Die türkische Außenpolitik und die Entwicklungen in Syrien – ein Scherbenhaufen

Alltag in einem Flüchtlingslager in Syrien (Atmeh) nähe der Grenze zur Türkei,  März 2013

In der Türkei sind die Tageszeitungen zurzeit voll von Berichten über die Entwicklungen in Syrien. Es verging in den Tagen seit Bekanntwerden des Giftgaseinsatzes kein Tag, an dem ein Regierungsvertreter sich nicht dazu äußerte. Verfolgt man allerdings die Sonderberichte in den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF über die Haltung der internationalen Staatengemeinschaft zu einem möglichen Eingreifen in Syrien, so stellt man eines mit großem Erstaunen fest: von der Haltung der türkischen Regierung war mit keinem Wort die Rede. Berichtet wird über die USA, Großbritannien, Russland, Israel und - mit Verlaub - über die in dieser Krise nichtssagenden Worte der Bundeskanzlerin. Die Position der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte in den Anrainerländern hingegen, allen voran der Türkei, werden mit keinem Wort erwähnt.

Es ist aus Sicht der Türkei sehr bedauerlich, dass die CDU in der Auseinandersetzung um die Eröffnung von Flüchtlingsheimen für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien nicht deutlich die Stimme für die Flüchtlinge erhebt. Zur Information: die offizielle Anzahl der Syrer und Syrerinnen, die in der Türkei Schutz suchen, beträgt derzeit etwa 500.000. Davon leben etwa 210.000 Menschen in Zeltlagern, 290.000 Menschen kämpfen täglich ums Überleben. Sie wohnen in überfüllten Wohnungen, bis ihnen das Geld ausgeht. Dann bitten sie auf den Straßen um Hilfe. In Deutschland wird protestiert, wenn ein paar Hundert Menschen aufgenommen werden sollen und die Kanzlerin schweigt – möglicherweise, um sich die Rechtsaußen-Klientel bei der Bundestagswahl nicht zu verkraulen.

Auch bei den Spekulationen über mögliche Folgen eines Militäreinsatzes wird ein sehr eingeengter Blickwinkel präsentiert: es werden sich Sorgen über die Stärkung von al-Qaida-nahen Kreisen in Syrien gemacht, die Entwicklungen im Libanon und die Sicherheit in Israel. Es geht hier nicht darum, diese Sorgen in irgendeiner Weise in Zweifel zu ziehen. Aber das Ausblenden der Sorgen und Ängste der anderen unmittelbaren Nachbarstaaten und deren politischen Analysen und Positionen ist doch erschreckend und ignorant.

In diesem Beitrag sollen daher die unterschiedlichen Positionen der politischen Akteure in der Türkei dokumentiert werden.

Türkische Regierung wirft westlicher Staatengemeinschaft Doppelstandards vor

Nicht erst seit den Gezi-Protesten in der Türkei fiel die türkische Regierung, allen voran Ministerpräsident Erdogan, dadurch auf, dass man den Eindruck gewann, er habe nicht nur die Lage nicht begriffen. Erdogan und Vertreter seiner Regierung machten das Ausland, die Europäische Kommission, die vermeintliche Zinslobby und die internationale Presse für die Proteste verantwortlich. Sie hätten diese von langer Hand geplant. Erneut wendete das internationale Ausland erstaunt und kopfschüttelnd den Blick gen Ankara, als Ministerpräsident Erdogan und seine Gefolgschaft sich zu den jüngsten dramatischen Entwicklungen in Ägypten äußerten. Die türkische Regierung warf der „westlichen Staatengemeinschaft, den USA und Europa“ Doppelstandards vor, weil diese das Einschreiten des Militärs nicht als Putsch bezeichneten. Sie legte dann aber noch nach und versteifte sich zu der Behauptung, dass Israel hinter den Entwicklungen in Ägypten stecke. Es wimmelte in der jüngsten Vergangenheit folglich von Verschwörungstheorien der Regierungsspitze, die man ansonsten eigentlich nur aus stark nationalistischen und rechtslastigen Zeitungen der Türkei kennt.

Die türkische Regierung, allen voran Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Davutoglu, forderten unmittelbar bei Bekanntwerden des jüngsten Giftgaseinsatzes in Syrien die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln gegen das Regime Assad auf. Die türkische Regierung machte von Anfang an Assad für den Giftgaseinsatz verantwortlich. In seiner Rede in Rize am 25. August bezichtigte Ministerpräsident Erdogan erneut den Westen des Doppelstandards und betonte, wir werden die muslimischen Brüder nicht im Stich lassen. Erdogan griff den UN Sicherheitsrat an: „Wie kann die Welt zusehen? Es werden 100 Tausend Menschen getötet. Wo ist dieser UN Sicherheitsrat? Warum hört man deren Stimme nicht? Sie erfreuen sich daran“. Ähnlich forderte auch Davutoglu ein Eingreifen des Westens gegen das Regime in Syrien. Davutoglu forderte ein militärisches Vorgehen nötigenfalls auch ohne UN Sicherheitsratsbeschluss. Die Türkei werde nach Davutoglu in einer solchen Koalition mit von der Partie sein. Sie sei auf einen derartigen Militäreinsatz vorbereitet.

Außenminister Davutoglu, der schon seit langem ein Einschreiten gegen das syrische Regime fordert, macht in seiner Rede vor drei Tagen (27.8.) die internationale Staatengemeinschaft mit für den Chemiewaffeneinsatz verantwortlich. Erst das passive Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft habe diesen ermöglicht. Würden nun die Verantwortlichen des Chemiewaffeneinsatzes nicht bestraft, so käme dies einer Einladung zur Nachahmung gleich.

Während die türkische Regierung sich weiterhin als Motor in der Region darstellen will, weicht Außenminister Davutoglu schrittweise von seinem Drängen auf rasches Eingreifen in Syrien zurück. Die Türkei werde in Abstimmung mit der internationalen Staatengemeinschaft handeln, heißt es nun. Dabei verfolge die Türkei, so Außenminister Davutoglu, folgende Prioritäten: „Wir sind entschieden, unsere aktive Politik im Rahmen der folgenden zwei Prioritäten fortzusetzen, dass das Verbrechen gegen die Menschheit an unseren syrischen Brüdern sofort gestoppt und die Verantwortlichen bestraft werden. Zweitens ist die Sicherheit und die Interessen der Türkei Priorität der Türkei“. Nach Rückkehr aus Saudi Arabien vor zwei Tagen, am 28.8.2013, betonte Davutoglu, dass die Türkei bisher keine Politik des Regime-Wechsels betrieben habe. Die Türkei werde zusammen mit anderen Staaten vorgehen, dies bedeute aber nicht, dass sie sich zum Spielball der Interessen anderer Staaten machen werde (vgl. cnnturk.com).

Experten fordern ein Ende der religiös-ideologisch geprägten Außenpolitik

Intellektuelle und ehemalige Diplomaten der Türkei sehen hingegen seit Wochen die Außenpolitik der türkischen Regierung als gescheitert an. Die harschen Äußerungen von Ministerpräsident Erdogan über die vermeintliche Rolle Israels in Ägypten habe die westlichen Verbündeten gegen die Türkei aufgebracht und die Türkei zunehmend in die Isolation getrieben. Während die Türkei die gesamte westliche Staatengemeinschaft als Heuchler brandmarkte und beschimpfte, weil diese sich nach Ansicht der türkischen Regierung nicht klar und deutlich gegen das militärische Vorgehen in Ägypten stellten, forderte die gleiche Regierung nun von eben diesen Staaten ein gemeinsames militärisches Vorgehen gegen Syrien. Die Türkei habe ihre Glaubwürdigkeit auf internationaler Ebene vollkommen verspielt.

Experten fordern die Regierung auf, ihre religiös-ideologisch geprägte Außenpolitik einzustellen. Die Türkei solle davon absehen, religiös-politische bis hin zu radikal-islamistischen Gruppen zu unterstützen. Sie solle sich darauf besinnen, dass sie der westlichen Staatengemeinschaft angehöre. Solange die Türkei weiter Gruppen wie Al-Nusra Unterstützung gewähre, wird die westliche Staatengemeinschaft in Distanz zur Türkei bleiben. Insgesamt fordern die Kommentatoren die Regierung dazu auf, mehr Zurückhaltung zu wahren, keine populistische Politik zu betreiben und gemeinsam mit den westlichen Verbündeten zu versuchen, Saudi Arabien, Qatar sowie Iran zu gemeinsamem Handeln zu bewegen (Taraf Gazetesi, 30.8.2013).

Der CHP-Vorsitzende, Kemal Kilicdaroglu bereiste jüngst den Irak, um, wie er sagte, das zerstörte Image der Türkei in der Region wieder zu verbessern. Er fordert von der AKP, sich nicht auf eine Seite zu stellen und insbesondere keine religiös motivierte Politik zu betreiben. In Bezug auf einen möglichen Militäreinsatz gegenüber Syrien fordert er, die Ergebnisse der UN-Untersuchungskommission abzuwarten. Die CHP würde einen Einsatz dann befürworten, wenn dieser vom internationalen Völkerrecht legitimiert sei.

Syrien und die Kurdenproblematik

Seit Mitte August wird in den türkischen Zeitungen von Gefechten zwischen den Kurden und radikal-islamistischen Gruppen in Syrien berichtet. Gleichzeitig wird jedoch auch davon berichtet, dass die PKK-nahe PYD im Norden Syriens – an der türkischen Grenze – eine autonome Verwaltung aufgebaut habe. Dies wiederum rief Sicherheitsbedenken der türkischen Regierung hervor.
Der Co-Vorsitzende der PKK-nahen syrisch-kurdischen Partei PYD, Salih Muslim, war daher Mitte August mehrfach in der Türkei. Türkischen Presseberichten zufolge habe die türkische Regierung die PYD zur Kooperation mit dem syrischen Nationalrat aufgefordert. Salih Muslim hingegen stellte in Interviews dar, dass diese Besuche als vertrauensbildende Maßnahmen zu verstehen seien und die PYD Unterstützung der Türkei in der Flüchtlingsfrage eingefordert habe. Unter anderem sei das Öffnen der Grenzen und das Liefern von humanitären Hilfsgütern gefordert worden. Wiederholt wird in den türkischen Medien die Behauptung aufgestellt, dass die Regierung der Türkei radikal-islamische Gruppen, insbesondere auch diejenigen, die in den kurdischen Gebieten agierten, unterstütze. So betonte der Fraktionsvorsitzende der BDP gestern, er könne sogar Name und Adresse von Al-Nusra-Anhängern nennen, die im Grenzgebiet Ceylanpinar wohnen.

Salih Muslim bezweifelte in der vergangenen Woche in Interviews mit türkischen Tageszeitungen, dass die syrische Regierung hinter den Chemiewaffeneinsätzen stecke (vgl. radikal.com.tr). Die PYD trete entschieden gegen einen Militärschlag gegen das syrische Regime ein. Denn mit einem Militärschlag könnten die Chemiewaffen nicht zerstört werden. Ein Militäreinsatz würde das Risiko nur erhöhen, dass die Regierung Assad diese dann einsetze und Syrien dem Erdboden gleichmache.

Die pro-kurdische BDP tritt gegen einen Einsatz des türkischen Militärs in Syrien ein. Zurückhaltung sei geboten, solange das Ergebnis der UN-Untersuchungskommission nicht vorliege. Die BDP kritisiert das vorschnelle Agieren der türkischen Regierung, ruft zur Besonnenheit und Abstimmung der internationalen Staatengemeinschaft auf. In jedem Fall fordert die BDP gegebenenfalls einen gesonderten Parlamentsbeschluss für einen Militäreinsatz. Der Beschluss des Parlamentes aus dem Vorjahr, welcher Anfang Oktober ausläuft, rechtfertige einen derartigen Einsatz nicht. Die Oppositionsparteien im Parlament kündigten bereits an, einer Ermächtigung des Militärs nicht zustimmen zu wollen und erinnern die türkische Regierung an das Fiasko vom 1. März 2003, als das Parlament mit Stimmen aus der Regierungspartei gegen den Antrag der Regierung stimmte.

Die Sorgen vor den Folgen eines Militärschlages für die Türkei

Nachdem die Möglichkeit eines Militärschlages immer wahrscheinlicher wurde, macht sich in der Türkei die Sorge vor Übergriffen auf die Grenzgebiete der Türkei breit. Ähnlich wie in Israel sorgen sich die Menschen in der Grenzregion vor Giftgaseinsätzen des Assad-Regimes oder aber vor Bombenanschlägen wie vor wenigen Monaten auf den Marktplatz in Reyhanli.
Die Bevölkerung in der Grenzregion wäre einem derartigen Einsatz schutzlos ausgesetzt. Gasmasken, Bunker oder andere Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung gibt es in der Grenzregion nicht. Und auch die halbe Million syrischen Flüchtlinge auf türkischem Territorium wären möglichen Angriffen schutzlos ausgeliefert.

Der von der Tageszeitung Milliyet geschasste Kolumnist und Experte Hasan Cemal beschrieb in der unabhängigen Netzzeitung T24 treffend, welche Fragen die Menschen in der Türkei bezüglich eines Militäreinsatzes in Syrien bewegen:

„Das Gewissen fordert einen dazu auf, diesem Blutvergießen Einhalt zu gebieten. Aber die Frage, wie dieses Blutvergießen beendet werden kann, ist nicht beantwortet. Blickt man auf die Einsätze der westlichen Staatengemeinschaft, so ist das Ergebnis nicht überzeugend. Ist ein kurzer Schlag, von dem diese Tage dir Rede ist, überhaupt denkbar? Oder führt ein Militäreinsatz nicht notwendig zu einem langen Einsatz wie in Afghanistan – und mit welchem Ergebnis? Welcher Staat verfolgt welches Ziel? Könnte ein militärisches Vorgehen die Situation in Syrien nicht noch verschlimmern?

Und in Bezug auf die Türkei: Wäre die Türkei auch von einem Chemiewaffeneinsatz bedroht? Würden durch einen solchen Einsatz radikal-islamische Kräfte gestärkt werden? Wie würde sich dies auf die Türkei auswirken? Würde das sensible Gleichgewicht zwischen Alewiten und Sunniten in der Türkei dadurch beeinflusst werden? Wäre der gesellschaftliche Frieden in der Türkei dadurch gefährdet?

Was genau passiert in Rojava, dem syrischen Kurdistan? Besteht die Möglichkeit, dass die radikal-islamischen Gruppen um Al-Nusra die Oberhand gewinnen? Wir würde sich dies auf die sowieso am seidenen Faden hängenden Friedensgespräche in der Kurdenfrage der Türkei auswirken? Welche Auswirkungen hätte dies auf die Demokratisierung der Türkei?“  (vgl. www.t24.com.tr)

Für die Türkei hängt viel von den Entwicklungen im Nachbarland Syrien ab.

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Ulrike Dufner ist Leiterin unseres Büros in Istanbul.