Russland: Sie halten sich zäh

Besetzung der Duma Juli 2014
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Besetzung der russischen Staatsduma im Juli 2014 - aufgerufen dazu hatte der Blogger und Aktivist Alexei Navalny

Die russischen NGOs sind Wladimir Putin schon lange ein Dorn im Auge. Seit Jahren versucht er ihre Arbeit mit immer neuen Gesetzen zu verhindern. Doch die Organisationen sind widerspenstiger als der Kreml erwartet hatte. Eine Bestandsaufnahme.

Seit Wladimir Putin vor nun schon fast 15 Jahren russischer Präsident wurde, versucht er - sehr erfolgreich - alle autonomen politischen Subjekte in Russland der direkten Kontrolle des Staates, besser noch des Kremls zu unterwerfen. In Wirtschaft und Politik ist das weitestgehend gelungen. Bei den Massenmedien zum Großteil auch. Bleiben nur die NGOs. Sie haben sich als am widerständigsten erwiesen. Das hat unterschiedliche Gründe.

Erstens galten NGOs im Kreml lange nicht als sonderlich gefährliche politische Bedrohung. Das änderte sich kurzzeitig 2004/2005, als der Kreml vor allem bei der sogenannten Orangenen Revolution in der Ukraine aus dem Ausland finanzierte NGOs als wichtige treibende Kraft der politischen Veränderungen betrachtete. Doch hielt diese seinerzeit stark übertriebene Angst vor der Möglichkeit ähnlich „umstürzlerischer Machenschaften“ in Russland nur recht kurz an. Danach, etwa ab Ende 2006 und bis zur Protestwelle gegen Wahlfälschungen und die Wiederwahl von Wladimir Putin zum russischen Präsidenten im Winter 2011/2012, blieb das Verhältnis zwischen Staat und NGOs ambivalent.

Seit Putins Machtantritt schwankt es zwischen Misstrauen gegen alle autonome und potentiell eigenständige politische Subjekte (die aus seiner Sicht streng kontrolliert gehören) und der Erkenntnis, dass NGOs eine ganze Reihe wichtiger sozialer und politischer Funktionen ausfüllen, die der Staat nicht oder nicht mehr gewährleisten kann. Außerdem avancierten die NGOs zu einem nützlichen - ja mitunter notwendigen - Kommunikationskanal in die Gesellschaft, nachdem der Kreml die Pressefreiheit weitgehend abgeschafft und die ohnehin schwachen und dysfunktionalen politischen Parteien gleichgeschaltet hat.

Bürokratische Monster

Das Überleben unabhängiger NGOs wurde bis heute durch ihre große politische und institutionelle Lernfähigkeit gewährleistet. Unter dem staatlichen Druck der vergangenen 15 Jahre ist die NGO-Arbeit in Russland professioneller geworden. Das gilt insbesondere für die Einhaltung der vielen unübersichtlichen Verwaltungsakte, die zu wahren bürokratischen Monstern aufgebläht sind. Vor allem Juristen/innen, Buchhalter/innen, Geschäftsführer/innen, die die NGOs beraten oder in ihnen arbeiten, aber auch viele Aktivist/innen sind schlicht besser als die staatliche Verwaltung. In einem  legalistischen Staat kostet diese ständige Professionalisierung die NGOs zwar viel Kraft und Ressourcen, aber sie verschafft, solange es sich nicht um frontale Angriffe handelt, immer wieder Raum und Zeit.

Der dritte Grund für die besondere Widerstandsfähigkeit der NGOs in Russland sind die Staatsmänner und –frauen, die vom eigenen Zynismus geleitet hinter jedem und allem irgendwelchen „fremden Mächte“, Verschwörungen und politischen Utilitarismus vermuten.  Es ist für sie offenbar nur schwer vorstellbar, dass zivilgesellschaftliches Engagement aus sich selbst oder aus einer bestimmten Situation oder einem Ereignis heraus entsteht.

Administrative, auch strafrechtliche Maßnahmen gegen dieses Engagement laufen eben deshalb immer wieder zwar nicht völlig ins Leere, aber sie können es nicht verhindern, sondern nur enorm erschweren. Die Aktivist/innen finden immer neue Formen und Foren. Bis heute gab es unter Putin drei größere Versuche, unabhängige NGOs unter mehr oder weniger direkte staatliche Kontrolle zu bringen und diejenigen, die sich dagegen wehrten, entweder zu marginalisieren oder zu schließen. Der erste Versuch im Jahr 2001 endete mit einem Kompromiss, der das Verhältnis Kreml-NGOs in einem (prekären) Gleichgewicht zwischen Konfrontation und Kooperation hielt.

Der zweite Versuch endete in der Verabschiedung des „NGO-Gesetzes“ Ende 2005/Anfang 2006, das den NGOs weitergehende Berichtspflichten auferlegte, in der Praxis also Ressourcen bindet, aber entgegen anderslautender Befürchtungen nicht zu wesentlichen Einschränkungen in der Arbeit russischer NGOs führte. Die größte negative Wirkung dieses Versuches dürfte von zahlreichen öffentlichen Äußerungen hochgestellter Politiker/innen bis hin zu Putin ausgegangen sein. NGOs seien „Feinde“, „Schakale, die um ausländische Vertretungen streunen“. Die Äußerungen prägten die Einstellung weiter Teile der Gesellschaft negativ.

Ausländische Agenten

Der dritte Versuch begann als Teil der staatlichen Reaktionen auf den Protestwinter 2011/2012 und hält bis heute an. Sein wichtigster Bestandteil ist das sogenannte „NGO-Agentengesetz“, das eigentlich kein eigenes Gesetz ist, sondern aus einer Reihe dem NGO-Gesetz neu hinzugefügter oder geänderter Paragraphen besteht. Diese Vorschriften verpflichten NGOs, die „sich politisch betätigen“ und Geld oder andere Zuwendungen aus dem Ausland erhalten, sich beim Justizministerium als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Danach müssen sie jede öffentliche Äußerung mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ versehen.

Trotz erheblichen staatlichen „Pressings“, der „Überprüfung“ von mehr als 700 NGOs in ganz Russland durch Staatsanwaltschaft, Justizministerium, Finanzamt und eine Reihe anderer Behörden seit dem Frühjahr 2013, hatte sich im Frühjahr 2014 erst eine NGO als „ausländischer Agent“ im entsprechenden Register des Justizministeriums eintragen lassen. Alle anderen, selbst diejenigen NGOs, die von den Behörden als „Agenten“ eingestuft und teilweise mit empfindlichen Geldstrafen belegt worden waren, weigern sich bis heute. Viele NGOs klagen gegen das Gesetz, die „Überprüfungen“ und Bescheide der Justizbehörden vor russischen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Eine Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts hat die „Agenten-Paragraphen“ für verfassungskonform erklärt, auch wenn er einige Einzelbestimmungen, darunter die zu Mindeststrafen, aufgehoben hat.

Im Juni 2014 beschloss die Staatsduma eine Verschärfung der „Agentenparagraphen“ des NGO-Gesetzes. Seither hat das Justizministerium das Recht, NGOs auch ohne deren Zustimmung in das „Agenten“-Register einzutragen. Bis heute sind 15 NGOs davon betroffen. Es ist damit zu rechnen, das weitere folgen werden. Justizminister Jurij Tschajka hat bereits 2013 im Föderationsrat von 24 NGOs gesprochen, die nach Ansicht des Ministeriums „Agenten“ seien. Außerdem wurden 2013 und 2014 mehr als 40 NGOs von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, sich vorsorglich als „Agenten“ registrieren zu lassen, da sie Geld aus dem Ausland bekämen und  Gefahr liefen, sich „politisch zu betätigen“.

Auflösung als Lösung

Die Reaktionen der NGOs auf diesen staatlichen Druck sind unterschiedlich. Einige NGOs, wie die Wahlbeobachter/innen von „Golos“, haben sich als juristische Personen aufgelöst, oder sind, wie die „Juristen für Verfassungsrechte und Freiheit“ dabei sich aufzulösen (ein juristisch und administrativ langwieriger Vorgang). Fast alle NGOs, die sich auflösen, haben aber erklärt, ihre Arbeit auch ohne juristischen Status fortsetzen zu wollen. Rechtlich ist das möglich. Praktisch werden diese NGOs auf zahlreiche neue Probleme treffen, wohl bis hin zur möglichen Kriminalisierung einzelner Personen.

Eine weitere Reaktion ist eine Art Hase-und-Igel-Spiel mit den Behörden. Das kann sich in einem Geflecht von unterschiedlichen NGOs ausdrücken, die unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Eine NGO macht politische Erklärungen und betreibt Lobbying. Ihre Aktivist/innen arbeiten ausschließlich ehrenamtlich. Eine andere bekommt ausländische Finanzierung für Projekte, die auch nach der Definition von Staatsanwaltschaft und Justizministerium nicht „politisch“ sind. Wieder andere NGOs weichen auf Organisationsformen (juristische Personen) jenseits des NGO-Gesetzes aus, die dann nicht dem „Agenten-Paragraphen“ unterliegen.

Arme der Repression

Allerdings beschränkt sich die staatliche Behinderung und Bedrohung von NGOs nicht auf das relativ neue Agentengesetz. Alle anderen, länger erprobten administrativen bis strafrechtlichen Instrumente bleiben ebenfalls im Einsatz. Jüngstes und bekanntestes Beispiel ist der Schließungsantrag des Justizministeriums vor dem Obersten Gericht gegen „Memorial Russland“. „Memorial Russland“ ist ein Netzwerk aus rund 50 regionalen und thematischen Memorial-Organisationen und selbst eine von mehr als 60 Mitgliedsorganisationen von „Memorial International“.

Bei einer der regelmäßigen Prüfungen stellte das Justizministerium Anfang 2012, also vor Beginn der jetzigen Repressionswelle gegen NGOs, fest, dass die seit Gründung der Organisation geltende konföderative Struktur von „Memorial Russland“ „nicht dem Gesetz entspreche“ und geändert werden müsse. Insbesondere behagt dem Justizministerium nicht, dass die Mehrzahl der Mitgliedsorganisationen von „Memorial Russland“ ihrerseits eigenständige juristische Personen sind. „Memorial Russland“ müsse sich zentralistisch organisieren und die regionalen Memorial-Organisationen zu Filialen werden. Ohne hier ins Detail gehen zu können, würde das aber zu weiteren Problemen führen, die wiederum die Schließung von Memorial durch das Justizministerium zum Ergebnis hätten. Memorial sucht einen Ausweg, das Justizministerium betreibt die Schließung. Viele NGOs haben Probleme mit der Feuerwehr, dem Gesundheitsamt oder der Arbeitsschutzbehörde. Beliebt ist in jüngster Zeit auch die Kündigung von Mietverträgen (so unlängst geschehen bei „Golos“ und der „Bewegung für Menschenrechte“).

Seit dem Frühjahr zeichnet sich noch ein weiterer Angriff auf unabhängige und staatskritische NGOs ab. Der von Michail Fedotow geleitete Zivilgesellschaftsrat beim Präsidenten berät seit einiger Zeit eine erneute Änderung des NGO-Gesetzes. Er schlägt vor, die „Agenten-Paragraphen“ abzuschaffen und dafür, um den Befürchtungen des Kremls auf politische Einflussnahme Rechnung zu tragen, künftig eine Einteilung von NGOs in „soziale“ und „politische“ vorzunehmen. „Soziale“ NGOs sollen diesen Vorschlägen nach als „gemeinnützig“ steuerlich begünstigt sein und staatliche Zuwendungen erhalten können. „Politische“ NGOs werden hingegen von staatlicher Förderung ausgeschlossen und sollen auf alle Zuwendungen, insbesondere aber auf Zuwendungen aus dem Ausland einen noch festzulegenden Steuersatz zahlen.

Die Befürworter/innen dieser - im Übrigen im Zivilgesellschaftsrat nicht unumstrittenen - Initiative verweisen darauf, dass so die heute als „Agenten“ verfolgten NGOs eventuell noch gerettet werden könnten, während staatliche Förderung aller anderen verstärkt würde. Ein Gewinn also für alle Beteiligten. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Vorschlag aber eine gefährliche Tendenz zur Entsolidarisierung der NGO-Szene, wie sie auch anderswo schon länger zu beobachten ist.

 

Dieser Text erschien erstmalig am 22. Oktober 2014 im Russland-Blog der Heinrich-Böll-Stiftung.