Die Erosion der internationalen Normen im Syrien-Konflikt

Abtransport chemischer Waffen aus Syrien per Schiff
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Frachtschiffe transportieren nahe Zypern im Rahmen der Operation Recsyr (REmoval of Chemical weapons from SYRia) chemische Waffen aus Syrien; Februar 2014

Kaum eine Krise hat die Staatengemeinschaft und ihre Institutionen auf eine härtere Probe gestellt als die Entwicklungen seit Beginn der syrischen Revolution. Der UN-Sicherheitsrat ist blockiert, die Arabische Liga gespalten, die EU und die USA sind ratlos. Dieses Versagen bekommen Millionen von Syrerinnen und Syrern täglich am eigenen Leibe zu spüren. Über ein Drittel der syrischen Bevölkerung befindet sich auf der Flucht, die Vereinten Nationen haben nach weit über 100.000 Toten aufgehört zu zählen, und Zehntausende befinden sich im Gefängnis oder sind verschwunden, oft seit ein, zwei Jahren. Die Nachbarstaaten leiden unter den wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Auswirkungen der Flüchtlingsströme, und weil sich die eigene Gesellschaft zum Teil polarisiert. Syrien droht, zur größten humanitären Katastrophe des neuen Jahrhunderts zu werden. Darüber hinaus schürt dieser Konflikt das sunnitisch-schiitische Schisma in der islamischen Welt, was wiederum Saudi-Arabien und andere Golfstaaten immens destabilisieren könnte.


Vergebliche Vermittlungsversuche

Die Arabische Liga und die UN haben in den vergangenen drei Jahren Beobachtermissionen entsandt und versucht, in dem Konflikt zu vermitteln. An der Lage in Syrien hat sich dadurch jedoch nichts verändert. Die von vielen Staaten als legitime Vertretung der syrischen Bevölkerung anerkannte „Nationale Koalition“ ist zerstritten und kann weder substantiellen Einfluss auf das Kampfgeschehen nehmen, noch für humanitäre Erleichterungen sorgen.

Die Weltgemeinschaft hält an einer ausschließlich politischen Lösung fest, obwohl sich gezeigt hat, dass das kategorische Ausschließen einer militärischen Intervention konfliktverschärfend gewirkt hat. Der Mangel an internationaler Unterstützung hat dazu beigetragen, dass Teile der Opposition sich bewaffnet oder radikalisiert haben. Das syrische Regime wiederum hat immer dann neue Eskalationsstufen eingeleitet, wenn deutlich wurde, dass es dafür keine ernsthaften Konsequenzen zu fürchten hat. Neuralgische Punkte sind hier Juli 2012, als US-Präsident Barack Obama erstmals über den Einsatz von Chemiewaffen als Grenze des Tolerablen („Rote Linie“) sprach, und September 2013, als sich nach einer abrupten Eskalation der Rhetorik abzuzeichnen begann, dass der Einsatz von Chemiewaffen nicht zu einer Intervention führen würde. Damit verhält sich das syrische Regime ähnlich wie in den vergangenen Jahrzehnten, in denen es lediglich in zwei Situationen einlenkte: 1998 gab Hafez al-Assad, angesichts einer massiven militärischen Drohung durch die Türkei, seine Unterstützung für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) auf. 2005 zog sich das syrische Militär nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafik Hariri aufgrund einer glaubhaften internationalen Drohkulisse aus dem Libanon zurück.

In diesem Beitrag geht es um die Wechselwirkung zwischen dem innersyrischen Geschehen und den internationalen Reaktionen, insbesondere im Hinblick darauf, welche Auswirkungen die Handhabung des Konfliktes auf internationale Normen hat. Angesichts dessen, wie schwer Menschenrechte und das Völkerrecht in Syrien verletzt werden, droht die Handlungsunfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, allgemein anerkannte Normen zu unterminieren und die mit ihnen befassten Institutionen zu schwächen.


Die „Rote Linie“ – Juli/August 2012

Als Barack Obama am 23. Juli 2012 den Einsatz chemischer Waffen zur „roten Linie“ erklärte, wurde dies von der syrischen Regierung augenscheinlich als grünes Licht für den Einsatz aller anderen Mittel verstanden. Binnen weniger Monate dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) die Verwendung verschiedener Waffen, die keine Differenzierung zwischen Kämpfern und Zivilisten zulassen und deren Einsatz damit völkerrechtswidrig ist: Im August 2012 kamen erstmals die sogenannten Barrel Bombs zum Einsatz, mit Sprengstoff gefüllte Fässer. Diese improvisierten Bomben sind extrem zerstörerisch und werden von Hubschraubern aus insbesondere über dicht besiedelten Gegenden oder Wohnvierteln abgeworfen. Zwischen August 2012 und Februar 2013 wurden außerdem mindestens 119 Orte von Streubomben getroffen. Ebenfalls im August 2012 wurden erstmals systematische Angriffe der syrischen Luftwaffe auf Zivilisten belegt, bei denen die langen Warteschlangen vor Bäckereien bombardiert wurden.

Seit März 2013 mehrten sich jedoch auch die Meldungen, dass an verschiedenen Orten Syriens in kleinerem Stil Chemiewaffen zum Einsatz gekommen seien. Dieser Sachverhalt, von Le Monde-Reportern akribisch recherchiert[1],  jedoch zunächst nicht durch die UN bestätigt, wurde im August 2013 zum Politikum, als über 1.000 Menschen in der Ghouta, dem Umland von Damaskus, durch chemische Kampfstoffe umkamen. Obwohl sich gerade UN-Inspektoren im Lande befanden, um die vorangegangenen Chemiewaffenangriffe zu untersuchen, erhielten diese erst Tage später auch Zugang zum betroffenen Gebiet.

In den wenigen Tagen, in denen alles auf eine Intervention hinauszulaufen schien, gab es signifikante Bewegung und Absetzungsversuche innerhalb des Militärs, und das Regime räumte wichtige Stellungen. Doch auch die Dschihadistenformation „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ (ISIS) stellte ihre Aktivitäten weitgehend ein – in der Annahme, dass ein Militärschlag sie ebenfalls treffen würde.

Es war eine überraschende Wendung, dass sich stattdessen Russland und die USA darauf verständigten, gemeinsam mit der Regierung in Damaskus das syrische Chemiewaffenarsenal zu zerstören. Direkt danach, seit August 2013, wurden deutlich mehr Fassbomben eingesetzt – ein Umstand den Valerie Szybala vom Washingtoner Institute for the Study of War damit begründet, dass das Regime „die Wirkung des Einsatzes von Chemiewaffen nachahmen wolle“, also eine ähnlich große Opferzahl in strategisch wichtigen Gebieten wie Aleppo oder den Vororten von Damaskus zu erzielen.


Die Genfer Friedenskonferenz (Genf II)

Im Lichte der Genfer Friedensverhandlungen im Januar und Februar 2014 erfolgte eine weitere Eskalation. Der Konferenz vorausgegangen war das systematische Aushungern vieler Ortschaften. Dies führte dazu, dass von internationaler Seite humanitäre Fragen fast gleichrangig mit dem eigentlichen Konferenzthema – dem Beginn einer Machtübergabe an eine Übergangsregierung, wie in Genf I (Juli 2012) vorgesehen – diskutiert wurden. Syrische Menschenrechtsorganisationen beziffern die Zahl der Toten allein während der neun Konferenztage auf über 1.800. Im Vorfeld und während der Konferenz wurden deutlich mehr Fassbomben über der Stadt Aleppo abgeworfen und, wie HRW dokumentierte, größere Clusterbomben als je zuvor eingesetzt[2]. Derweil folterte das syrische Regime den Sohn eines prominenten christlichen Oppositionspolitikers zu Tode und beschlagnahmte nach dem Scheitern der Verhandlungen Konten und Besitz von zuvor geduldeten Oppositionsmitgliedern in Syrien.

Trotz einer UN-Resolution zu humanitärer Versorgung erklärte sich das Regime lediglich zu einigen Gesten in diesem Bereich bereit und machte keine verbindlichen und allgemein gültigen Zusagen. Ähnliches gilt für die Waffenstillstände, die in einigen Orten wie Barzeh oder Moadhamiya ausgehandelt wurden: keiner weiß, wie lange sie gültig sind, und es gibt keine Bestrebungen, sie in weiterreichende Pläne zu einer Befriedung des Landes umzusetzen.


UN: Blockiert

Die UN legte in Zusammenarbeit mit der Arabischen Liga im März 2012 den sogenannten Sechs-Punkte-Plan vor, der ein Ende der Kampfhandlungen vorsah. Trotz verbaler Zusagen wurde dieser nicht umgesetzt und im Mai desselben Jahres für gescheitert erklärt. Eine UN-Beobachtermission wurde im Juni 2012 ausgesetzt. Im gleichen Monat verständigten sich die UN-Vetomächte auf Verhandlungen zwischen den syrischen Konfliktparteien mit dem Ziel einer Übergangsregierung. Die entsprechende Konferenz, Genf II, fand jedoch erst Anfang 2014 statt.

Aufgrund der gegensätzlichen Positionen verschiedener Mitglieder des Sicherheitsrates ist die UN in der Syrien-Frage weitgehend blockiert. Erst im September 2013 verabschiedete der Sicherheitsrat erstmals seit Beginn der Revolution eine Resolution. Diese regelt die Zerstörung der syrischen Chemiewaffen. Selbst zu humanitärer Hilfe einigten sich die Mitglieder erst im Februar 2014 auf die erste Resolution, jedoch jeweils, ohne dass verbindliche Sanktionen festgeschrieben wurden.

Bei den Differenzen zwischen den Sicherheitsratsmitgliedern geht es offensichtlich um übergeordnete Interessen. Russland, das sich schon länger weltpolitisch nicht mehr auf Augenhöhe wahrgenommen sah, fühlte sich bei der UN-Resolution 1973 (2011) zur Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen getäuscht. Aus Moskaus Sicht autorisierte diese kein militärisches Eingreifen wie es letztlich stattfand. Die russisch-syrischen Beziehungen, seit 1990 eher kühl, hatten sich 2005 verbessert, als Syrien wegen seiner Einmischung in innerlibanesische Angelegenheiten international isoliert war. Doch erst ab März 2011 erfolgte eine strategische Neuauflage der einstigen Partnerschaft.

Für Russland stellt Syrien ein auf internationaler Ebene wichtiges Faustpfand dar. Das syrische Regime seinerseits war zur Niederschlagung des Aufstands auf Russland als schützende Veto-Macht in der UN und auf russische Waffenlieferungen angewiesen. Die USA verfolgten innerhalb der UN einen gänzlich anderen Kurs als Russland. Zudem war ihre Politik wenig konsistent. Zwar forderten US-Vertreter mehrfach den Rücktritt Bashar al-Assads, und punktuell sowie temporär belieferten die USA außerhalb dieses Rahmens Rebellen via Jordanien mit Waffen, die von den Golfstaaten erworben wurden. Sie engagierten sich jedoch weder qualitativ noch quantitativ auf eine Weise, die das Kräfteverhältnis in Syrien zugunsten der Opposition hätte entscheiden können oder dem Umfang der materiellen Unterstützung, die das Regime aus Russland und dem Iran erhält, nahekäme. Die Handlungsunfähigkeit der UN angesichts der eklatanten Verstöße gegen das Völkerrecht in Syrien schwächt ihr Ansehen.


Die Arabische Liga (AL): Gespalten

Die Arabische Liga (AL) schien mit dem Beginn der arabischen Revolutionen zu neuem Leben zu erwachen. Sie entsandte 2011 eine Beobachtermission nach Syrien und bot an, zwischen Regierung und Opposition zu vermitteln. Während die politischen Bemühungen der AL nicht erfolgreicher als die anderer waren, trafen die wirtschaftlichen Sanktionen Syrien – im Zusammenspiel mit den EU-Sanktionen – empfindlich. Im November suspendierte die AL die syrische Mitgliedschaft und beschloss im März 2012, dass der syrische Sitz durch die Opposition wahrgenommen werde. Zwei Jahre später, im März 2014, erklärte Generalsekretär Nabil al-Arabi jedoch, der Sitz bleibe vakant bis die Koalition sich institutionalisiert habe.
 

EU: Auf Sanktionen setzen

Die EU verurteilte die Gewalt in Syrien und setzte im Wesentlichen auf Sanktionen. Seit Mai wurde einzelnen Vertretern des Regimes die Einreise in die EU verboten und ihre Konten gesperrt. Anfang 2012 begannen EU-Mitgliedsstaaten ihre Botschaften in Damaskus zu schließen. Im September erließ die EU ein Importverbot für syrisches Erdöl und untersagte europäischen Firmen neue Investitionen in der Ölförderung. Nach Frachtflügen wurden im November 2012 auch Personenflüge eingestellt.

Bei einigen der Sanktionen gelangte die EU später zu der Einschätzung, dass diese weniger die Regierung als die Opposition treffen könnte. Um letzterer die Versorgung der Bevölkerung in den von ihr eroberten Gebieten zu erleichtern, lockerte Brüssel das Ölembargo im April 2013. Im Juni 2013 wurde auch das bis dahin geltende Waffenembargo nicht verlängert.


Schutzverantwortung

Seit Beginn der 1990er Jahre ist in Bezug auf die Souveränität der Nationalstaaten verstärkt die Frage diskutiert worden, inwieweit sich aus dieser lediglich Rechte ableiten lassen, oder ob damit nicht vielmehr auch Verpflichtungen einhergehen – konkret, die Verpflichtung, die eigene Bevölkerung zu schützen. Sofern ein Staat hierzu nicht in der Lage sei, gehe diese Verpflichtung auf die internationale Gemeinschaft über. Die Schwäche des Konzeptes offenbart sich jedoch am Falle Syriens: Die Internationale Koalition für die Schutzverantwortung betont, dass Schutzverantwortung kein unilaterales militärisches Handeln – oder das Handeln einer ‚Koalition der Willigen‘ – autorisiere. Militärisches Eingreifen auf dieser Grundlage müsse vom UN-Sicherheitsrat autorisiert werden. Dies führt folglich zum einem der Grundprobleme des Syrien-Konfliktes zurück: der Blockade des UN-Sicherheitsrates.


Chemiewaffenkonvention

Dass die syrische Regierung über Massenvernichtungswaffen verfügte, war ein offenes Geheimnis. Damaskus selbst hatte den Besitz nie bestätigt, ihn aber 2012 indirekt zugegeben, als es erklärte, diese lediglich für "die Verteidigung gegen fremde Mächte" bereitzuhalten[3]. Über mehrere Monate gab es 2013 immer wieder Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen an verschiedenen Orten Syriens. Le Monde-Reporter legten glaubhafte Hinweise darauf vor, dass Chemiewaffen zum Einsatz gekommen seien. Boden- und Gewebeproben wurden von französischen Staatsinstituten positiv auf Sarin getestet. Doch erst am 21. August 2013 gab es hier einen Wendepunkt: Innerhalb weniger Stunden tauchten am frühen Morgen zahllose Videos auf der Internetplattform YouTube auf, die Opfer eines Chemiewaffenangriffs in der Ghouta, der Umgebung von Damaskus, zeigten. Ein UN-Bericht bestätigte später, dass es sich bei den eingesetzten Kampfstoffen um Chemiewaffen aus den Beständen des syrischen Regimes handelte.

Am 4. September 2013 wurde eine schrittweise Vernichtung der syrischen Chemiewaffenbestände eingeleitet. Das Abkommen wurde international begrüßt. Die Organisation zum Verbot Chemischer Waffen (OPCW) erhielt im Lichte dessen sogar den Friedensnobelpreis.

Inwieweit dies als Stärkung internationaler Normen gesehen werden kann, ist fraglich: Dass Syrien der CW-Konvention bis dahin nicht beigetreten war, erleichterte den Einsatz chemischer Kampfstoffe. Obwohl es kaum Zweifel an der Urheberschaft der Angriffe gibt, gibt es keinerlei Bestrebungen, den Angriff zu ahnden. Dass das Regime der Konvention zu diesem Zeitpunkt beitrat, war taktisch klug – eine Möglichkeit, mit der das Regime seine Legitimität nur deswegen stärken konnte, weil es eben nicht schon früher beigetreten war. Insofern ließe sich aus dem Verlauf auch folgern, dass es klüger sein kann, sich so lange wie möglich von internationalen Übereinkommen fernzuhalten. Dies liefe nicht auf eine Stärkung, sondern eine Schwächung von Normen hinaus.

Aus ethischer Sicht gibt es weitere kritische Punkte an der Vereinbarung: Die Verhandlungen zwischen Russland und den USA geben dem Regime bis zur vollständigen Auslieferung des Arsenals eine Daseinsberechtigung, so dass der Zeitplan dementsprechend längst im Verzug ist. Die USA und Europa stehen vor dem Dilemma, eine Absetzung eben jenes Regimes zu fordern, auf dessen Kooperation, ja sogar dessen militärische Erfolge sie angewiesen sind, da der vereinbarte Abtransport der chemischen Komponenten von Giftgasen sonst nicht stattfinden kann. Vertreter der syrischen Opposition wurden nicht in die Verhandlungen einbezogen.

Auch drängt sich die Frage auf, wie innerhalb weniger Tage der Zugang für Chemiewaffeninspektoren ausgehandelt werden konnte, während es vergleichbare Vereinbarungen auf der humanitären Seite nicht gibt, und warum nicht ähnlich vehement auf das Ende der ebenfalls völkerrechtswidrigen Fassbombenabwürfe gedrängt wird.


Neutralität humanitärer Hilfe

Die syrische Regierung kommt ihrer Verpflichtung, humanitären Organisationen Zugang zu gewähren, damit diese unparteiisch Hilfe leisten können, nicht nach. Ganz im Gegenteil scheint es ihre Strategie zu sein, die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung zu verschlimmern und Notlagen zu verschärfen. Luftschläge treffen täglich Gebiete, die schon lange nicht mehr unter Regimekontrolle stehen, die zivile Infrastruktur wird zerstört, und ganze Landstrichen werden bewusst ausgehungert – eine Taktik, der schon Hunderte zum Opfer gefallen sind. Eine der verheerendsten Folgen war, dass Polio, 1995 in Syrien ausgerottet, in den befreiten Gebieten Syriens wieder ausbrach. Die Regierung hatte ihre Impfkampagne im Nordosten des Landes bereits 2010 aus politischen Gründen eingestellt. Im Zuge der allgemeinen Zerstörung medizinischer Infrastruktur, und den hygienischen Bedingungen, unter denen viele Menschen mittlerweile leben, breitete sich Polio aus. Die WHO interpretierte die Notwendigkeit, ausschließlich mit der syrischen Regierung zusammenzuarbeiten, so weitgehend, dass sie versuchte, die türkische Regierung daran zu hindern, Proben aus Syrien dort zu untersuchen[4].

Medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal in Syrien standen von Anfang an im Fadenkreuz des Regimes. Bereits in den ersten Wochen der Revolution wurden Demonstranten, die Schussverletzungen erlitten hatten, in den Krankenhäusern verhaftet, Ärzte und Pflegepersonal wurden bedroht oder getötet. Da es Teil der Regimestrategie ist, die Aufständischen durch das Schüren humanitärer Not in die Knie zu zwingen, ist nicht anzunehmen, dass sie ernsthaft Hilfe im ganzen Land unterstützt. Dies zeigen auch die Berichte über die Umsetzung von UN-Resolution 2139, die lediglich sporadisch geschieht[5]

Die Diskussion darüber, dass humanitäre Hilfe in die "falschen Hände" gelangen könnte, zeigt auf bedenkliche Art und Weise, dass das Ideal der Neutralität, dem humanitäre Hilfe verpflichtet ist, als universeller Wert in Frage gestellt wird. Das ist nicht nur aus ethischer Sicher problematisch, sondern bedeutet konkret eine Gefährdung humanitärer Helfer, da diese folglich auch nicht mehr als neutral angesehen werden.


Schlussfolgerungen

Die internationale Gemeinschaft hat sich bislang außerstande gezeigt, entscheidende Schritte hin zu einer Lösung des Konfliktes in Syrien zu erreichen. Dies zeigt die Schwäche internationaler wie regionaler Organisationen. Die Blockade des UN-Sicherheitsrates verhindert ein gemeinsames, zielgerichtetes politisches Handeln zur Konfliktbearbeitung, obwohl klar ist, dass in Syrien eklatante Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverbrechen stattfinden. Auch die Bemühungen der AL und der EU haben keinen spürbaren Einfluss genommen. Kurz: es gibt keine Anzeichen, für eine zeitnahe Befriedung Syriens, was die Region weiterhin destabilisieren wird. Dies unterstreicht noch einmal, wie dringend notwendig institutionelle Reformen der UN sind – auch wenn diese für Syrien sicherlich zu spät kommen.

Zwar sind innerhalb Syriens salafistische Gruppen die schlagkräftigsten und sichtbarsten unter den bewaffneten Akteuren. Die große Masse der Opposition besteht jedoch aus moderaten und demokratischen Kräften. Diese haben aufgrund westlicher Zurückhaltung kaum Zugang zu Ressourcen und Unterstützung gehabt, was radikalen Akteuren in die Hände gespielt hat. Gruppen wie ISIS, aber auch mildere Ausprägungen salafistischer Strömungen haben die Lücke gefüllt, die der Westen aus Furcht vor ihrem Erstarken erst entstehen ließ. Bedenken bezüglich radikalislamistischer Kräfte haben in den vergangenen Jahren überdies zu einer Erosion grundlegender humanitärer Werte in der Debatte geführt, so dass auch nicht staatliche Organisationen Schwierigkeiten haben, humanitäre Hilfe in nicht mehr von der Regierung kontrollierten Gebieten zu leisten.

Eine tragfähige Lösung muss politisch ausgehandelt werden. Ein militärisches Eingreifen explizit auszuschließen, hat den Konflikt jedoch verschärft. Die Gewalteskalation offenbart nicht nur die Schwächen internationaler Organisationen, vielmehr trägt sie selbst dazu bei, das Vertrauen in die UN, in internationales Recht und allgemeingültige Werte, wie humanitäre Hilfe, auszuhöhlen.
 

 

Referenzen

[1] Jean-Philippe Rémy: "Chemical Warfare in Syria", in: Le Monde, 27.05.2013.

[2] Human Rights Watch: "New, Deadly Cluster Munition Attacks", 19.02.2014. Ausweislich des Berichtes wurden diese Geschosse am 12./13. Februar, also während der zweiten Gesprächsrunde der Genf II-Konferenz, in der Nähe von Hama eingesetzt.

[3] “Syria Threatens Chemical Attack on Foreign Force”, in: New York Times, 23.07.2012.

[4] Annie Sparrow: "Syria’s Polio Epidemic", in: New York Review of Books, 20.02.2014.

[5] Aryn Baker: "For Syrians, social Media is more useful for the U.N. Security Council", in: Time, 24.03.2014.

 

Literatur

Petra Becker: "In Syrien Taten statt Worte. Warum die Militäroption in Syrien nicht vom Tisch genommen werden darf"; Bundeszentrale für Politische Bildung, 2013

Talal Nizameddin: "Putin's New Order in the Middle East"; London/Hurst, 2013.

Christoph Reuter: "Zwischen den Fronten", in: Der SPIEGEL, 1/2013, S. 77-83. Online verfügbar als E-Publikation.

Emile Hokayem: "Syria's Uprising and the Fracturing of the Levant" in: Adelphi Series, No. 438 (2013), Washington: International Institute for Strategic Studies.
 

Weiterführende Links

Institute for the Study of War

Brown Moses Blog

Heinrich von Arabien - Blog der Büroleiter/innen der Heinrich- Böll-Stiftung im Nahen Osten und in Nordafrika.

Carnegie Endowment for International Peace

 

Dieser Artikel erschien bereits auf der Webseite des Bundesministeriums für Verteidigung am 30. April 2014.

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