Das große Comeback – Die Türkei dreht die Uhren zurück

Die AKP kann wieder alleinig die Regierung stellen, in der letzten Wahl hat sie an alte Erfolge angeknüpft. Die tiefe Spaltung des Landes, jedoch ist geblieben. Eine Wahlanalyse von Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul.

Um den Wähler/innen mehr Zeit zu geben, zu den Urnen zu gehen, hatte die türkische Regierung verfügt, die Umstellung auf Winterzeit bis nach den Wahlen auszusetzen. Ob es an der einen Stunde mehr lag, lässt sich wohl nicht beurteilen, aber mit einer Beteiligung von 84,2 Prozent gingen deutlich mehr Menschen (+2 Millionen) zur Wahl als noch im Juni diesen Jahres.

Ein Zurückdrehen der Zeit ganz anderer Art erfolgte dann aber am Wahlabend. Mit versteinerten Gesichtern verfolgten Anhänger und Anhängerinnen der Oppositionsparteien CHP und HDP die ersten Hochrechnungen. An den überraschend hohen Gewinnen für die AKP sollte sich im Laufe des Abends nichts ändern. Auch wenn die endgültigen Ergebnissen erst in ca. zwei Wochen vorliegen werden, so steht jetzt schon fest, dass die AKP ihre im Juni verlorene Mehrheit zurückgewonnen hat und mit über 49,3 Prozent (317 Sitze) wieder allein die Regierung stellen kann. Die CHP konnte nur leicht dazugewinnen (von 24.9 Prozent auf 25.4 Prozent; 134 Sitze), was bestätigt, dass sie trotz großer interner Reformen, das Wählerpotential ausgeschöpft hat.

Das Parlament ist auch dieses Mal wieder relativ divers aufgestellt, kann allerdings nicht ganz an die Wahlen vom Juni anknüpfen. Statt 97 Frauen sind dieses Mal nur 75 im Parlament vertreten (AKP: 32 von 317, CHP: 21 von 134, HDP: 19 von 54, MHP: 3 von 40).

Überraschungssieg auch für die AKP

Dieser Wahlausgang kommt für alle überraschend, nicht zuletzt für die AKP selbst, die noch am Vorabend verfügt hatte, dass es keine große Wahlparty geben sollte. Anscheinend hatte sie selbst nicht daran geglaubt, dass ihre eigene Strategie der militärischen Polarisierung und Dämonisierung des politischen Gegners aufgehen würde. Zwar war schon nach dem Bombenattentat von Ankara von Anfang Oktober die Zustimmungsrate der AKP leicht in die Höhe geschnellt, allerdings hatte man der AKP maximal 2-3 Prozent Zugewinn zugetraut und nicht ein Ergebnis, das nur wenig hinter dem Höhepunkt der AKP-Geschichte, der Parlamentswahl von 2011 (49,8 Prozent) zurückbleibt.

Last Minute Wähler/innen

Wie und warum alle Umfragen so danebenliegen konnten, wird noch zu diskutieren sein. Klar ist, viele Wähler und Wählerinnen haben sich erst in letzter Minute entschieden, doch noch ihre Stimme der AKP zu geben. Die AKP hat dabei vor allem von vier Faktoren profitiert:

  1. Eine allgemein höhere Wahlbeteiligung, sowohl im In- als auch im Ausland (+200.000/ 32.000 mehr Wähler/innen zugelassen seit Juni 2015). Viele AKP Unterstützer/innen, die noch im Juni zu Hause geblieben waren, wussten, dass sie das Zünglein an der Waage werden könnten und eilten daher zu den Urnen.
  2. Wechselwähler/innen, die noch im Sommer die ultra-nationalistische MHP unterstützt hatten straften deren Verweigerungskurs (Die MHP hatte nach den Wahlen jegliche Koalitionsgespräche mit der AKP abgelehnt, obwohl sich große Teile ihrer Parteibasis dafür ausgesprochen hatten) ab und belohnten gleichzeitig die AKP für den harten militärischen Kurs gegen die Kurd/innen.
  3. Gleichzeitig fielen der AKP Stimmanteile von rechten und islamistischen Kleinstparteien, wie der ehemaligen AKP-Schwesterpartei Saadet zu.
  4. Konservative Kurd/innen, die im Sommer angesichts des AKP Schlingerkurses zum Friedensprozess zur HDP gewechselt waren, kamen wieder zur AKP zurück.

Die links-kurdische HDP hat im Vergleich zum Juni gut eine Million ihrer Stimmen verloren, die meisten davon an die AKP. Es ist offensichtlich, dass die AKP es geschafft hat auch unter den Kurdinnen und Kurden erfolgreich um Stimmen zu werben. Selbst in der heimlichen Hauptstadt der kurdischen Gebiete Diyabakir kam die AKP noch auf 21,4 Prozent. Die HDP-Spitze führte am Wahlabend richtigerweise an, dass sie aufgrund der Angriffe auf sie und ihre Parteiinfrastruktur so gut wie keinen Wahlkampf habe führen können. Man muss allerdings auch annehmen, dass der Grund, warum sich so viele der gerade erst neu gewonnen Wähler/innen wieder von ihr abgewandt haben, wesentlich mehr mit dem Wideraufflammen des Krieges im Südosten zu tun hat.

Satbil, aber undemokratisch

Gründe für diesen Wahlausgang gibt es viele. Die Unfähigkeit der Oppositionsparteien aufgrund der Weigerung der MHP zusammen zu agieren ist sicher einer davon. Nicht zuletzt aber haben sich die Wähler/innen, gerade auch unter den konservativen Kurd/innen entschieden, dass sie eher mit einer stabilen, wenn auch undemokratischen AKP leben können, als mit einer instabilen Koalition, die sie in den Bürgerkrieg zurückwirft. Die AKP hat diesen Wahlkampf durch ein Anheizen des Kurdenkonflikts und ein Befeuern der gesellschaftlichen Polarisierung zu einer Entscheidung über die Stabilität des Landes gemacht. Gerade die schwierige wirtschaftliche Lage – die türkische Lira hatte seit Juni massiv an Wert verloren und erholt sich erst seit der Wahl langsam – hat viele Haushalte schwer belastet.

Vielen Türkinnen und Türken sind die unruhigen Jahre der letzten Koalitionsregierungen vor der AKP noch gut in Erinnerung. Die Sicherheitslage, die sich in Folge des Konflikts mit der PKK massiv verschärft hatte, ließ angesichts der Kriege in der nahöstlichen Nachbarschaft die Furcht aufkommen, dass auch die Türkei sich weiter destabilisieren könne. Nicht nur viele AKP-Stammwähler/innen folgen dabei der Interpretation der Regierung und schreiben der PKK die Hauptverantwortung für den Konflikt zu. Obwohl die HDP Schritte unternommen hat, um sich weiter von der PKK zu distanzieren und zu einem Ende der Gewalt aufrief, war dies für viele nicht genug. Die Tatsache, dass die Kämpfe von der PKK-Jugend zum ersten Mal auch in die Städte hineingetragen wurden und durch das rücksichtslose Vorgehen der Sicherheitskräfte und der PKK die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen haben, hat dafür gesorgt, dass sich auch viele kurdische Wähler/innen wieder für die AKP entschieden haben.

Der Friedensprozess soll wieder aufgenommen werden

Die Tatsache, dass Premierminister Davutoğlu bei seiner Siegesrede davon sprach, dass er zwar den Terror bekämpfen, den Friedensprozess aber wieder aufnehmen wolle, zeigt, dass die harte Rhetorik und das Bedienen nationalistischer Ressentiments der AKP im Wahlkampf rein taktischen Erwägungen folgte. Den Friedensprozess einfach wieder dort aufzunehmen, wo er im Sommer abgebrochen wurde, dürfte allerdings schwierig werden, dafür hat der AKP-Wahlkampf zu viel verbrannte Erde hinterlassen. Außerdem bestehen die regionalen Faktoren mit einer starken PKK in Syrien und im Irak unvermindert fort. Die AKP wird weiterhin vor der Wahl stehen, ob sie lieber die neugewonnenen nationalistischen Wähler/innen der MHP oder aber die Kurd/innen dauerhaft an sich binden will. Mit Ersteren wird ein Friedensprozess nicht zu machen sein.

AKP: Die Partei der kleinen Leute

Für Beobachter/innen aus Europa ist es oft schwer nachvollziehbar, wie die AKP trotz aller politischen Verfehlungen der letzten Jahre immer noch Erdrutschsiege wie diesen einfahren kann. Dabei wird oft übersehen, dass die AKP nicht nur wesentlich besser organisiert ist, als alle anderen Parteien, über enorme finanzielle Ressourcen und ein staatliches Patronagenetzwerk verfügt, sondern auch immer noch am wirkungsvollsten traditionelle Trennlinien der türkischen Bevölkerung überwinden kann. Zwar hat sie bei letzterer Eigenschaft durch den radikalen Kurs der letzten Jahre stark eingebüßt, aber sie lebt trotz fast 13 Jahren an der Macht immer noch von dem Nimbus, die Partei der kleinen Leute zu sein. Dies ist ein Ruf, den so allerhöchstens noch die HDP beanspruchen kann, aber die ist nicht nur wegen ihrer kurdischen Kernidentität für viele Türkinnen und Türken nicht wählbar. Auch das ihr von der AKP angedichtete Stigma, dass es sich bei ihren Parteigängern nicht um Muslime handeln würde, sitzt tief.

Herausforderungen der nächsten Jahre: Kriege, Flüchtlinge und Arbeitslosigkeit

Nach einem regelrechten Wahlmarathon könnte die Türkei jetzt theoretisch erst einmal zur Ruhe kommen. Allerdings bestehen viele der politischen Herausforderungen im Land (Flüchtlingssituation, Kriege im Irak und Syrien, steigende Arbeitslosigkeit etc.) fort. Gerade eine Reform der Wirtschaftspolitik, die dringend notwendig wäre um eine drohende „middle income trap“ zu vermeiden, wird für die AKP schwierig durchzusetzen sein, hieße dies doch dem eigenen Patronagenetzwerk das Wasser abzugraben.

Bewegungsmöglichkeiten könnte es ggf. bei der Außenpolitik geben, da führende Köpfe wie Premierminister Davutoğlu, der durch den Wahlsieg gestärkt ist, erkannt haben, dass die aktuelle ideologisch orientierte Politik zu einer Isolierung der Türkei geführt hat. Ob sich Davutoğlu, der sich als zweiter Machtpol in der AKP etablieren könnte, hier durchsetzen kann, wird aber, genau wie auch bei anderen Themen davon abhängen, ob er den Konflikt mit Erdoğan überhaupt suchen wird. Bisher war dies nicht der Fall.

Weiterhin ist das große Projekt der AKP, eine Verfassungsreform, natürlich noch nicht vom Tisch. Auch wenn sich die Partei im Wahlkampf darum bemüht hatte, die selbst bei einigen der Wähler/innen unbeliebte Umwandlung in eine Präsidialrepublik nicht mehr in den Mittelpunkt zu stellen, so machten die AKP-Spitzen bei ihren Siegesreden klar, dass sie nach wie vor daran festhalten. Die notwendige 3/5 Mehrheit (330 Sitze) für eine Änderung mit Hilfe eines Referendums verpasste die AKP knapp um 13 Sitze, die 2/3 Mehrheit (367 Sitze) für eine Änderung ohne Referendum liegt in weiter Ferne. Ob die AKP allerdings bereit ist anderen Fraktionen weitgehende Angebote zu machen, um die benötigten Stimmen aus der Opposition zu lösen, bleibt abzuwarten.

Trotz der großen Mehrheit, die für die AKP gestimmt hat, kann leider nicht davon die Rede sein, dass das Land enger zusammenrücken würde. Für viele der Wechselwähler/innen war es wohl eine pragmatische Wahl. Die tiefe Spaltung des Landes könnte nur die AKP durch ein konsequentes Zugehen auf die Opposition und andere Gruppen wirkungsvoll bekämpfen. Konziliante Töne des Premierministers deuten durchaus in diese Richtung. Ob die AKP auch bereit ist diese Worte mit einem radikalen Politikwechsel zu unterfüttern, den auch der Präsident mittragen würde, bleibt hingegen fraglich.