Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze

Internationaler Gerichtshof
Teaser Bild Untertitel
Internationaler Gerichtshof (Public Domain)

Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien hat Vojislav Šešelj in allen Punkten von der Anklage freigesprochen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Das Humanitarian Law Center hält die Urteilsbegründung der Kammer rechtlich wie sachlich für haltlos.


 


Das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien im Fall Šešelj



Am 31. März 2016 hat der Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in erster Instanz Vojislav Šešelj, den Vorsitzenden der Serbischen Radikalen Partei (SRS), in allen Punkten von der Anklage freigesprochen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Eine Richterin der zuständigen Kammer schloss sich diesem Urteil nicht an und kritisierte es scharf. Das Humanitarian Law Center (HLC) hält den Freispruch für falsch, beruht er doch auf Befunden, die dem sonstigen Vorgehen des Strafgerichtshofs widersprechen, sowie auf einer Neubewertung der Vorfälle während des Kriegs, welche für die Opfer eine Beleidigung darstellt.


Die Anklage gegen Šešelj umfasste neun Punkte, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen wie Verfolgung, Deportationen, Mord, vorsätzliche Zerstörung, Zerstörung oder Schädigung von religiösen oder von Bildungseinrichtungen sowie die Plünderung von staatlichem und privatem Eigentum. Der Anklage zufolge war Šešelj Teil einer „gemeinschaftlichen verbrecherischen Unternehmung“, die es zum Ziel hatte, mit kriminellen Mitteln einen Großteil der kroatischen und moslemischen Bevölkerung sowie andere nicht-serbische Bevölkerungsgruppen dauerhaft aus Teilen von Kroatien, Bosnien-Herzegowina und der serbischen Provinz Vojvodina zu vertreiben. Vorgeworfen wurde Šešelj weiter, er habe den Plan verfolgt, „alle serbischen Gebiete“ zu einem einheitlichen serbischen Staat zusammenzufassen, einem von ihm sogenannten „Groß-Serbien“. Seine Tatbeteiligung an der gemeinschaftlichen verbrecherischen Unternehmung habe darin bestanden, Freiwillige für die SRS und / oder die serbischen Tschetniks anzuwerben, und entsprechende Einheiten aufzustellen, auszustatten, zu finanzieren, zu unterstützen und anzuführen. Zudem soll er durch die Verunglimpfung Anderer und durch Hetzreden in den Medien und bei öffentlichen Auftritten sowie bei Besuchen von Freiwilligeneinheiten und anderen serbischen Truppen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina diese Truppen dazu aufgestachelt haben, Verbrechen zu begehen. Die Anklage warf Vojislav Šešelj vor, seine Hetzreden sowie seine Handlungen, beziehungsweise das Unterlassen von Handlungen, hätten erst dazu beigetragen, dass sich die Täter zu den ihren vorgeworfenen Straftaten entschlossen.


Auf Grundlage des zusammenfassenden Kurztextes des Urteils (der vollständige Text liegt bislang weder auf Serbokroatisch noch auf Englisch vor) hält das Humanitarian Law Center die Urteilsbegründung der Kammer rechtlich wie sachlich für haltlos. Was die rechtlichen Schlussfolgerungen betrifft, stellt die Kammer fest, die Reden von Vojislav Šešelj, die Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung waren, stellten keine Anstiftung dar, Kriegsverbrechen zu begehen. Die Kammer befand, eine Rede, in der sich Šešelj im Parlament gegen die Kroaten in Serbien äußerte, und in welcher er unter anderem sagte: „Natürlich werden wir euch nicht umbringen. Wir werden euch einfach in Lastwagen und Züge stecken, und dann könnt ihr zusehen, wie ihr in Zagreb zurechtkommt“ stelle keine Anstiftung zu einem Verbrechen dar, da sie „keine messbaren Folgen“ gehabt habe. Anders gesagt, der Kammer zufolge ist es „der Anklage nicht gelungen zu belegen, dass seine Rede Anlass für die Vertreibung der Kroaten war und zu der systematischen Verfolgung führte, von der die Anklage spricht.“ Nach Ansicht des Humanitarian Law Center muss die Anstiftung zu Kriegsverbrechen sowie zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber auch dann strafbar sein, wenn es zu den jeweiligen Verbrechen gar nicht kam – wie beispielsweise in Fällen, in denen zum Völkermord angestiftet wurde (siehe die Fälle vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda gegen Akayesu (Punkt 562) sowie Nahimana u.a. (Punkt 1013). Außerdem kam es, kurz nach den Reden von Šešelj, zur Vertreibung der Kroaten aus der Vojvodina.


Der Gerichtshof stellte weiter fest, „der Anklage sei es nicht hinreichend gelungen zu beweisen, dass es in weiten Teilen Kroatiens sowie Bosnien-Herzegowinas zu umfassenden, systematischen Angriffen gegen die nicht-serbische Bevölkerung gekommen sei, namentlich in den Stadtgemeinden von Vukovar, Zvornik, der Gegend von Sarajewo und in den Stadtgemeinden von Mostar und Nevesinje“, und zwar in der Zeit von 1991 bis 1993, und „es fehle an den entscheidenden rechtlichen Beweisen für eine strafrechtliche Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Diese Schlussfolgerung widerspricht dem, was der Internationale Strafgerichtshof in einer Reihe früherer Fälle festgestellt hatte, namentlich in seinen Urteilen gegen Karadžić (Punkt 2444), Mrškić u.a. (Punkt 472), Krajišnik (Punkt 710), Stanišić and Župljanin (Punkt 1673) sowie Brđanin (Punkt 161). Bei diesen Urteilen hatte der Strafgerichtshof befunden, es sei in den auch im Fall Šešelj aufgeführten Gemeinden während des betreffenden Zeitraumes zu umfassenden und / oder systematischen Angriffen gekommen. Hinzu kommt, der Schluss der Kammer, es sei zu keinen umfassenden oder systematischen Angriffen gekommen, welche wesentlicher Bestandteil eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit seien, widerspricht der Tatsache, dass es, wie auch das Gericht einräumt, in den oben genannten Gemeinden zu mehren dutzenden Zwischenfällen kam und es Lager gab, in denen zahlreiche Verbrechen verübt wurden – etwas, das nicht einmal der Angeklagte bestritten hat.


Einige der Schlussfolgerungen, welche die Kammer aus den vorliegenden Fakten zog, „ergeben keinen Sinn“, wie Richterin Lattanzi in ihrem Minderheitsvotum erklärt. So widerspricht sie zum Beispiel auch jenem Teil der Urteilsbegründung, in dem die Mehrheit der Richter zu dem Schluss kam, es sei durchaus möglich, dass Busse, die zuvor in die von Angriffen betroffenen Gemeinden verbracht worden waren, um Zivilisten zu befördern, „in der Tat aus humanitären Gründen zur Verfügung gestellt wurden, damit die Zivilbevölkerung leichter aus Kampfgebieten, in denen sie sich nicht länger sicher fühlte, fliehen konnte.“ Die Mehrheit der Richter befand zudem, Šešeljs Aufrufe, Kroaten nicht zu töten, sondern sie aus Serbien zu vertreiben, stelle kein Verbrechen dar, sondern sei „Ausdruck eines alternativen politischen Programms“. Šešeljs öffentliche Aufrufe, die „Gegend von Ustaschas zu säubern“, sowie dass seine „Tschetnik-Brüder an den Balijas Rache nehmen“ mögen, standen, der Kammer zufolge, wahrscheinlich „im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen und hatten das Ziel, die Moral der Truppen seiner Seite zu stärken“. Das Fazit schließlich, bei dem „Plan, ein Groß-Serbien zu errichten, wie es Vojislav Šešelj vertrat, handele es sich vom Grundsatz her um ein politisches und kein kriminelles Unterfangen“ zeigt, dass die Kammer der Argumentation nachgegeben hat, es ginge hier um das „Recht zum Krieg“ (ius ad bellum) – und damit um einen Gesichtspunkt, der nicht in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fällt. Die Kammer hat hierdurch einem derartigen „politischen Programm“ Legitimität gegeben – einem Programm, dem zehntausende Menschen zum Opfer fielen, durch Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.


Richterin Lattanzi hat auf diese umstrittenen Schlussfolgerungen hingewiesen und unterstrichen, der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien habe sich über sämtliche Regeln des Humanitären Völkerrechts hinweggesetzt, um zu einem Freispruch für Vojislav Šešelj zu kommen. Weiter schreibt sie: „Als ich das Urteil der Richtermehrheit las, fühlte ich mich um Jahrhunderte in eine Zeit zurückversetzt, als man sagte – und es waren die Römer, die so ihre blutigen Eroberungszüge sowie die Ermordung ihrer politischen Gegner im Bürgerkrieg rechtfertigten – ‚silent enim leges inter arma’ (Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze).”



Humanitarian Law Center, 1. April 2016


Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf der Seite von Humanitarian Law Center.


Übersetzung von Bernd Herrmann