In der Türkei eskaliert die Gewalt zwischen PKK und türkischer Regierung. Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul, erklärt die Hintergründe und warum es trotzdem noch Hoffnung auf Frieden gibt.
Mit asymetrischen Friedensprozessen ist es so eine Sache: Sie dauern meist ewig, bringen – wenn überhaupt – oft nur instabile Lösungen hervor. Das politische Ziel der stärkeren Verhandlungspartei ist häufig weniger ein schnelles Ende, sondern vielmehr ein mittelfristiges Management des Konfliktes.
Nicht ganz unähnlich verhält es sich mit dem türkisch-kurdischen Lösungsprozess. Seit 2008 wird verhandelt. Ziel ist die Beilegung des Konflikts der türkischen Regierung mit der kurdischen PKK. Doch Ende Juli eskalierte die Situation: die PKK verübt seitdem wieder Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte und Pipelines, die türkische Regierung bombardiert PKK-Stellungen und trat eine Verhaftungswelle im Land, vornehmlich gegen die PKK und andere linksextreme Gruppierungen, los. Der Friedensprozess scheint vorerst gescheitert.
KCK und PKK
Schon vor dem Selbstmordanschlag auf das Kulturzentrum im südtürkischen Suruҫ, bei dem 31 junge türkische und kurdische Unterstützer/innen der kurdischen Sache ums Leben kamen, hatte die PKK-Dachorganisation KCK ein Kommuniqué verfasst, das den Friedensprozess aufkündigte. Grund dafür war in den Augen der KCK, dass der türkische Staat den seit 2013 andauernden Waffenstillstand dafür genutzt hätte, um die staatliche Kontrolle der Kurdengebiete etwa durch neue Polizeistationen oder große Staudammprojekte auszubauen. Deswegen, so die KCK, seien solche Projekte ab jetzt legitime Anschlagsziele.
Die KCK vergisst dabei zu erwähnen, dass die Phase relativer Ruhe der letzten zwei Jahre nicht nur von Seiten der türkischen Regierung genutzt wurde, um die eigene Kontrolle auszuweiten. Auch die PKK selbst hat – beflügelt durch das Vorbild ihrer halb-autonomen Kantonsregierung in Nordsyrien – versucht das Modell auf die Südosttürkei zu übertragen und parallele staatliche Strukturen zu schaffen. In vier Modellkantonen operiert z.B. eine parallele Justiz. Ähnlich wie in den Hochtagen des Bürgerkriegs in den 1990ern erhebt die PKK Sondersteuern, die man auch schlicht als Schutzgelder bezeichnen könnte. Angesichts der Tatsache, dass viele Kurdinnen und Kurden berechtigterweise wenig Vertrauen in die offiziellen staatlichen Strukturen der Türkei haben, mögen parallele Institutionen sinnvoll erscheinen. Die Sorge der türkischen Seite, dass das letztliche Ziel der PKK immer noch ein eigener Staat ist, lässt sich so aber nicht zur Seite wischen. Für die PKK hat sich mit den militärischen Siegen in Syrien und im Irak die Lage gewandelt. Im Westen hat sie durch ihren Kampf gegen den „Islamischen“ Staat ein positives Image erlangt, in Syrien konnte sie sich erfolgreich als halb-autoritäre Schutzmacht der Kurden und Kurdinnen positionieren. Selbst im Irak hat sie mit dem Kampf für die Yeziden und Yezidinnen einen Achtungserfolg errungen. Ein Großteil der gut ausgebildeten PKK-Kämpfer/innen ist aktuell im Irak und Syrien gebunden. Es ist also nicht im Interesse der PKK eine dritte Front in der Türkei wiederzueröffnen.
Erdoğans Kalkül
Gleichzeitig hat man aber auch den Glauben an den Friedensprozess verloren, der augenscheinlich zur persönlichen Geisel des türkischen Präsidenten geworden ist. Dies ermöglicht es Erdoğan bei wahrscheinlichen Neuwahlen im November im Wählerlager der Nationalisten zu wildern, eine Koalition mit der rechtsgerichteten MHP zu ermöglichen und die links-kurdische HDP zu diskreditieren.
Klar scheint zu sein, dass die Kalkulation der AKP bezüglich der Kurden geprägt wurde von der Idee, dass man im Gegenzug zum Friedensprozess die kurdischen Stimmen für die AKP sicher hätte. Dies ist durch den 13-Prozent-Wahlerfolg der HDP zu Nichte gemacht worden – aus der Sicht der AKP eine unilaterale Aufkündigung einer ungeschriebenen Vereinbarung. Der Präsident erklärte schon vor der aktuellen Gewalteskalation, dass er sich an das bisher wichtigste Dokument im Friedensprozess nicht gebunden fühle.
Die erst im Februar von Vize-Premier Akdoğan unterzeichnete Prinzipienerklärung aus dem Dolmabahҫe Palast, die als Meilenstein zur Beilegung des Konflikts gewertet wurde, legt in zehn Punkten die Grundzüge fest, auf denen ein Friedensabkommen basieren soll. Punkt zwei „die Definition einer demokratischen Lösung auf lokaler und nationaler Ebene” enthält dabei etwas verklausuliert, was sich die PKK am Ende des Prozesses vorstellt, nämlich eine Art von Teilautonomie.
Allein über diesen Knackpunkt besteht nicht nur keine Einigkeit innerhalb der kurdischen Bewegung – das HDP-Parteiprogramm etwa äußert sich gar nicht dazu – sowohl PKK als auch Regierung vermeiden es, überhaupt diesen Punkt der Verhandlungen klar anzusprechen. Er existiert daher auf Regierungsseite nur als offen ausgesprochener Vorwurf im Sinne eines „Wir haben den Kurden alles gegeben, aber sie wollen doch nur Unabhängigkeit“. In der AKP ist man empört über die Haltung der Kurden; unter keiner vorherigen Regierung hätten sie so viele Freiheiten und Zugeständnisse bekommen, wie in den letzten 13 Jahren. Dass die erwartete Dankbarkeit vor allem bei den Wahlen ausblieb und viele Kurdinnen und Kurden sich von der AKP abwandten, empfindet die AKP als persönliche Beleidigung.
Dass der Präsident und viele seiner Parteigänger/innen so wenig Verständnis dafür aufbringen, um was es den Kurden und Kurdinnen eigentlich geht, liegt sicher nicht zuletzt in Erdoğans Biographie begründet: er, der Junge aus einer Gesellschaftsschicht, die traditionell in der Türkei – genau wie viele Kurdinnen und Kurden - ökonomisch und politisch marginalisiert wurde sieht sich als derjenige, der die Türkei verändert hat. Die fromm-islamische Mittelschicht, die früher in der Türkei gemieden wurde, regiert heute das Land und sitzt an den Schaltstellen der Wirtschaft. Da ist es für ihn jetzt schwierig nachzuvollziehen, wo die Parallelen zu den Kurden und Kurdinnen aufhören, und dass es denen um mehr geht, als darum, dass ihre Provinzen wirtschaftlich aufgeholt haben und dass es mehr kulturelle Rechte gibt. Es ist der türkische Staat an sich, der für viele Kurdinnen und Kurden Ausgangspunkt konkreter Repression ist – die Gewaltexzesse des Bürgerkriegs, in dem türkische Sicherheitskräfte ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachten, ist vielen noch lebhaft in Erinnerung. Es ist die Erfahrung, dass dieser Staat in erster Linie sich selbst und nicht seine Bürgerinnen und Bürger – erst recht nicht die kurdischen – schützt. Diese Erfahrung ist aber für die AKP und Erdoğan, die in 13 Jahren Regierungszeit praktisch mit dem Staat verschmolzen sind, nicht anknüpfungsfähig.
Nächste Runde im Friedensprozess?
Trotzdem will – so widersprüchlich das klingt – die Regierung diesen Friedensprozess. Von den Jahren der Ruhe hat die türkische Wirtschaft und damit die AKP profitiert. Konservative kurdische Wählerinnen und Wähler in den Reihen der AKP unterstützten die Partei auch wegen ihrer Öffnungspolitik. Und nicht zuletzt ist man sich auch in den Reihen der Regierung bewusst, dass die Kurdenfrage militärisch nicht gelöst werden kann. Angesichts der Probleme, die ein Abschluss der Friedensverhandlungen aber bedeuten würde, bleibt man gern im Ungefähren. Und auch für die PKK ist eine Rückkehr zu einem reinen Konfliktmanagement durchaus nicht unattraktiv – man baut auf die Dynamiken in der Region, die einem eine stärkere Verhandlungsposition bescheren und torpediert sich gleichzeitig nicht sofort in die Bedeutungslosigkeit.
Zumindest einige der Anschläge der letzten Tage wurden Mitgliedern der PKK-Jugend (YDG-H) angelastet, von denen die PKK zugab, sie nicht zentral unter Kontrolle zu haben. Sie unternimmt aber gleichzeitig auch wenige Anstrengungen, sie von Gewalttaten abzuhalten – immerhin will die PKK auch beweisen, dass sie den Staat durchaus noch empfindlich treffen kann. PKK-Kader im Ausland wie Zübeyir Aydar in Brüssel haben bereits ihre Bereitschaft erklärt, zum Friedensprozess zurückzukehren. Eine Forderung, die auch von Seiten der HDP-Führung kommt, die das erste Bauernopfer des Muskelspiels von Regierung und PKK wäre. Von der türkischen Regierung hingegen ist bisher neben martialischen Tönen vor allem die wiederholte Forderung zu hören, die PKK möge sich entwaffnen, erst dann könne man verhandeln. Ein Ansinnen, das mitten in einer bewaffneten Auseinandersetzung und ohne Garantien der Regierung etwas wirklichkeitsfremd anmutet.
Trotzdem könnte man zu guter Letzt, sobald es denn endlich eine neue Regierung gibt und die AKP wieder Wählerstimmen hinzugewonnen hat, sehr schnell an einer Wideraufnahme von Gesprächen interessiert sein. Nur: niemand kann garantieren, dass die Neuwahlen der AKP wirklich wieder mehr Stimmen zu spülen. Bisherige Umfragen prophezeien keine massiven Stimmverschiebungen. Und niemand kann sagen, ob die Regierung bis dahin möglicherweise Schritte unternommen haben sollte, die für die PKK eine Rückkehr zum Dialog unmöglichen machen würden. Dazu würde etwa eine Verhaftung der HDP-Spitze gehören.
Eine dritte Partei
Die PKK fordert schon länger die Einbindung einer dritten Partei in die Friedensverhandlungen. Die jetzige Situation in der beide Seiten der anderen die Schuld für die Eskalationen zuschieben zeigt, wie sinnvoll diese Forderung ist. Wie immer in Verhandlungen, bei denen die Kräfteverhältnisse der Parteien nicht symmetrisch sind, wäre eine unabhängige dritte Partei sinnvoll, um sicherzustellen, dass es nicht folgenlos möglich ist, den Friedensprozess für andere politische Ziele zu manipulieren. Die türkische Regierung hat diese Forderung bisher abgelehnt – für die stärkere der Verhandlungsparteien ist es nicht angenehm, sich von außen in die Karten schauen zu lassen. Schon gar nicht in einem Land in dem jegliche externe Einmischung ohnehin misstrauisch beäugt wird. Die kurdische Seite wünscht sich die USA in der Rolle der Drittpartei, aber weder die noch die EU machen bisher Anstalten sich um einen solchen Posten zu bemühen. Solange es keine Bewegung auf Regierungsseite zu diesem Punkt gibt ist es unwahrscheinlich, dass der Friedensprozess mit mehr Ernsthaftigkeit verfolgt werden kann. Dabei wäre das für Türk/innen und Kurd/innen das Beste, um endlich einen Konflikt zu den Akten zu legen, der ein Überbleibsel der Vergangenheit ist.