Tschechische Grüne nach Europawahl: "Kampagne konnte Wählerschaft nicht mobilisieren"

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Ondřej Liška (Archivbild von 2010)

Ondřej Liška war Vorsitzender der tschechischen Grünen. Eva van de Rakt, Büroleiterin der Stiftung in Prag, traf ihn zum Gespräch.

Ondřej, die tschechischen Grünen haben mit einem Ergebnis von 3,8 Prozent die Fünfprozenthürde verfehlt, die in Tschechien auch bei den EP-Wahlen gilt. Wie bewertest du euer Ergebnis?

Das Ergebnis ist ein eindeutiger Misserfolg. Als Spitzenkandidat der Grünen und als Parteivorsitzender war ich dafür in erster Linie verantwortlich und deshalb habe ich mich unmittelbar nach der Wahl für meinen Rücktritt entschieden. Uns ist es nicht gelungen, die 160.000 Wählerinnen und Wähler, die uns bei der Parlamentswahl im Herbst 2013 gewählt haben, für die EP-Wahlen zu gewinnen. Dabei muss man erwähnen, dass dies keiner einzigen Partei geglückt ist – die Wahlbeteiligung von knapp 18 Prozent war nach der Slowakei die zweitniedrigste in der EU. Am besten haben wir, wie auch bei anderen Wahlen, in Prag mit sieben und in Brünn mit sechs Prozent abgeschnitten. Außerdem haben wir auch im Bezirk Liberec ein gutes Ergebnis von 4,5 Prozent erzielt, was sicherlich auch damit zusammenhing, dass wir bei diesen Wahlen mit der „Bewegung Veränderung“ zusammengearbeitet haben, die vor allem in Liberec bekannt ist. In den übrigen Wahlbezirken bewegten sich die Ergebnisse zwischen zwei und vier Prozent, was im Vergleich zu den vorgezogenen Neuwahlen im Herbst 2013 ein leichter Anstieg ist. Auch wenn wir im Gesamtergebnis nicht erfolgreich waren, ist eine leicht steigende Tendenz zu erkennen. Erwähnen muss man auch, dass wir beim gegenwärtigen System der Stimmauszählung ein Mandat erhalten hätten, wenn bei diesen EP-Wahlen – wie auch in Deutschland – nicht die Fünfprozenthürde gegolten hätte. Wir haben gegen die Fünfprozentklausel beim Obersten Verwaltungsgericht eine Beschwerde eingereicht.

Das Oberste Verwaltungsgericht hat eurer Beschwerde vor einigen Tagen Recht gegeben und dem Verfassungsgericht für die EP-Wahlen die Aufhebung der Fünfprozenthürde vorgeschlagen. In Tschechien wird nun diskutiert, ob den Grünen und Piraten doch noch jeweils ein Mandat zugeteilt werden könnte. Wie realistisch ist das aus deiner Sicht?

Auch wenn das Verfassungsgericht über die Verteilung der Mandate entscheidet, wird dies im rechtlichen Sinne nicht rückwirkend gelten, weil die Entscheidung des Gerichts nur eine aktuelle Beschwerde betrifft. Das heißt, dass das Gericht darüber urteilen muss, wie der Schaden behoben werden kann, der der Wählerschaft der Piraten und Grünen zugefügt wurde. Hierbei muss es entscheiden, was ein gravierenderer Verstoß gegen die Gerechtigkeit ist: Die Wegnahme und neue Zuteilung zweier Mandate oder die Aufhebung der Fünfprozenthürde für die Zukunft ohne Korrektur in der Gegenwart. Allein die Tatsache, dass sich das Oberste Verwaltungsgericht mit unserer Beschwerde einverstanden erklärt hat, gibt unseren Argumenten Gewicht. Dennoch denke ich, dass es im Hinblick auf die  Zusammensetzung und bisherige Arbeitsweise des Verfassungsgerichts eher unwahrscheinlich ist, dass es den Piraten und Grünen Mandate zuteilen wird. Nichtsdestotrotz sind Stimmen aus dem juristischen Bereich zu vernehmen, die meinen, dass das Verfassungsgericht so handeln sollte.

Die Piraten haben mit 4,8 Prozent nur knapp die Fünfprozenthürde verfehlt. Im Europäischen Parlament würden die tschechischen Piraten und Grünen dieselbe Fraktion wählen. Warum hatten diese beiden Parteien für die EP-Wahlen keine gemeinsame Liste?

Mit der Piratenpartei haben wir vor den Wahlen verhandelt, weil uns gerade bei den EP-Wahlen eine Zusammenarbeit auch aus Sicht der Wählerschaft naheliegend und verständlich erschien. Die Piraten waren aber nicht für eine gemeinsame Liste zu gewinnen und lehnten eine Zusammenarbeit ab. Die Piratenpartei hat dabei meiner Meinung nach einen Fehler begangen – gemeinsam hätten wir sehr wahrscheinlich zwei Mandate erhalten, wodurch die Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament gestärkt worden wäre. 

Im Herbst stehen in Tschechien Kommunal- und Senatswahlen an, danach wird ein neuer Parteivorstand gewählt werden. Wie wird es mit den tschechischen Grünen weitergehen?

In den fünf Jahren als Parteivorsitzender ist es mir meiner Meinung nach gelungen zu erreichen, dass die SZ keine Partei eines Mannes oder einer Frau ist. Ich sehe um mich herum zahlreiche sehr fähige Politikerinnen und Politiker mit langjährigen Erfahrungen in der Kommunalpolitik, die in der Lage sind, die Parteiführung zu übernehmen. Die Tatsache, dass sie auf gesamtstaatlicher Ebene noch nicht so bekannt sind, muss kein Nachteil sein – im Gegenteil, es könnte sogar ein Vorteil sein. Ich lege den Parteivorsitz zu einem Zeitpunkt nieder, in dem wir auf einige Teilerfolge zurückblicken können: Die Partei hat Senatoren sowie Mandate in den Regionalparlamenten gewonnen und ist finanziell abgesichert. Die parteiinternen Diskussionen orientieren sich an Inhalten und verlaufen konstruktiv. Die Wahlergebnisse der Grünen sind in meiner Zeit als Vorsitzender gestiegen – da dies aber nicht schnell genug erfolgt, bin ich zurückgetreten, um Raum für neue Impulse zur weiteren Entwicklung und Stärkung grüner Politik in Tschechien zu schaffen.  

Wie interpretierst du das Gesamtergebnis der EP-Wahlen in Tschechien?

Vor allem die Wahlbeteiligung war skandalös niedrig. Sie ist ein Signal für die Verfassung der Gesellschaft und Politik. Dafür gebe ich vor allem den etablierten Parteien die Verantwortung, die entweder gar nicht über Brüssel oder über Brüssel als Ursache allen Übels sprechen. Diese Parteien dürfen sich dann nicht wundern, wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht mit glänzenden Augen zu den Wahlurnen eilen. Die etablierten Parteien sind unfähig zu erklären, warum die europäische Integration für uns lebenswichtig ist und warum wir über die Zukunft der EU mitentscheiden sollten. Positiv ist, dass die fremdenfeindliche und rassistische Partei „Morgendämmerung der direkten Demokratie“ von Tomio Okamura nicht erfolgreich war. Auf der anderen Seite haben die „Freiheitlichen“ Svobodní knapp die Fünfprozenthürde übersprungen. Diese Partei hat ihre Kampagne auf falschen Behauptungen über die Europäische Union aufgebaut und wird mit ihrem gewonnenen Mandat die Nationalisten und destruktiven Kräfte wie UKIP stärken. Die Regierungsparteien vereinten weitaus weniger Stimmen auf sich wie sie erwartet hatten. Ich bezweifle allerdings, dass sie daraus irgendwelche Lehren ziehen werden.

Insgesamt wird deutlich, dass vor uns noch ein langer Weg der Europäisierung liegt – der postkommunistische Erwägungsrahmen und die Passivität der Bürgerinnen und Bürger sind tiefer verwurzelt, als wir dachten.

Ging es im Wahlkampf um europäische Themen?

Bis auf Ausnahmen, wie zum Beispiel auch in unserem Wahlkampf, ging es nicht um europäische Themen. Die Botschaft der grünen Kampagne „Tschechien nach vorne, eine grüne Stimme nach Europa“ trug einen positiven Gedanken in sich – nämlich die Idee einer sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Modernisierung, die sich in unserem Programm widerspiegelte. Unsere Schlüsselthemen waren u.a. die Nutzung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, Energieautarkie und die Demokratisierung der EU. Thematisiert haben wir auch die Gefahren, die mit der Ukraine-Krise verbunden sind. Klar ist aber, dass die Wirkung dieser Kampagne nicht unseren Erwartungen entsprach und wir es nicht vermochten, unsere Wählerschaft zu mobilisieren. Auch anderen Parteien ist dies nicht geglückt, wie z.B. der sozialdemokratischen ČSSD, die zwar Mandate erzielte, mit dem Slogan „Wir möchten in Europa in der ersten Liga spielen“ aber weit hinter den Erwartungen blieb. Paradoxerweise waren andere Parteien relativ erfolgreich, die auf Slogans ohne konkrete Inhalte bauten – wie z.B. die TOP 09 mit „Pfeift nicht auf Europa“ oder die Piraten mit „Europa ist unser Meer“. Man kann daraus schließen, dass die Wählerinnen und Wähler sich nicht wirklich durch konkrete europäische Themen angesprochen fühlen. Es ist sicherlich wichtig danach zu fragen, wie damit bei den nächsten Wahlen umgegangen werden kann. Wir müssen darauf reagieren. Aber wir werden uns nie auf Populismus oder Marketing ohne Inhalt einlassen.

Vor zehn Jahren trat Tschechien der EU bei. Die Mitgliedschaft sehen heute viele Bürgerinnen und Bürger kritisch. Warum?

Die tschechische Gesellschaft hat eindeutig von der EU-Mitgliedschaft profitiert – wirtschaftlich, sozial und auch in Bezug auf den Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz. Die Tschechische Republik hat es aber nicht geschafft, alle Möglichkeiten zu nutzen, die ihr die Europäische Union bietet. Von den EU-Fonds wurde in der letzten Finanzierungsphase nicht einmal die Hälfte ausgeschöpft. Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Mittel wurde für zweifelhafte, nicht transparente und unwirtschaftliche Projekte eingesetzt. Die tschechische Regierung hat in der Vergangenheit vollkommen unsinnige und einsame Positionen in Isolation mit Großbritannien eingenommen, obwohl dies überhaupt nicht im Interesse der tschechischen Bürgerinnen und Bürger war. Die größte Hürde zur Entwicklung der tschechischen Gesellschaft und zur Nutzung der Möglichkeiten, die die EU bietet, sind wir Tschechen selbst. Wir haben eine Reihe unerledigter Aufgaben vor uns – wie zum Beispiel die Einführung des immer noch nicht vorhandenen Beamtengesetzes, obwohl dessen Einführung eine Bedingung unseres EU-Beitritts war. Wie können wir eine gut und transparent funktionierende staatliche Verwaltung haben, wenn wir nicht in der Lage sind, ihr unabhängiges Funktionieren zu gewährleisten?

Wie wertest du das gesamteuropäische Ergebnis?

Die rechtsextremen Parteien haben weniger Mandate gewonnen, als vor den Wahlen angenommen wurde – das ist sicherlich eine gute Nachricht. Allerdings sollten wir diese Parteien nicht unterschätzen und Strategien gegen den zunehmenden Rechtsextremismus in Europa entwickeln.

Besonders freut mich der Erfolg grüner Parteien in anderen Ländern – gerade dort, wo wir nicht automatisch mit so guten Ergebnissen bzw. einem Zuwachs an Stimmen gerechnet haben: in den Niederlanden, Großbritannien oder Kroatien. Das gibt Hoffnung, dass die Grünen im Europäischen Parlament relevant bleiben und auch weiterhin ein Motor für Veränderungen sein werden, die eine offenere und nachhaltigere Union zum Ziel haben. In fünf Jahren haben wir wieder die Chance, auch aus Tschechien eine grüne Stimme nach Brüssel zu schicken.

Europa steht an einer Wegkreuzung und weder die europäischen Christdemokraten noch die europäischen Sozialisten haben die nötige Energie und den nötigen Mut, notwendige Veränderungen einzuleiten. Die Grünen sind eine Hoffnung für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger, die sich nach diesen Veränderungen sehnen.  

Ondřej, wir danken dir für das Gespräch.