Obamas Außenpolitik: Der zaudernde Visionär

Barack Obama als Superman Paste-Up von Mr. Brainwash

Obama wird oft als zaudernde Führungspersönlichkeit beschrieben, die vor allem darauf bedacht ist, außenpolitische Abenteuer und unkalkulierbare Risiken zu vermeiden. Die Gründe für Obamas Zurückhaltung sind vielschichtig.

Der Sommer 2015 hatte es in sich für Barack Obama. Wer den US-Präsidenten schon als lahme Ente wähnte, hat sich gründlich geirrt. In den letzten Monaten erlebte der 44. Präsident der Vereinigten Staaten einen regelrechten Höhenflug. Im Juni sicherte er sich dank republikanischer Unterstützung im Repräsentantenhaus das „Fast Track“-Verhandlungsmandat, um die gewichtigen Handelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) und TPP (Transpacific Partnership) auszuhandeln. Wenige Wochen später erklärte das Oberste Gericht der USA die Gesundheitsreform („Obama Care“) für verfassungskonform und bestätigte außerdem das landesweite Recht auf die gleichgeschlechtliche Ehe.

Auch außenpolitisch konnte der Präsident diesen Sommer punkten. Bereits im Frühjahr startete er eine diplomatische Offensive gegenüber Kuba. Im August schickte er seinen Außenminister John Kerry als ersten US-Diplomaten seit 70 Jahren nach Havanna, um die amerikanische Flagge zu hissen. Die Öffnung gegenüber Kuba wurde allerdings bald von einem noch mächtigeren außenpolitischen Erdbeben in den Schatten gestellt. Am 14. Juli brachte die US-amerikanische Delegation zusammen mit den anderen fünf Verhandlungsmächten die Nuklear-Verhandlungen mit dem Iran zu einem erfolgreichen Abschluss. Nachdem die Diplomat/innen sichtlich erschöpft den Durchbruch erklärt hatten, ging das politische Ringen um den Deal allerdings in die zweite Runde - diesmal auf heimischem Boden.

Die hitzige Debatte um das Für und Wider des Iran-Abkommens sorgte in Washington für eine ungewöhnlich stürmische Sommerpause. Der Kampf mit harten Bandagen wurde dabei vom nahenden Präsidentschaftswahlkampf angefacht, der bereits unverkennbar die Gemüter erhitzt. Angesichts des heftigen Widerstands gegen das Abkommen von Seiten der Republikaner sprach Kolumnist Roger Cohen kürzlich in der Washington Post vom „Obama Care der Außenpolitik”. Mitte September kam dann der unerwartete politische Durchbruch für Obama: Da sich in der Kampfabstimmung mehr als 41 demokratische Senator/innen für das Abkommen aussprachen und somit eine  Zweidrittel-Mehrheit der Republikaner verhinderten, musste Obama von seinem Veto gar nicht erst Gebrauch machen, um das Iran-Abkommen zu retten.

Die Obama-Doktrin: Don’t Do Stupid Shit

Das Iran-Abkommen ist die vielleicht größte außenpolitische Errungenschaft Obamas. Es steht symbolisch für seine Doktrin, die das Primat der Diplomatie heiligt und bereit ist, feindlich gesinnten Regimen die Hand auszustrecken. Dialog heißt das Zauberwort, das Obamas Politik gegenüber Myanmar, Kuba und dem Iran auszeichnet. Sanktionen, internationale Isolation und Drohgebärden dienen ihm lediglich als Mittel zur Aufwertung der eigenen Verhandlungsposition. Während Obamas Kritiker seine Bereitschaft zum Dialog als Schwäche auslegen, fordert der Präsident, Amerika müsse gerade aus seiner Position der Stärke heraus bereit sein, gewisse Risiken einzugehen, die mit diplomatischen Kompromissen einhergehen.

Im Interview mit Thomas Friedman brachte Obama selbst seine Doktrin wie folgt auf den Punkt: “We will engage, but we preserve all our capabilities.” Mit einer weniger eleganten Wortwahl hatte der Präsident vergangenen Sommer Furore gemacht, als er sein Leitmotiv als "don't do stupid shit" beschrieb. Der flapsige Einwand, zu dem sich Obama in einem Hintergrundgespräch mit amerikanischen Journalisten hinreißen ließ, hat tatsächlich einen erhellenden Kern. So wird Obama oft als zaudernde Führungspersönlichkeit beschrieben, die vor allem darauf bedacht ist, außenpolitische Abenteuer und unkalkulierbare Risiken zu vermeiden. Der Daily Beast - Kolumnist Jonathan Alter nannte Obama wegen seiner zögerlichen, abwägenden Herangehensweise einmal den „Professor-in-Chief“.

Realpolitik im Deckmantel inspirierender Worte

Trotz seiner oft idealistisch gefärbten Rhetorik und seiner Skepsis gegenüber der Allmacht militärischer Interventionen ist Obama bei Weitem kein Friedensengel. Ganz im Gegenteil ist seine Außenpolitik stark realpolitisch geprägt: Von Konflikten, in denen er keine klar definierten Erfolgschancen für eine externe Intervention erkennt, lässt Obama lieber die Finger, als dass er sich daran verbrennt. Konsequent folgt er der Überzeugung, dass sich die USA stärker auf das „nation-building at home“ konzentrieren müssen, anstatt als ungeliebter Weltpolizist aufzutreten. Vor dem Hintergrund des desaströsen Krieges im Irak und der durchwachsenen Bilanz des Afghanistankrieges, die ihm sein Vorgänger G.W. Bush vererbt hatte, agiert Obama im Bewusstsein der Grenzen der außenpolitischen Macht der USA.

Dass Obama nicht per se vor der Anwendung militärischer Gewalt zurückschreckt, zeigt der Militäreinsatz in Libyen  im Jahr 2011 (unter UN-Mandat) und die seit Herbst 2014 von den USA angeführte internationale Koalition gegen den selbsternannten „Islamischen Staat“.  Völkerrechtler/innen aus aller Welt haben außerdem die massive Ausweitung des Einsatzes  amerikanischer Kampfdrohnen angeprangert, für die der Commander-in-Chief verantwortlich ist. Im Jahr 2011 erreichten die US-amerikanischen Drohnenangriffe in Pakistan, im Jemen und in Somalia ihren Höhepunkt, während der Öffentlichkeit kaum Informationen über die Einsatzregeln und die humanitären Folgen der Einsätze zur Verfügung standen. Auf massiven Druck von Menschenrechtsorganisationen und den wachsenden Unmut unter Amerikas Partnern antwortete Obama im Mai 2014 mit seiner Grundsatzrede an der Militäruniversität West Point, die wenigstens die Ansätze einer regelbasierten Drohnenpolitik erkennen ließ. Allerdings fällt die Obama-Administration mit Blick auf die Einsatzregeln und den Handel mit Kampfdrohnen weiterhin massiv hinter die Minimalforderungen nach Transparenz und Rechenschaftspflicht zurück, wie sie von Menschenrechtsorganisationen erhoben werden.

Auch das ist Teil von Obamas Politik: Die Abkehr  von den interventionsfreudigen Jahren unter G.W. Bush hat zu einer Ausweitung subkriegerischer Handlungen geführt. In diese Kategorie fällt auch die Ausweitung amerikanischer Spionage und Massenüberwachung durch die National Security Agency (NSA). Während der Multilateralismus zu den Grundprinzipien von Obama Außenpolitik zählt, hat Obama oft das nötige Fingerspitzengefühl vermissen lassen, um diplomatische Verwerfungen in Folge dieser zweifelhaften Aktivitäten wieder auszubügeln.

Obama der Visionär, Obama der Zauderer

Es gibt Situationen, in denen der Präsident des mächtigsten Staates der Welt nur zwischen Pest und Cholera wählen kann. Die Rolle des ungeliebten Hegemons lastet den USA folglich auch unter Präsident Obama weiter an. Eine gängige Kritik an Obamas Außenpolitik ist der angebliche Mangel einer übergreifenden Vision von Amerikas Rolle in der Welt. Bereits ein Blick auf seine erste Antrittsrede genügt allerdings, um ein klares Verständnis eben dieser Vision zu gewinnen: „Wir werden den Mut aufbringen und versuchen, unsere Differenzen mit anderen Nationen friedlich zu lösen – nicht, weil wir zu naiv sind um die Gefahren zu sehen, denen wir gegenüber stehen, sondern weil Dialog langfristig besser dafür geeignet ist, Misstrauen und Angst abzubauen.“ An anderer Stelle mahnte er: „unsere Macht allein reicht nicht aus, um uns zu beschützen, und sie gibt uns auch nicht die Erlaubnis, zu tun, was immer wir wollen. Vielmehr wussten sie [vorherige Generationen], dass unsere Macht durch deren besonnene Nutzung wächst. Unsere Sicherheit erwächst aus der Gerechtigkeit unserer Sache, der Kraft unseres Beispiels, den mäßigenden Eigenschaften der Demut und Zurückhaltung“. Und an despotische Herrscher richtete Obama sich mit den Worten: „(…)wir werden euch die Hand reichen, wenn ihr bereit seid, eure Faust zu öffnen.“

Diese Vision hat Obama seit seinem Amtsantritt recht konsequent verfolgt. Seine Politik war folgerichtig, bleibt aber umstritten. So zeigen die vergangenen Jahre, dass auch Obamas Strategie der militärischen Zurückhaltung und seine Skepsis gegenüber externen Interventionen unbeabsichtigte Konsequenzen haben können. Der Krieg in Syrien zeigt in bitterer Klarheit, dass manche Konflikte einen auch dann heimsuchen, wenn man sich von ihnen abgewandt hat. Dass Nichthandeln ebenso schwere Folgen haben kann wie aktives Eingreifen, ist eine der bittersten Lehren, die Obamas Außenpolitik uns in Erinnerung ruft. Die Politik des partiellen Rückzugs aus dem  Nahen/Mittleren Osten hinterließ einen offenen Raum für die Eskalation gewaltsamer Konflikte, die von regionalen Akteuren angeheizt werden. Die aktuelle militärische Verbrüderung Russlands mit dem Assad-Regime zeigt, dass auch Putin sich ermutigt fühlt, seine regionalen Machtansprüche südlich des Mittelmeers wieder selbstbewusst einzufordern.

David Rothkopf, Geschäftsführer und Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy, untermauerte seine Kritik an Obamas Außenpolitik in einem Leitartikel kürzlich mit folgender These: “Große Führungspersönlichkeiten haben in der Vergangenheit oft gehandelt, weil sie sich dazu gezwungen sahen, auch wenn die Optionen wenige und die Auswirkungen unklar waren. Sie handelten, weil nur dadurch Schlimmeres verhindert werden konnte und Möglichkeiten entstehen konnten, die letztlich vielleicht zum Sieg führen würden. Das galt selbst für Situationen, in denen die USA nicht schuld waren an einer Krise, oder in der sie die Krise nicht alleine bewältigen konnten. Und es galt sogar dann, wenn es besser gewesen wäre, anderen Staaten oder internationale Organisationen die Federführung übernehmen zu lassen.”

Der verlorene Arabische Frühling

Am stärksten klafft Obamas visionäre Rhetorik mit der Wirklichkeit auseinander, wenn man die Unterstützung der US-Administration für ausländische Demokratiebewegungen unter die Lupe nimmt. In seiner Grundsatzrede zum Arabischen Frühling vom Mai 2011 kündigte Obama an, die Unterstützung der Demokratisierungsprozesse zu einer „Top-Priorität” seiner Administration zu machen, die sich in „konkrete Handlungen“ übersetzen und „mit allen diplomatischen, ökonomischen und strategischen Mitteln“ untermauert werden sollte.

Tatsächlich bot sich recht schnell ein anderes Bild. Die amerikanische Haltung gegenüber dem Sturz Mubaraks durch eine zivile Protestbewegung war ebenso ambivalent wie gegenüber der Regentschaft des demokratisch gewählten Muslimbruders Mursi und dem folgenden Militärputsch. Offenkundig konnte sich die Administration nicht zwischen machtpolitischem Pragmatismus und dem Beharren auf demokratischen Standards entscheiden. So verlor sie Autorität nach allen Seiten. Aus Sorge um die guten Beziehungen zum ägyptischen Militär – ein vermeintlicher Stabilitätsanker in einer zunehmend chaotischen Region – äußerte die Obama-Administration seither nur zurückhaltende Kritik an den massiven Menschenrechtsverstößen der Militärregierung unter Präsident Sisi. Die „große Besorgnis“ der Administration wirkte sich kaum auf die Finanz- oder Militärhilfe aus, die Ägypten nach Israel zum zweitgrößten Nutznießer amerikanischer Unterstützung im Nahen und Mittleren Osten macht. Es genügte, dass Sisi die russische Karte zog, um die USA an ihre begrenzten Optionen zu erinnern.

In Syrien hatte die Obama Administration Bashar Al Assad nichts als warnende Worte entgegenzusetzen, als dieser sich dazu entschloss, den friedlichen Demonstrationen mit Gewalt zu begegnen. Auch gegen die gewaltsame Zerschlagung der Demonstrationen in Bahrain durch die staatlichen Sicherheitskräfte protestierte die US-Regierung aus Rücksicht auf ihren Verbündeten Saudi Arabien nur halbherzig. In Libyen und Tunesien bewirkten die Anschläge auf amerikanische diplomatische Einrichtungen im Jahr 2012  einen überstürzten Rückgang des US-Engagements. Und der Reformdruck auf die Bündnispartner Jordanien und Marokko dauerte aus Sorge um die Stabilität der Amerika-freundlichen Regierungen nicht lange an.

Der Fairness halber gilt zu betonen, dass die rasanten Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten eine ständige Neujustierung der Politik bedingten, mit der die USA die Demokratiebewegungen zu unterstützen versuchte. Der Schlingerkurs der Obama-Administration war also zumindest teilweise ein Spiegelbild der unübersichtlichen Entwicklungen vor Ort. Auch sollte man sich davor hüten, Allmachtsphantasien zu erliegen, die die Einflussmöglichkeit der USA auf den Verlauf des Arabischen Frühlings überschätzen. Dessen Entwicklung wurde in erster Linie durch hausgemachte Faktoren bestimmt, zumal ein Teil der Demokratiebewegung sich explizit gegen jegliche Einmischung von außen ausgesprochen hatte. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Obama-Administration zügig wieder zum business as usual überging, nachdem die Demokratiebewegungen zurückgeworfen wurden. Nach und nach ließ sich in den vergangenen Jahren beobachten, wie die Formel „Stabilität oder Demokratie“ auch in der Obama-Administration wieder rehabilitiert wurde.   

Alptraum Syrien

Niemand kann ernsthaft behaupten, die goldene Antwort auf den syrischen Alptraum parat zu haben. Nach viereinhalb Jahren Krieg kann Obama nur noch zwischen schlechten und schlechteren Optionen wählen. Ob ein frühes und entschiedenes Eingreifen der USA und seiner Verbündeten dem Massenmord Assads an seinen eigenen Bürgern hätte Einhalt gebieten können, bleibt im Reich der Spekulation. Den Vorwurf aber, dass Obama den Schutz von Zivilisten nie ins Zentrum seiner Syrien-Politik gerückt hat, wird der Präsident nur schwer entkräften können. Trotz der mangelhaften Handlungsoptionen, die Obama zur Verfügung standen, sind sein Wankelmut mit Blick auf die „rote Linie“, die er beim Einsatz von Chemiewaffen gezogen hatte, seine späte und zögerliche Unterstützung für die moderaten syrischen Rebellen und seine Absage an die Sperrung des syrischen Luftraums zum Schutz der Zivilbevölkerung der größten Schandfleck seiner Präsidentschaft – nicht nur unter moralischen, sondern auch unter realpolitischen Gesichtspunkten.

Die Gründe für Obamas Zurückhaltung sind sicher vielschichtig. Einige Kommentatoren vertreten den Standpunkt, dass Obama schlicht nie daran geglaubt hat, das Massensterben in Syrien ohne einen massiven Einsatz amerikanischer Bodentruppen stoppen zu können. Andere weisen darauf hin, dass sein oberstes Ziel seit Jahren das Iran-Nuklearabkommen war und er die Verhandlungen durch eine Konfrontation mit Bashar al Assad nicht gefährden wollte. Der Iran ist bekanntlich neben Russland seit Jahren der wichtigste Schutzpatron des syrischen Despoten.   

Obamas Vermächtnis

Welche Welt wird Obama seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin im Jahr 2017 hinterlassen? Angesichts der krisengeschüttelten arabischen Welt, der Verstaatlichung der Terrororganisation IS, einem inzwischen massiv bewaffneten nuklearen Nordkorea, dem schwelenden Krieg in der Ukraine  und zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer kann das Iran-Abkommen lediglich als Teilerfolg gewertet werden. Natürlich sind nicht alle Krisen dieser Welt Obama anzulasten. Im Mittleren Osten aber haben der übereilte Rückzug aus dem Irak und Obamas Passivität in Syrien ein Machtvakuum hinterlassen, das Regionalmächten wie dem Iran und zum Äußersten entschlossenen Akteuren wie dem IS in die Hände gespielt hat. Auch wenn der partielle Rückzug  der USA aus der Region von lauteren Absichten getrieben war, gestattet die internationale Ordnung eben keinen luftleeren Raum. Die Wahrnehmung unter Amerikas Partnern und Widersachern, dass die USA sich zunehmend aus dem Weltgeschehen zurückziehen, sät Unsicherheit auf der einen und ein aggressiveres Auftreten auf der anderen Seite. Bemühungen zur Rückversicherung von Amerikas Partnern halten Außenminister Kerry und seine Diplomaten derzeit folglich verstärkt in Atem.

In einem Kommentar zu Obamas Klima-Politik fragte der amerikanische Professor Timmons Roberts kürzlich, ob es möglich sei, Obama auf die eine Wange zu küssen, während man der anderen eine Ohrfeige verpasst. Ähnlich nah liegen Enttäuschung und Respekt bei der Auswertung Obamas Sicherheitspolitik beieinander. Das Ringen um die Geschichtsschreibung jedenfalls hat längst begonnen.