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„Sie haben Srebrenica gewählt, um zu überleben“

Srebrenica in Berlin: Premiere der musiktheatralen Erinnerung „Erwartung_Nada“

Vielleicht ist das alles falsch, vielleicht kann der Mensch doch nicht den Ort seines Todes wählen, genau so, wie er den Ort seiner Geburt nicht wählen kann. Diese Menschen sind ja dort gestorben, wo sie auch zur Welt gekommen sind, wo sie in den Jahren des Krieges Schutz gesucht und gefunden hatten, in der gemeinsamen Agonie des Überlebens, von einem Tag zum nächsten. Sie haben Srebrenica gewählt um zu überleben, und das macht ihren Tod umso schrecklicher…“

Notizen aus der Hölle

Jasmina Hadžiahmetović: Viel Geschichte, viele Geschichten mussten in diese Aufführung hineingestopft werden, dieses Chaos musste erklärt werden.

Während die Klänge des bosnischen Volkslieds „Im schönen, alten Višegrad“ im Dunkeln und in der Stille des bis an den Rand gefüllten Theatersaals langsam die Köpfe und Herzen des Publikums durchdringen und über Video die Chronologie der Geschichte des Balkans gezeigt wird, beginnt mit dem oben zitierten erschütternden Monolog von Emir Suljagić aus seinen „Notizen aus der Hölle“ die Aufführung „Erwartung_Nada“.

Das Stück feierte am 11. Juli 2013 in Berlin seine Premiere, dem 18. Jahrestag des Genozids von Srebrenica, wo 1995 mehr als 8.000 bosniakische Männer und Jungen ermordet wurden. „Erwartung_Nada“, eine „musiktheatrale Erinnerung“, wie Jasmina Hadžiahmetović ihr Stück genannt hat, ist größer, ist gewaltiger und schrecklicher als „gewöhnliche“ Theaterstücke: es setzt sich zusammen aus authentischen Zeugenaussagen von Menschen, die den Krieg in Bosnien überlebt haben. Bei einigen der Protagonisten des Stücks hat der Krieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien tiefe Spuren hinterlassen, Spuren der Gefangenschaft, des Leidens in den Lagern, und der Flucht…All diese Menschen saßen an diesem Abend mit in diesem Saal in Berlin und haben laut geschwiegen und jede Sekunde miterlebt, was sich auf der Bühne ereignet hat. Jasmina hat mit 14 Jahren die Schrecken der Belagerung von Sarajewo erlebt, Emir hat das Massaker von Srebrenica überlebt, Adi Hrustemović, einer der Schauspieler im Stück, musste mit sieben Jahren fliehen...Jadranka Cigelj, deren Buch „Appartement 102“ ebenfalls eine Grundlage für dieses Stücks ist, hat 57 Tage Gefangenschaft im Lager von Omarska überlebt.

Die Tatsache, dass sie von diesen Menschen umgeben ist, dass sie sich mit ihnen gemeinsam auf einer Theaterbühne die Bilder ihres Leids ansieht, welches ihnen auch im Namen der Verfasserin dieser Zeilen einige monströse Angehörige ihres Volkes angetan haben, macht es unmöglich, die Aufführung des Stücks „Nada“ an diesem ersten von insgesamt drei Abenden aus einem rein künstlerischen Winkel heraus zu betrachten. Vielmehr ist es ein ausschließlich historisches Dokument, das in jedem Zuschauer, der zu menschlichen Gefühlen fähig ist, Übelkeit hervorrufen muss, den Verstand hingegen in einen chaotischen Strudel hinabzieht und in seiner Seele Schrecken, Ungläubigkeit und Scham erzeugt.

Was das Gestern heute für uns bedeutet

„Das jüngste Opfer von Srebrenica war ein Säugling, nur wenige Monate alt…Es war nicht einfach, das alles auf einer Bühne wieder zu geben…Zu jedem Zeitpunkt gibt es Menschen, denen aus genau demselben Grund irgendwo Leid zugefügt wird, weil sie anders heißen…viel Geschichte, viele Geschichten mussten in dieses Stück hineingestopft werden, dieses Chaos musste erklärt werden. Wir haben uns zwei Jahre lang damit beschäftigt. Dieses Stück ist aus meiner tiefen Überzeugung heraus entstanden, dass man nicht weiter nach vorne gehen kann, wenn man sich nicht umschaut, um zu sehen, was das Gestern heute für Folgen hat.“, sagte die Regisseurin Jasmina Hadžiahmetović den Berliner Zuschauern.

Vor dem Berliner Publikum, zu dem auch Menschen aus Bosnien gehörten und nicht zuletzt Jasminas liebenswürdige und vornehme Eltern, für die der Krieg Deutschland zur neuen Heimat gemacht hat, entfalten sich Szenen des Grauens. An anderer Stelle des Stücks lässt die Regisseurin die Inszenierung gekonnt in den Hintergrund treten, um den dokumentarischen Texten nichts von der ihnen gebührenden Aufmerksamkeit zu rauben. Und während die Schauspieler aus dem Ensemble der Komischen Oper – Susi Wirth, Jürgen Haug, Maximilian Held sowie Adi Hrustemović, die allesamt eine schwierige und umfangreiche Vorbereitungsarbeit, inklusive Nachhilfeunterricht in blutiger Balkangeschichte hinter sich haben, ihre Rollen meisterhaft spielen, herrscht Krieg auf der Bühne.

Das Publikum verfolgt die Kriegsereignisse über Video, Fernsehbildschirme und auf einem Tisch mit Modellfiguren…Qualvolle und bedrückende Szenen: Vergewaltigungen in Omarska, das Sterben der Menschen in Sarajewo an Hunger oder im Bombenhagel, die Trennung der Kinder von ihren Eltern in Srebrenica, Folterszenen in der Gefangenschaft – all diese Schrecken brachte die Regisseurin in engen quadratischen Holzkisten von einem Quadratmeter zur Darstellung…Eine Öffnung im Bühnenboden, wo ein Totengräber seiner Arbeit nachgeht, dient später auch als Zeugenstand für das Haager Kriegsverbrechertribunal…Parallel zum Spiel wird im Hintergrund eine Wand mit den Todesanzeigen der Ermordeten von Srebrenica und ganz Bosnien beklebt, während Ausschnitte aus einer Rede von Ratko Mladić gezeigt werden, in der der heutige Angeklagte des Haager Tribunals und damalige Befehlshaber der Streitkräfte der Republika Srpska am 11. Juli in Srebrenica, unmittelbar vor dem Massaker, verkündet, es werde „keinem ein Haar gekrümmt“ werden…In diesem Moment erklingt die Instrumentalversion eines bosnischen Volkslieds und lässt einen erstarren… „Warum bist Du nicht mehr…“.

So lässt sich in einen einzigen Atemzug, in eine Theateraufführung von anderthalb Stunden all das Grausame und all das Menschliche eines vierjährigen Krieges hineinstopfen. Auf diese Collage folgt der zweite Teil der Abends, die Erwartung, eine Oper von Schönberg, aufgeführt vom Kammerensemble der Komischen Oper Berlin sowie der Sopranistin Christiane Iven.

Die gewaltige und erschütternde Musik der Oper „klebt“ gewissermaßen auch inhaltlich an den zuvor gezeigten traumatischen Kriegsereignissen in Bosnien – die dokumentarisch gezeigten Fakten werden so durch die Musik nochmals aufgegriffen und fließen in die sehr emotionale Interpretation von Christiane Iven mit ein. In der deutschen Presse hieß es hierzu: „Schönbergs Oper wird als Mittel genutzt, um die schreckliche Erinnerung erst begreiflich zu machen“. Für die Dramaturgie dieses ergreifenden Theatererlebnisses zeichnet Bettina Auer verantwortlich, Hella Prokoph hat das Bühnenbild und die Kostüme gestaltet, bei der musikalischen Gestaltung haben Larsen-Maguir, bei der Videogestaltung Bettina Mosshammer und bei der Produktion Irene Eidinger mitgewirkt.

Warum wir nicht schweigen dürfen

Dank der freundlichen und auch finanziellen Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds und der Heinrich-Böll-Stiftung, allen voran Frau Gudrun Fischer, die es ermöglicht haben, dass dieses Werk aufgeführt werden konnte, fand jeden Abend im Anschluss an die Aufführung eine Podiumsdiskussion mit dem Publikum statt. Abgesehen davon, dass alles bestens organisiert war, könnten viele, insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien, von den Deutschen Mitgefühl lernen – das deutsche Publikum hat die Podiumsdiskussionen aufmerksam verfolgt und sich aktiv an den Gesprächen zu folgenden Themen beteiligt: „Warum dürfen wir nicht schweigen?“, „Wie konnte das geschehen?“, „Auswirkungen des Bosnienkrieges bis heute in den Ländern des Westbalkans“ sowie „Der Kampf junger Menschen und NGOs gegen das Schweigen und Vergessen“…An den Diskussionen nahmen, außer der Regisseurin Jasmina Hadžiahmetović, Jadranka Cigelj aus Zagreb, der Jurist Dr. Dennis Gratz und der Historiker Dr. Nicolas Moll, beide aus Sarajewo, teil. Auch junge Vertreter nichtstaatlicher Organisationen beteiligten sich an den Gesprächen: Saša Gavrić, der Regisseur am SARTR Theater Nihad Kreševljaković und Alma Mašić von der „Youth Initiative for Human Rights“, Sarajewo, sowie die Vorsitzende der Bürgervereinigung „Oštra Nula“ Dražana Lepir aus Banja Luka.

Im Namen der Zukunft

„Als ich aus dem Lager von Omarska zurückkam, hatte ich gebrochene Rippen und erloschene Augen. Es war kein Leben in mir, aber ich hatte meinen Sohn und viele fremde Söhne, in denen ich die Jugend erkannt habe, die die Zukunft unserer Welt sein sollte…Nach dem Lager lebt man mechanisch; wenn man im Schweigen verharrt, wird man zu einem Wesen, das nur vor sich hin vegetiert. Auch andere können woanders, in einem anderen Krieg das Gleiche erleiden, weil man schweigt. Darüber habe ich mit meinen Schwestern im Tode, den Mitgefangenen von Omarska gesprochen. Ich habe angefangen zu sprechen gerade weil ich verstanden habe, dass ich kein Recht habe zu schweigen, im Namen der Zukunft. So ist das Buch „Appartement 102“ entstanden. Ich war vom Hass belastet, dann hat Kleinmut den Hass abgelöst und schließlich ein Nachdenken…Jetzt spüre ich keinen Hass mehr in mir und auch keine negativen Emotionen, denn ich weiß, dass der, der weiter hasst, schlimmer ist, als der, der tötet…“, so der erschütternde Bericht von Jadranka Cigelj bei der Podiumsdiskussion.

Die Verfasserin dieser Zeilen hat als einzige Vertreterin aus Serbien und der Vojvodina an der Diskussion teilgenommen und dabei versucht, den Anwesenden die beschämende Art und Weise deutlich zu machen, wie die Führung in Serbien mit dem Erbe des Mordens, der Vertreibungen und der Kriegszerstörung umgeht, insbesondere mit dem Genozid in Srebrenica. Sie sieht es als ihre menschliche und journalistische Pflicht an, im Namen vieler Bürger Serbiens und der Vojvodina darauf hin zu weisen, dass in ihrem Land leider ein übler Gedanke sein Unwesen treibt, dass nämlich das, worüber man nicht spricht, woran man sich nicht erinnert, zu existieren aufhört.

Sollte die musiktheatrale Erinnerung „Erwartung_Nada“ aber tatsächlich bald einmal in Serbien und in der Vojvodina aufgeführt werden können, dann würde das bedeuten, dass es doch Hoffnung gibt, dass die Opfer nicht noch ein zweites Mal getötet werden, indem man das Verbrechen an ihnen leugnet und sie vergisst.


Übersetzung aus dem Serbischen: Antoinette Janko
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Branislava Opranović

Branislava Opranović wurde in eine multikulturelle Familie in der Vojvodina hineingeboren. Sie studierte Deutsche Sprache und Literatur in Novi Sad und Journalismus in Zagreb. In ihrer Abschlussarbeit an der Fakultät für Politische Wissenschaften in Zagreb setzte sie sich mit Hate Speech in den Printmedien während des Krieges in Ex-Jugoslawien auseinander.

Seit 27 Jahren arbeitet sie als Journalistin u.a. für "Dnevnik", "Nasa Borba", "Danas", "Nezavisni" und "Vijesti" (als Vojvodina-Korrespondentin). Wegen ihrer Antikriegsaktivitäten u.a. bei den „Frauen in Schwarz“ verließ sie den „Dnevnik“, erst nach dem Ende der Milosevic-Ära wollte sie wieder für diese wichtige Tageszeitung arbeiten.

Branislava Opranović arbeitet mit dem Helsinki-Komitee für Menschenrechte und der Ökumenischen Humanitären Organisation zusammen. Neben ihrer journalistischen Arbeit lehrt sie an der Journalistenschule in Novi Sad und der Management-Fakultät Novi Sad. Sie ist Mitautorin des Buches „Novi Sad 1874-1999 – Von der Königsstadt zur Zerstörung“. Opranovic ist Mitglied der Vereinigung Unabhängiger Journalist/innen der Vojvodina und der serbischen Vereinigung gleichen Namens sowie der internationalen Verbände SEEMO und IFJ.