Nach den Parlamentswahlen in der Türkei ist alles anders: Erdoğan hat die Alleinherrschaft verloren - und mit der pro-kurdischen HDP ist eine politische Kraft ins Parlament eingezogen, die für eine neue Türkei steht.
Nach rund 13 Jahren Alleinherrschaft der islamisch-konservativen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist mit der Wahlnacht vom Sonntag und einer ungewohnt hohen Wahlbeteiligung von 86 Prozent eine Ära zu Ende gegangen. Mit einem Stimmverlust von 9 Prozent (49,84 Prozent im Jahr 2011; 40,86 Prozent im Jahr 2015) hat die AKP ihre absolute Mehrheit verloren und wird nicht länger ohne einen Koalitionspartner regieren können. Das Regierungsprojekt ihrer "neuen Türkei", wird die AKP nun nicht mehr durch pures Durchregieren verwirklichen können.
Genauso muss Erdoğan seinen Plan vom Umbau der Türkei in eine Präsidialrepublik vorerst vertagen. Eine "neue Türkei" ganz anderer Couleur kommt allerdings durch den Parlamentseinzug der jungen links-kurdischen Sammlungsbewegung HDP (Demokratische Partei der Völker) zum Vorschein. Sie erhielt 13,7 Prozent der Stimmen und hat damit das Potential, das polarisierte Parteienspektrum aufzubrechen und zu bereichern.
Gewinner und Verlierer
Trotz der hohen Stimmverluste bleibt die AKP weiterhin die stärkste politische Kraft im Land. Mit weitem Abstand liegt sie vor der größten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei), die sich über die letzten Wahlen bei rund 25 Prozent eingependelt hatte. Neben der HDP hat auch die nationalistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) seit den letzten Parlamentswahlen 2011 dazugewinnen können und liegt jetzt bei 16,37 Prozent. HDP und MHP haben beide von Wechselwählern der AKP profitieren können.
Besonders im konservativ-kurdischen Südosten konnte die HDP als Sachwalterin der kurdischen Sache für sich mobilisieren. Erdoğans Kurdenpolitik hat nach den Angriffen auf das nordsyrische Kobanê, sowie seinem Vor- und Zurück beim Friedensprozess mit der PKK großen Unmut ausgelöst. Die MHP hingegen profitierte von nationalistisch gesinnten Konservativen, denen der Einsatz Erdoğans für den Friedensprozess zu weit ging. Der Abschwung der türkischen Wirtschaft in den letzten Monaten trug sein Übriges bei.
Die für die CHP vorausgesagten Stimmverluste durch Abwanderung von nationalistischen Kemalisten zur MHP haben sich hingegen nicht bewahrheitet. Trotz der seit einiger Zeit von CHP-Chef Kilicdaroğlu betriebenen Reform der Partei und einer zunehmenden Distanzierung von ihrem rechten Rand ist es der CHP jedoch auch nicht gelungen, weitere Stimmen aus dem linken Spektrum zu mobilisieren. Linke Wählerinnen und Wähler entschieden sich mehrheitlich für die HDP als glaubhaftere Alternative. Für die weiterhin notwendigen Reformen in der CHP könnte dies einen Rückschlag bedeuten. Da die CHP in den letzten drei Wahlen immer rund ein Viertel der Stimmen für sich verbuchen konnte, muss davon ausgegangen werden, dass sie mit diesen 25 Prozent an die natürlichen Grenzen ihres Wählerpotentials stößt.
Alles offen, wenig möglich
Noch ist unklar, wie es jetzt weitergehen wird. Laut der türkischen Verfassung obliegt es dem Staatspräsidenten eine Partei mit der Regierungsbildung zu betrauen. Sollte sich keine der Parteien innerhalb von 45 Tagen dazu in der Lage sehen, eine Regierungskoalition auf die Beine zu stellen, könnten vorgezogene Neuwahlen angesetzt werden. Nach Verlautbarungen aus Regierungskreisen strebt die AKP allerdings eine Koalitionsbildung an. Grundsätzlich kommen dafür alle drei Oppositionsparteien in Frage. Diese haben aber schon vor der Wahl erklärt, dass ein Präsidialsystem mit ihnen nicht zu machen sei.
Am Wahrscheinlichsten galt lange Zeit eine Koalition mit der MHP. Deren Parteichef Devlet Bahçeli erklärte aber noch in der Wahlnacht, Neuwahlen einer Koalition vorzuziehen. Eine Koalition mit der MHP könnte ein Ende des Friedensprozesses mit der PKK bedeuten. AKP-Politiker wie der stellvertretende Premier Yalçın Akdoğan äußerten bereits, dass eine Fortführung des Friedensprozesses jetzt nicht mehr wahrscheinlich sei. Auch wenn dies vermutlich nicht die Parteilinie abbildet, so ist die MHP mit einem Programm zur Wahl angetreten, das jegliche Konzessionen - etwa zum Gebrauch des Kurdischen als Unterrichtsprache - an die Kurden kategorisch ausschließt.
Die zweitwahrscheinlichste Option wäre daher eine Koalition aus AKP und HDP. Aufgrund der Friedensgespräche existiert seit Jahren eine stille Kooperation von HDP- und AKP-Vertretern. Mit dem Friedensprozess kann die AKP den größten Anreiz für eine Koalition anbieten. Allerdings besteht die HDP nicht nur aus Kurdinnen und Kurden, sondern hat sich im Wahlkampf als Alternative für all die Türkinnen und Türken positioniert, die aufgrund von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Identität oder schlicht abweichenden politischen Ansichten keinen Platz in der neuen Türkei der AKP hatten. Ihre Wahlslogans: "Wir (alle) im Parlament! Wir alle sind die HDP!" Als Juniorpartner in einer Koalition würde die HDP besonders bei ihrer nicht-kurdischen, links-urbanen Wählerschaft massiv an Glaubwürdigkeit einbüßen.
Die vermutlich beste Möglichkeit für die Oppositionsparteien wäre das Tolerieren einer Minderheitsregierung der AKP. Dafür wird eine größtmögliche Einigkeit unter der Opposition notwendig sein. In diesem Falle ist es allerdings nicht unwahrscheinlich, dass die AKP nach relativ kurzer Zeit doch noch auf vorgezogene Neuwahlen drängen könnte. Nicht nur deswegen gilt diese Option als unwahrscheinlich.
Auswirkungen für die Türkei
Neben den Auswirkungen auf die Regierungsbildung sind auch die Folgen für die AKP noch nicht absehbar. Premierminister Davutoğlu zeigte sich Sonntagnacht ohne seinen Ziehvater Erdoğan – der auch bisher nicht vor die Presse getreten ist - vor seinen Anhängern. Zu einer mit reichlich religiösem Vokabular gewürzten Rede gab er sich kämpferisch, erwähnte aber bemerkenswerterweise Erdoğan nie namentlich – ein Signal, das viele der internen AKP Gegner die Gelegenheit nutzen könnten, um den Stimmverlust zu einem Anfang vom Ende des Systems Erdoğan umzudeuten, wie die Opposition es bereits tut.
Diejenigen in der AKP, die wie Ex-Präsident Gül oder Vize-Premier Arınç in den letzten Monaten vermehrt den Umbau der AKP zu einer Einmannshow kritisierten, könnten jetzt den Zeitpunkt sehen, eine Revision der Parteirichtung einzuleiten. Das konservative Wählerpotential, das um die 40 Prozent liegt, so vermuten sie, würde der Partei auch ohne Erdoğan erhalten bleiben. Keinesfalls bedeutet der Einbruch der AKP ein Ende der Partei. Die grundsätzliche Polarisierung des politischen Systems wird dem Land also erhalten bleiben.
Für die Opposition und besonders viele HDP-Wähler ist das Wahlergebnis, das extreme Euphorie auslöste, das Zeichen, dass das politische System der letzten 13 Jahre doch nicht in Stein gegossen ist. Die Tatsache, dass die HDP auch über ihre kurdische Stammwählerschaft hinaus mobilisieren konnte, zeigt, dass die Zeiten sich in der Türkei ändern. Selbst Angehörige der Sicherheitskräfte sollen dieses Mal für die kleine, linke Partei gestimmt haben. Und dies nicht nur, weil man ein Zeichen gegen die AKP setzten wollte, sondern auch weil von vielen das Parteienestablishment als verkrustet, korrupt und reformunwillig angesehen wird. Das schon in der Gezi-Park-Bewegung deutlich gewordene Potential eines links-alternativen Gegenentwurfs der urbanen Mittelschichtjugend geht in der HDP auf und schafft eine dritte politische Kraft zwischen Islamisten und Kemalisten.
Nicht nur ziehen mit der HDP und der CHP zum ersten Mal ethnische und religiöse Minderheiten wie Yeziden und Roma ins Parlament ein, auf dem HDP-Ticket gibt es auch einen offen homosexuell-lebenden Abgeordneten. Das Parlament verzeichnet dazu die bisher höchste Zahl an Parlamentarierinnen (AKP: 41 von 258; CHP: 22 von 132; MHP: 4 von 80; HDP: 30 von 80). Dazu trägt vor allem die von der HDP aufgenommene Idee der Doppelspitze bei. Auf dem Ticket von AKP, CHP und HDP wurden insgesamt vier Parlamentarier und Parlamentarierinnen armenischer Abstammung ins Parlament gewählt.
Das kurdische Narrativ
Anders als der Wahlkampf liefen die Wahlen selbst größtenteils friedlich ab. Die Tatsache, dass die AKP das Ergebnis akzeptiert hat, zeigt, dass trotz aller demokratischen Defizite in der Türkei ein parteiübergreifender Konsens im Hinblick auf die Relevanz eines freien und fairen Wahlprozesses fortbesteht. Einschränkungen müssen hier allerdings für den Wahlkampf gemacht werden, in dem die AKP sich massiv staatlicher Ressourcen bedient hat und es zu mehreren Anschlägen auf die HDP kam, die auch Todesopfer forderten.
Mit der HDP ist zum ersten Mal eine ernstzunehmende politische Kraft ins Parlament eingezogen, welche in vielen Punkten (Frauenrechte, Ökologie, Minderheitenschutz, Geschichtsaufarbeitung, Europapolitik) für eine neue Türkei steht. Es gilt allerdings zu bedenken, dass die HDP eine breite Sammlungsbewegung (unter Einschluss der türkischen Grünen) ist. Gerade in konservativen kurdischen Wählerschichten werden manche der alternativen Politikentwürfe - für die eine Mehrheit der jungen, urbanen Wählerinnen und Wähler steht - nicht geteilt. Und nicht alle dieser Wähler sind so pro-kurdisch, wie der Kern der Partei.
Auch wenn die HDP äußerst moderate politische Forderungen bezüglich mehr kurdischer Selbstverwaltung im Südosten formuliert, geht es für einige der kurdischen Wählerinnen und Wähler durchaus darum, den überbordenden türkischen Nationalismus lediglich durch einen ähnlichen Narrativ kurdischer Prägung zu ersetzen. Die Probleme, mit denen die HDP dabei zu kämpfen hat, sind allerdings für die Transformation bewaffneter Befreiungsorganisationen in reguläre politische Parteien durchaus nicht ungewöhnlich. Es wird hier maßgeblich auf das Geschick der Parteiführung ankommen, diese Gegensätze zu überbrücken und die Bewegung langfristig zusammenzuhalten.