„Als die Bücher noch geholfen haben“ - Biografische Skizzen

Veronika Peters: Wir haben Ihr Buch mehr als eine Begegnung von Politik und Literatur in bestimmten Phasen der Bundesrepublik gelesen, denn als eine persönliche Autobiographie. Wir sind aber auch ins Nachdenken über den Titel gekommen: „Als die Bücher noch geholfen haben?“ Helfen die Bücher denn heutzutage nicht mehr?



Friedrich Christian Delius: Doch, sie helfen immer noch und werden auch in 500 Jahren nicht aufgehört haben zu helfen, davon bin ich fest überzeugt. Ich habe den Titel gar nicht so grundsätzlich gemeint, wie er dann von vielen ernsten Leuten aufgenommen wurde. Habe ihn eher leicht ironisch, spielerisch verstanden und mich dann gewundert, dass mich so viele nach dem Titel gefragt haben. Das gibt mir aber auch die Gelegenheit zu sagen: Natürlich helfen die Bücher heute noch genauso, wie sie es früher getan haben!

Es geht heute ja eher darum, auf welche Weise dem Publikum vermittelt wird, dass es tolle Bücher gibt. Leider sind die Vermittlungsinstanzen in unseren Tagen schwächer geworden: Die Zeitungen, die Presse, der Rundfunk machen das zwar nach wie vor, aber längst nicht mehr in dem Umfang, wie es vor 10, 20 oder 30 Jahren noch üblich war. Es ist schwieriger geworden, die Bücher zu finden, die für einen persönlich die richtigen sind. Es gibt ja keine Massenliteratur, von der man sagen kann: „Leute, lest dieses Buch, es wird euch allen helfen!“ Die hilfreichen Bücher für einzelne Menschen zu finden, ist ein diffiziler Prozess, und dafür ist eine literarische Öffentlichkeit, dafür sind Veranstaltungen wie diese, dafür sind aber auch vor allen Dingen unsere Medien verantwortlich: zu vermitteln, welche Bücher heute wichtig, lesenswert, horizonterweiternd, hilfreich usw. sind. Und den Schrott Schrott zu nennen. Ich rechtfertige den Titel natürlich auch daher, dass ich in meinem Buch von einer Zeit be-richte, in der die Bücher mir besonders geholfen haben, der zu werden, der ich bin, an denen ich mich entwickelt und an denen ich mitgearbeitet habe und die eine gewisse Wirkung hatten.



Sie schreiben, Sie hätten damals keine andere Wahl gehabt, als ein Literaturidealist zu werden. Sind Sie das immer noch?



Ja, das bin ich immer noch.



Was macht einen Literaturidealisten denn aus?



Für mich war die Literatur, die Welt der Bücher, neben menschlichen Beziehungen, von Anfang an das Wichtigste, und so ist es bis heute geblieben. Ich glaube, dass wir hier ein immer noch unterschätztes Medium haben, das uns wie kein zweites auf so kostengünstige Weise die Welt in jeder Hinsicht erschließen kann und mit Erfahrungen und Lebenskunst beliefert. Es ist noch nichts Besseres erfunden worden. Um es mit einem Satz von Arno Schmidt zu sagen: „Wer nicht liest, kennt die Welt nicht.“



Es ist eine interessante Verbindung, die Politik und Literatur in Ihrem Buch eingehen: Einerseits hat die Literatur immer eine politische Dimension, andererseits scheint sie gleichzeitig zu immunisieren gegen jede Form von Dogmatismus. Sehen Sie das als eine spezielle Aufgabe der Literatur, sich einerseits gegen politische Vereinnahmung zu wehren und andererseits doch ihren Beitrag zu leisten?



Mir war das Glück beschieden, dass ich noch vor den 68er-Verengungen und Dogmatisierungen für mich entdeckt hatte, was die Literatur für mich bedeutet. Ich wusste trotz aller politischen Ansprüche: Ich habe mich dank der Literatur aus meinem „Vaterkäfig“ und anderen Zwängen befreit. Für mich ist die Literatur die Nummer eins und ich lasse sie mir nicht instrumentalisieren. Das hat mich geschützt gegen gewisse Ideologisierungen, die viele aus meiner Generation erst einmal durchlitten haben. Ich war immer gegen jede Art von Partei, die meint: „Hier geht es lang und dort geht es überhaupt nicht lang!“ Ich bin niemals in einem dieser Vereine gewesen, dagegen hatte ich, geschult bei Walter Höllerer und Klaus Wagenbach, meinen literarischen Kosmos.



In Ihrer Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises haben Sie gesagt, die Autoren müssten wieder „mehr hinein in den Schmerz und Krach der Welt“. Würden Sie dem zustimmen, dass die Aufgabe der Literatur gerade in unserer Zeit auch darin besteht, dafür zu sensibilisieren, dass es eben keine geraden und einfachen Antworten auf die anstehenden Fragen gibt?



Natürlich ist es eine wichtige Aufgabe der Literatur, Fragen aufzuwerfen, aber Literatur ist kein Massenprodukt und „die“ Aufgabe gibt es nicht. Die Bücher werden von einzelnen Personen an einsamen Schreibtischen verfasst und erst die Summe all dieser Werke wird dann „die Literatur“. Deshalb kann man schlecht sagen: „Es ist die Aufgabe der Literatur …“ Das Schöne an der Welt der Bücher ist ja, dass jeder, der in sich die Fähigkeit spürt, etwas schreiben zu können, ganz alleine entscheidet, worüber und wie er/sie schreibt. Und beim Schreiben denkt man dann doch nicht über „die Aufgaben“ nach. Wenn man dann allerdings fertig ist und das Geschriebene mit etwas Abstand betrachtet, kann es passieren, dass man denkt: Ach, interessant, das könnte ja doch ein Anstoß in diese oder jene Richtung sein. Manchmal merken das auch die Kritiker vor dem Autor, und der Autor wird dann damit überrascht. Deshalb vermeide ich lieber Begriffe und Forderungen allgemeiner Art. Aber Sie haben recht: Literatur, die einfache Antworten liefert, ist keine. Literatur hält die Zugänge zwischen den Menschen offen, beantwortet Fragen mit Fragen und beglückt mit Bildern, Szenen, Zweifeln.



In derselben Rede wenden Sie sich gegen den „Fundamentalismus des Entweder-Oder“. Ist das auch etwas, das die Literatur zu leisten hat: Die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit aufzuzeigen?



Wir leben in einer Welt, die immer mehr „ja oder nein“ sagt, „top oder flop“, „in oder out“, „entweder oder“ … Das kann man überall beobachten: Alles geht nach Ranking, wird eingeordnet, wird hochgepusht oder verdammt. Literatur ist aber das, was genau dazwischen liegt, das, was nicht eindeutig „Ja“ oder „Nein“ sagt. Die uns umgebende digitale Welt läuft auf der rationalen Ebene ab, sie besteht aus Nullen und Einsen, aber Algorithmen sind nicht alles: Die menschlichen Gefühle, Instinkte, Werte, Freiheiten bergen einen viel größeren Reichtum als die Fähigkeit, rechnen zu können und null und eins auseinanderzuhalten. Dahinter öffnet sich der weite Raum der Kunst und Literatur.

Deshalb habe ich kein pessimistisches Zukunftsgefühl für die Literatur, denn eines wird immer gebraucht werden: Das, was zwischen null und eins stattfindet …

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Friedrich Christian Delius ist seit 1978 freier Schriftsteller. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Er erhielt neben zahlreichen anderen Auszeichnungen 2007 den Joseph-Breitbach-Preis und 2011 den Georg-Büchner-Preis.

Veronika Peters ist freie Autorin in Berlin. Seit September 2011 moderiert sie gemeinsam mit Hilal Sezgin Moderatorin den „Literarischen Abend“.