intensive, aber immerhin gemeinsame Druck auf den Iran bisher auch zu keinem Erfolg.
Glieder der Achse des Bösen verhalten sich auch böse, teils weil sie böse sind, teils weil sie für böse gehalten werden. Die Blockordnung beruhte auf der Fähigkeit der Supermächte ihre Blöcke zu beherrschen. Das heißt, es herrschte nicht nur Spannung zwischen den Blöcken, sondern auch innerhalb der Blöcke. Nach dem Zerfall der Blöcke und dem Verlust ihrer Schutzmacht entwickelt sich in allen Teilen der Welt eine Tendenz, sich selbst zu behaupten. In extremen Fällen und unter bestimmten Regimen führt diese Tendenz zum Streben nach Atommacht. Diese Bemühung scheint aber keinem Weltherrschaftsstreben zu entspringen, sondern der Absicht, das Regime zu erhalten, und sie als Wille der Selbstbehauptung des Staates in einer unsicheren und feindlichen Umgebung darzustellen.

Es ist das Versagen der großen Mächte, dass sie unter Nichtverbreitung und atomarer Abrüstung nicht den Verzicht auf ihr Monopol verstehen, sondern dessen Verteidigung. Insofern die Atommächte damit gegen den Geist des Nichtverbreitungsvertrages verstoßen, werden sie es immer wieder mit offener oder versteckter atomarer Aufrüstung des einen oder anderen zu tun haben. Nach dem 2. Weltkrieg gab es mit der Gründung der UN eine große institutionelle Friedensinitiative, die auch der Kalte Krieg nicht zerstören konnte. Nach dem Kalten Krieg starteten der ältere Bush und Gorbatschow eine politische Friedensinitiative, der mit der Einordnung der USA in die UN-Ordnung im Kampf für die Verteidigung der Unabhängigkeit Kuwaits auch ein praktischer Schritt entsprach. Doch dann versickerten die Bemühungen. Jede Initiative für eine neue Friedensordnung ging mit der Selbstüberhebung der USA im „Krieg gegen den Terror“ erst mal zu Bruch. Immerhin knüpfen einige Veteranen der amerikanischen Außenpolitik mit ihrer Initiative für die völlige Beseitigung der Atomwaffen an die Impulse der Beendigung der Blockkonfrontation an. Im Großen und Ganzen erschöpft sich jedoch der Friedenswillen der großen Mächte in dem erfolglosen Versuch, die Kleineren und Schwächeren unter Kontrolle zu halten, ohne sich selber zu ändern.