Ich durfte das erste Mal wählen! Kein Wunder also, dass ich die größte Wahl der Welt mit besonderem Interesse beobachtete. Aktive Wählerin zu sein bedeutet, dass ich meine Abgeordneten bestimmen und mich so indirekt an der Regierung meines Landes beteiligen kann. Ich kann meine Zukunft mitgestalten. Eine Zukunft, in der Indien ein wirtschaftlich entwickeltes Land ist, eine Zukunft, in der alle Menschen Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser, Kanalisation, Wohnungen, Elektrizität und anderen grundlegenden Leistungen haben, eine Zukunft, in der rund 250 Millionen jungen Menschen der wachsenden Mittelschicht ihren Traum von einer besseren Zukunft verwirklicht haben, und vor allem eine Zukunft, in der die Regierung tatsächlich demokratisch und frei von Korruption regiert.
Wahlbeisitzer in den entlegendsten Orten des Landes
Das erste, was mich überrascht hat, war das schiere Ausmaß der Wahl: 543 Parlamentssitze waren zu vergeben und rund 800 Millionen Wähler konnten abstimmen, das ist mehr als die Bevölkerung von ganz Europa. Und dann die sehr unterschiedliche Macht und Sitzverteilung der indischen Bundesstaaten im Parlament: Nagaland, Mizoram und Sikkim haben jeweils nur einen einzigen Sitz, während ein gigantischer Bundesstaat wie Uttar Pradesh 80 Sitze belegt. Wie würde die Wahlkommission das alles rein organisatorisch schaffen: die Wahlmaschinen in die Wahllokale zu bringen? Wie würde sie es schaffen für Sicherheit zu sorgen und all die anderen logistischen Herausforderungen in einem riesigen Land, einem Subkontinent?
Auch in die abgeschiedensten Regionen wie Ladakh im Bundesstaat Jammu und Kashmir, hoch in den Bergen auf 2.900 bis 5.400 Metern gelegen, wurden Wahlurnen gebracht. Und sei es auch nur für zehn Wähler, wurden die Wahlbeisitzer eingeflogen oder sie nahmen tagelange Reisen auf sich, um zu den Wählern zu gelangen. Langsam begann ich zu verstehen, warum die Wahl in neun Phasen stattfand, die sich über fünf Wochen erstreckten – vom 9. April bis zum 15. Mai.
Gerangel der Parteien und Attacken für Parteigegner
Der Wahlkampf war geprägt von Gerangel der Parteien, die ihre Positionen erklärten und ihre Gegner attackierten. Seit 30 Jahren wird Indien von Koalitionen regiert und die letzte Einparteien-Regierung endete im Jahr 1989. Auch dieses Mal glich die Wahl einem Schwergewichtsboxkampf: In der einen Ecke des Rings der amtierende Champion, die herrschende United Progress Alliance (UPA), angeführt von der Kongresspartei, und in der anderen Ecke der Herausforderer, die National Democratic Alliance (NDA), angeführt von der Bharatiya Janata Party (BJP). Der BJP gelang quasi schon vor der ersten Runde ein bemerkenswerter Schlag, als sie Narendra Modi, Chief Minister von Gujarat, als Premierministerkandidaten in den Ring schickte.
Die Kongresspartei, die sich nur zögerlich hinter ihren PM-Kandidaten Rahul Gandhi stellte, war damit bereits unter Druck geraten. Die BJP-Kampagne ganz im US-amerikanischen Stil, nutzte das komplette Portfolio an Print-, elektronischen und sozialen Medien. Die Rhetorikkünste – oder besser deren Abwesenheit – des amtierenden Premierministers Manmohan Singh und der führenden Köpfe der Kongresspartei Sonia und Rahul Gandhi, standen ebenfalls in scharfem Kontrast zu dem wortgewaltigen Modi.
Die UPA, seit 2004 an der Regierung, sah sich massiven Vorwürfen gegenüber: Politische Fehlentscheidungen, aber auch der Mangel an Entscheidungen überhaupt wurden ebenso zum Thema wie Korruption. Was die Menschen jedoch wohl am meisten gegen die Regierungsparteien aufbrachte war, dass sie ihre Versprechen nicht hielten. Und während sich die BJP auf nach vorne gerichtete Aufgaben wie wirtschaftliche Entwicklung, Wachstum, Arbeitsplätze, Preisstabilität und Hoffnung auf eine bessere Zukunft allgemein konzentrierte, führte die Kongresspartei einen Negativwahlkampf, der sich an der Vergangenheit von Narendra Modi festbiss. In den Fokus rückte Modis Rolle in den Godhra-Aufständen, bei denen im Jahr 2002, in Modis Amtszeit als CM von Gujarat, etwa 800 Muslims zu Tode kamen.
"Die indische Parteienlandchaft vom BJP-Tsunami schlichtweg plattgemacht"
Das heißt nicht, dass die BJP nicht auch ihre spalterische und klientelorientierte Agenda verfolgte. Die Stratifizierung der indischen Gesellschaft entlang unterschiedlichster Linien – sei es Kaste, Religion, Ethnie, Geographie oder andere – war nie so offensichtlich wie während der Wahlen. Und gleichzeitig war die Einheit des Landes nie so offensichtlich: jung und alt, reich und arm, Männer wie Frauen begeisterten sich aller Gräben zum Trotz für diesen Sturm der Demokratie und in der Schlange vor den Wahllokalen schienen alle Unterschiede verschwunden.
Die Spannung endete am 16. Mai – obwohl die elektronischen Wahlmaschinen, die die Ergebnisse in Sekundenschnelle liefern, ja wenig Spannung übrig lassen: Die BJP und ihre NDA-Koalitionspartner hatten die überwältigende Mehrheit der Wähler hinter sich versammelt und damit alle echten und selbsternannten Experten widerlegt. Obgleich die meisten Wählerumfragen am Wahltag einen Vorsprung von BJP und NDA erahnen ließen – mit einem solchen Erdrutschsieg hatte kaum jemand gerechnet. Die BJP allein gewann 282 Sitze und hat zusammen mit den Koalitionspartnern insgesamt 336 Sitze. Die Kongresspartei wurde auf 44 Sitze zusammengestaucht und konnte in den Bundesstaaten Rajasthan, Gujarat, Delhi, Himachal Pradesh, Goa, Jharkhand, Tamilnadu und Odisha nicht einen einzigen Sitz halten. Noch nie zuvor war die Grand Old Party Indiens in einem solch jämmerlichen Zustand gewesen. Die neu gegründete Aam Admi Party mit ihrer Anti-Korruptionsagenda, die in den Ratswahlen in Delhi im Dezember 2013 so gut abgeschnitten und damit die Erwartungen der mittleren und unteren Schichte geschürt hatte, war von den Wählern abgestraft worden, weil sie sich geweigert hatte, trotz des Wählermandats Regierungsverantwortung zu übernehmen. Von einigen Regionalgruppierungen wie AIIDMK in Tamil Nadu, TMC in West Bengal und BJD in Odisha abgesehen, war die indische Parteienlandschaft vom BJP-Tsunami schlichtweg plattgemacht worden.
"Kann der Sieger die Erwartungen und Träume von 1,2 Milliarden Menschen erfüllen?"
Jetzt, wo der Siegesrausch vorbei ist, steht der Sieger vor einer enormen Herausforderung: das Regieren. Kann er die Erwartungen und Träume von 1,2 Milliarden Menschen erfüllen? Gelingt es ihm, die unbändige Energie und Vitalität der Jugend Indiens so zu kanalisieren, dass sie das Land zu hohem Wirtschaftswachstum führt? Das indische BIP ist in den vergangenen Jahren fast auf die Hälfte geschrumpft: von 9 auf unter 5 Prozent. Das Industriewachstum ist sogar im Negativbereich. Ausländische Investoren, die sich vor einigen Jahren noch an der Tür zu Indien die Klinke in die Hand gaben, haben ihr Vertrauen in die indische Wachstumsgeschichte verloren.
Kann der neue Premierminister die Hindutva-Ideologie, den Hindu-Nationalismus, der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) zügeln und die kulturelle und religiöse Diversität Indiens fördern, wie es Atal Bihari Vajpayee, einer seiner Vorgänger in der BJP und einer der beliebtesten Premierminister in der Geschichte Indiens, gelungen war?
Die Abwesenheit einer glaubwürdigen und starken Opposition, eine tragende Säule jeder stabilen Demokratie, legt der BJP und ihren Koalitionären eine noch größere Verantwortung auf. Kann sie diese Verantwortung schultern? Auch die Herausforderungen, die Indien in den volatilen Verhältnissen der regionalen Geopolitik meistern muss, verlangen enormes diplomatisches Geschick und politische Antworten.
Während die endgültigen Antworten zu diesen Fragen noch in weiter Ferne liegen, werden wir doch in nächster Zukunft schon ahnen können, wohin die Reise Indiens gehen wird. Mehr dazu in meinem nächsten Blogpost.
Gedanken einer Erstwählerin
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