Kräftig durchgeschüttelt: Frankreichs Parteiensystem im Umbruch

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Wahllokal in Frankreich (Archivbild 2014)

Der einseitige Rückzug der Sozialisten in einigen Regionen zugunsten der Konservativen hat den Front National zwar eingedämmt, doch in absoluten Zahlen konnten die Rechtsradikalen deutliche Stimmenzuwächse erzielen. Eine Analyse.

Das Erdbeben blieb aus, aber knallende Champagnerkorken gab es auch nicht. Mit einer deutlichen Mobilisierung und einer für Regionalwahlen ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung haben die Französinnen und Franzosen das Schlimmste verhindert, dem rechtsextremen Front National (FN) gerade noch einmal einen Korb gegeben und ihm nicht eine der 13 neuen Groß-Regionen überlassen.

Die konservativen Republikaner konnten sieben Regionen erobern, darunter knapp die wichtige Île-de-France, den Großraum von Paris. Die Sozialisten waren in unterschiedlichen Bündnissen mit den Grünen, den Kommunisten und der Linkspartei in vier Regionen erfolgreich, eine eroberten sie im Alleingang. Korsika ging an die für Unabhängigkeit streitenden Nationalisten. Also alles gut, wie gehabt und jetzt dann einfach so weiter? Die von der Pariser Zentrale verordnete und zügig durchgesetzte Reduzierung der 22 Regionen auf nur noch 13 verdaut und damit doch für gut befunden? Mitnichten. Das französische Parteiensystem wurde heftig durchgeschüttelt und steht vor einem tiefgreifenden Umbruch. Die den demokratischen und republikanischen Werten verpflichteten Parteien stehen 17 Monate vor den Präsidentschafts- und den anschließenden Parlamentswahlen vor grundlegenden Richtungsentscheidungen: Welche Strategie? Welche Positionierung und Aufstellung? Welches Kraut braut das Zaubermittel gegen den so unaufhaltsam erscheinenden Aufstieg des Front National?

Ausgerechnet dort, wo Frankreich genau einen Monat vor dem zweiten Wahlgang vom 13. Dezember 2015 tief getroffen und verwundet wurde, haben die Parolen des FN am wenigsten verfangen: Im 11. und 10. Arrondissement von Paris, wo am 13. November 2015 die furchtbaren Anschläge auf die Konzerthalle Bataclan, auf Cafés und Restaurants stattgefunden haben. Dort hat der FN sein schlechtestes Ergebnis eingefahren: Nur um die fünf Prozent hat die Partei von Marine Le Pen hier bekommen. Die französischen Grünen, Europe Écologie – Les Verts, bekamen mit ihrer Parteivorsitzenden Emmanuelle Cosse hier im ersten Wahlgang um die 15 Prozent.

Stimmenrekord für den Front National

Ganz anders das Bild in weiten Teilen Frankreichs, vor allem in den ländlichen Regionen, in vielen Dörfern und kleineren Städten: Mit 6.820.147 Wählerstimmen konnte die Partei von Marine Le Pen einen neuen Stimmenrekord erzielen, kam auf über 28 Prozent der Stimmen. Erstmals werden in allen 13 Regionalräten Vertreter des FN sitzen, insgesamt 358. Aber der symbolisch so wichtige und vorab von den Anhängern des Front National schon fast gefeierte Sieg in mindestens einer Region fiel aus. Diesmal noch. Dank des „Chirac-Effekts“ von 2002, als Jacques Chirac im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen gegen Jean-Marie Le Pen stand. Durch viele Wählerinnen und Wähler des linken Spektrums, der Sozialisten und Grünen, die auch dieses Mal wieder zähneknirschend die konservativen Kandidaten im Norden, in Nord-Pas-de-Calais-Picardie, und im Süden, in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, wie auch in der Region Elsass-Champagne-Ardennen-Lorraine gewählt haben. Nachdem dort auf Anweisung aus Paris die Sozialisten ihre eigenen Listen zurückgezogen hatten, zumindest im Norden und Süden. Premierminister Manuel Valls hatte die „Republikanische Front“ ausgerufen und kurz vor dem zweiten Wahltermin vor einem „Bürgerkrieg“ gewarnt, sollte der FN eine Region erobern. Regionalräte des linken Spektrums wird es in den nächsten sechs Jahren in der Nord- wie der Süd-Region nicht geben.

Aufgehalten werden konnte der FN dann vor allem durch eine um fast zehn Prozent gegenüber dem ersten Wahldurchgang gestiegene Wahlbeteiligung von 58,5 Prozent, ein trotz aller Unkenrufe für Regionalwahlen erstaunlicher Wert. An den politisch deutlich bedeutsameren Landtagswahlen im deutschen Föderalismus beteiligen sich im Durchschnitt lediglich um die 50 Prozent.

Feixend und demonstrativ gut gelaunt tat Marine Le Pen am Wahlabend alles, um die Wahl als Erfolg zu feiern, obwohl noch einmal zurückgestoßen von den Präsidentensesseln der Regionen. Der Ausgang wurde flugs umgemünzt als vermeintlicher Beleg für den angeblich so „aufrechten“ Kampf gegen das Establishment, „allein gegen alle“ habe man dieses Ergebnis erreicht, gegen die etablierten Kräfte, die „in den goldenen Palästen“ sitzen.

Auch wenn gerade noch einmal verhindert wurde, dass erstmals eine rechtsextreme Partei alleine eine oder sogar mehrere Regionen in Europa regieren würde, kam der Erfolg des FN weder überraschend noch ist bislang abzusehen, wie der kontinuierliche Anstieg in der Wählergunst gestoppt werden kann. Auf dem Nährboden der wirtschaftlich unverändert sehr schwierigen Lage in Frankreich mit einer Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent gedeihen Frustrationen, Perspektivlosigkeit und Abstiegsängste. Die rechtspopulistische Mischung von Marine Le Pen aus nostalgischer Verklärung eines vermeintlich glorreichen Frankreichs vergangener Zeiten, ohne Europa und Globalisierung, zu dem es schlicht zurückzukehren gelte, gepaart mit Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und Islamophobie sowie Radikalopposition gegen „die-da-oben“, gegen die etablierten Kräfte und Institutionen, hat sich aus Sicht des FN ausgezahlt. Kombiniert mit dem neuen Deckmäntelchen der „Salonfähigkeit“, der langfristigen Strategie der Parteichefin, unterstrichen durch eine wochenlange Soap-Opera im Dauerkonflikt mit dem Vater und Parteigründer als uneinsichtigen Hardliner.

Während der FN sich in seinem Kurs bestätig fühlt, steht dieser bei allen anderen Parteien in Frage. Wobei noch offen ist, welche Konsequenzen daraus tatsächlich gezogen werden.

Listenabsprachen führten de facto zu Großer Koalition

Die in Frankreich traditionelle und fast schon liebevoll gepflegte Aufteilung der politischen Landschaft in links und rechts erscheint überholt. Große Koalitionen sind links des Rheins allerdings bislang kaum vorstellbar, die zeitwiese erzwungene Cohabitation, in der etwa eine Links-Regierung einem konservativen Präsidenten gegenüberstand und mit ihm zusammenarbeiten musste, waren ungeliebte Ausnahmen, die durch die Zusammenlegung der Amtsperioden von Parlament und Präsidenten in Zukunft verhindert werden sollten. Und jetzt das: Linke wie bürgerliche Rechte stehen gemeinsam dem vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg des Front National gegenüber. Diesmal noch hat der Ex-Präsident und Parteichef der Republikaner, Nicolas Sarkozy, ein Zusammengehen mit den Sozialisten ausgebremst. „Kein Rückzug, keine Fusion von Listen“ lautete seine Parole, aufrechterhalten auch nach dem ersten Wahlgang. Listen-Rückzug der Sozialisten und Wahlaufruf für die konservativen Kandidaten führten de facto allerdings zu einer um Unterstützer der Grünen, der Kommunisten und der Linkspartei erweiterten Großen Koalition als Bollwerk gegen den Front National. Dafür mutierten selbst rechte Scharfmacher wie der Kandidat der konservativen Republikaner an der Côte d’Azur, Christian Estrosi, innerhalb nur einer Woche zu moderaten Zentrumspolitikern, zu Verteidigern der Kulturszene und von Vereinen und Organisationen, die für Frauenrechte eintreten. Die Mitte gewinnt, könnte eine der Lehren dieser Wahl sein, die auch Präsident François Hollande mit seinem bis hin zu rechts von der Mitte verschobenen Kurs nach den Attentaten zu beherzigen scheint.

Schrammen für die Sozialisten

Trotz der großen Unterstützung der Französinnen und Franzosen für die Maßnahmen ihres Präsidenten nach den Terroranschlägen und der um über 20 Prozent sprunghaft angestiegenen Popularität Hollandes – allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Sockel – bekamen die regierenden Sozialisten im ersten Wahlgang nur 23,48 Prozent und konnten nur fünf Regionen erobern. Vier davon allerdings nur dank flugs vereinigter Listen, unter anderem mit den Grünen. Nur in der Normandie hatte der landesweit bekannte Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian eine Fusion mit anderen Listen ausgeschlagen und den Sieg alleine eingefahren. Selbst der international gefeierte Erfolg bei der Klimakonferenz in Paris, den Frankreichs Außenminister Laurent Fabius mit einem Hammerschlag noch am Samstagabend kurz vor halb acht geschickt herbeigeführt hatte – und damit noch zur besten Sendezeit für die TV-Abendnachrichten - konnte nur dazu beitragen, dass aus der Schramme kein Beinbruch wurde. Bemerkenswert ist allerdings, welch positive Folgen für den internationalen Klimaschutz eine vor allem innenpolitisch dominierte Handlungslogik auch haben kann.

Grüne ohne schlüssige Strategie

Mit ihrer Strategie, sich mit eigenen Listen in Opposition zu der Regierung Hollande/Valls aufzustellen, haben sich die französischen Grünen wie auch die Linkspartei und die Kommunisten blutige Nasen geholt. Den Grünen, die bei den Regionalwahlen traditionell stark sind und 2010 im ersten Wahlgang ein landesweites Ergebnis von 12,18 Prozent erzielen konnten, gelang es nicht mit einer schlüssigen Strategie auf die völlig veränderte Debattenlage nach den furchtbaren Attentaten vom 13. November 2015 zu reagieren. Trotz der Tatsache, dass ihr Kernthema Klimaschutz aufgrund der internationalen Klimaschutzkonferenz zuletzt im Fokus der Öffentlichkeit stand. Besetzt wurde das Thema jedoch vor allem durch die Regierung und den Verhandlungsführer Laurent Fabius. Am vergangenen Samstagabend ließ es sich Präsident Hollande selbst nicht nehmen, das Klimaschutz-Abkommen als „Revolution“ zu feiern und in eine historische Linie mit den wegweisenden Revolutionen in der französischen Geschichte zu stellen. Der Ausweitung des Ausnahmezustandes wie dem Einsatz in Syrien hatten die Grünen in den Wochen nach den Terroranschlägen mehrheitlich zugestimmt. Der Versuch einiger Kandidaten, etwa der Kandidatin in der Nordregion, Sandrine Rousseau, in diesem Zusammenhang die Linie zu fahren, dass man mit Blick auf die Sicherheitsdiskussion vor allem auch das Sicherheitsrisiko Klimakrise im Blick haben müsste, ging gründlich schief. In der Region um Lille blieben die Grünen sogar knapp unter 5 Prozent, sie bekommen damit auch keine Wahlkampfkostenerstattung. In einer Brandmail an die Unterstützer bat die Spitzenkandidatin Sandrine Rousseau dort um schnelle Hilfe in der Höhe von 200.000 Euro, um finanzielle Forderungen der Partei erfüllen zu können.

Landesweit sieht es für die Grünen nicht viel besser aus. Im ersten Wahlgang bekamen sie nur noch 6,81 Prozent, damit werden sie nur noch in sieben der dreizehn Regionalräten vertreten sein. Von 265 Regionalräten aus den Wahlen von 2010 bleiben gerade noch einmal um die fünfzig nach den Wahlen von Sonntag übrig. Die Frage einer Zusammenarbeit mit den Sozialisten, die einer der Konfliktpunkte war, die zu einer Spaltung der französischen Grünen im vergangenen Sommer geführt hatte, wird sich nun noch einmal neu und ganz anders stellen. Es erscheint fast, dass nur noch die Wahl bleibt, in der einen oder anderen Form in einem breiteren Linksbündnis zu kooperieren oder weiter im Alleingang innerhalb des französischen Mehrheitswahlrechtes völligen Schiffbruch zu erleiden.

Kursdebatte bei den Konservativen

Auch wenn das innerhalb der Konservativen bereits unter der Hand angekündigte Scherbengericht über Ex-Präsident und Parteichef Nicolas Sarkozy angesichts des Erfolgs in sieben Regionen, darunter des so wichtigen Großraums von Paris, erst einmal ausfiel, ist die Kursdebatte auch bei den konservativen Republikanern in vollem Gange. Mit seiner Strategie, dem FN bei den Themen wie im Ton Konkurrenz zu machen, ist Parteichef Sarkozy gründlich baden gegangen. Mit nur 27,08 Prozent lag sein Rechtsbündnis im ersten Wahlgang hinter dem FN, der 28,42 Prozent erzielte. Darüber können auch die dank der Stimmen aus dem linken Lager landesweit erzielten 40,55 Prozent im zweiten Wahlgang nicht hinwegtäuschen.

Der traditionelle Reflex, bei den Regionalwahlen auf die jeweilige konservative bzw. sozialistische Opposition zur Regierung zu setzen, der noch 2010 zugunsten der Sozialisten gegen die Sarkozy-Regierung funktioniert hatte, fiel diesmal aus. Den Rang als Oppositionsführer kann der FN für sich beanspruchen. Auch der Versuch von Sarkozy in der letzten Woche, dem FN die Wähler abzuschmeicheln, lief ins Leere: Der FN konnte in absoluten Stimmen noch einmal zulegen. Am Ende entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler doch offenkundig lieber für das Original. Es wäre gegenwärtig sicher auch für die CSU und Teile der CDU lohnenswert, dieses gescheiterte Experiment im Nachbarland genauer unter die Lupe zu nehmen. Der schärfste Rivale von Sarkozy, Alain Juppé, Bürgermeister von Bourdeaux, der in landesweiten Umfragen als Präsidentschaftskandidat vorne liegt, sieht sich in seinem Plädoyer für einen moderaten Kurs der Mitte als Antwort auf den FN gestärkt. Wie auch der ehemalige Premierminister Francois Fillon, der ebenfalls seinen Hut für die geplanten Urwahlen für die Präsidentschaftskandidatur bei den Konservativen in den Ring geworfen hat. Interessant war zu beobachten, wie der Kandidat der Konservativen, Christian Estrosi, an der Côte-d’Azur mit einem stark an den FN angelehnten Kurs im ersten Wahlgang weit abgeschlagen hinter Marion Maréchal-Le Pen landete und schließlich für den zweiten Wahlgang in Windeseile zum Mann der Mitte mutierte.

Ein Parteiensystem in Bewegung und spannende Debatten sind vorprogrammiert. Die gemeinsame große Herausforderung für alle demokratischen Parteien wird sein, dem FN den Nimbus zu nehmen, mit maximal schlichten Antworten und simplen Schemata die Gegenwartsfragen lösen zu können und sich als vermeintlich einziger Anwalt für die wirklichen Problem der Bürgerinnen und Bürger inszenieren zu können.

Entwicklungen könnten auch Deutschland einholen

Erstaunlich ist allerdings auch, in welcher Art und Weise gegenwärtig gerne von Deutschland aus mit dem Finger nach Frankreich gezeigt wird: Das vermeintliche Versagen der Eliten dort, die Pfründe der politischen Klasse aufgespießt werden. Auch wenn das nur ein Faktor für das Erstarken des Front National ist, so hat nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 und 2008 die Regierung Merkel die klare Entscheidung getroffen: Jeder in Europa muss sich selbst aus dem Schlammassel ziehen. Gemeinsames Unterhaken gibt es nicht. Ansätze und Vorschläge für gemeinsame europäische Antworten auf die Krise wurden zurückgewiesen. Auf die Dauer wird es aber nicht funktionieren, wenn es wirtschaftlich in Deutschland stetig aufwärts und beim engsten Partner und Nachbarn wirtschaftlich stetig bergab geht. Das wird auch Deutschland wirtschaftlich und politisch irgendwann einholen.

Erstaunlich ist auch, wie viele in Deutschland gegenwärtig meinen, es Frankreich gegenüber besser zu wissen: Angesichts des rasanten Aufstiegs der AfD unter ganz anderen, weit besseren wirtschaftlichen Bedingungen, besteht dazu wahrlich kein Anlass. Ganz zu schweigen davon, wie lange Marine Le Pen daran arbeiten musste, um den Anschein einer „Salonfähigkeit“ zu bekommen. In Deutschland wurde AfD-Chefin Frauke Petry in Rekordzeit sogar von der von ihr kontinuierlich als „Lügenpresse“ diffamierten Bundespresse zum honorigen Bundespresseball gebeten und konnte sich dort auf dem roten Teppich in aller Selbstverständlichkeit in Szene setzen.

Zu Besserwisserei, Arroganz oder auch nur bedauerndem Schulterzucken gegenüber Frankreich besteht wahrlich kein Anlass. Was beim engsten Partner und Nachbarn geschieht, geht uns an und wird uns früher oder später auch einholen.