"Kretschmann weigert sich, sich links zu nennen?" Peter Unfried im Gespräch mit Rudi Hoogvliet

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Rudi Hoogvliet

Der Baden-Württembergische Regierungssprecher Rudi Hoogvliet über die Grünen als führende Regierungspartei, die veränderte politische und gesellschaftliche Verortung und das nicht strategisch Planbare an Ministerpräsident Kretschmann.

Peter Unfried: Herr Hoogvliet, Sie sind seit fünf Jahren Regierungssprecher einer grün geführten Regierung. Seit wann ist das für Sie normal?

Rudi Hoogvliet: Ich freue mich immer noch jeden Tag, wenn ich in die Villa Reitzenstein, den Sitz des Ministerpräsidenten, einlaufe, aber es hat im Lauf der grün-roten Regierungsjahre eine gewisse Normalität erlangt. Jetzt ist es wieder ins Besondere katapultiert worden, durch ein Kabinett, das wir weiterhin anführen, jetzt mit der CDU.

Wie lange sind Sie mit Ministerpräsident Kretschmann ein Team?

Ich bin seit 2002 mit ihm unterwegs. Er war Fraktionsvorsitzender, ich kam damals nach einem Bundestagswahlkampf zurück aus Berlin und war in der Landtagsfraktion zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und strategische Beratung.

Seit dem Wahlsieg dieses Jahres mit den 30,3 Prozent hat Reinhard Bütikofer ein geflügeltes Wort geprägt: Es gehe für andere Grüne darum, Kretschmann zu kapieren, nicht zu kopieren. Wie lange haben Sie gebraucht, ihn zu kapieren?

Zwei Jahre. Die ersten beiden Jahre einer intensiven Zusammenarbeit waren von Reibungen geprägt, weil wir ein bisschen aneinander vorbei gesprochen haben. Der Grund war, dass wir aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Politik geschaut haben. Es hat gedauert, bis ich verstanden habe, was seine Prioritäten sind.

Was haben Sie kapiert?

Winfried Kretschmann ist stark wertegeleitet. Er hat klare Ziele und eine enorme Beharrlichkeit, diese Ziele zu erreichen. Von den Zielen und dem Wertekanon lässt er sich leiten. Er macht mal einen Schlenker, aber er weicht nicht davon ab. Es hat länger gedauert, bis ich verstanden habe, dass dieses Wertefundament, diese im wahrsten Sinne begründete Politik und die lange Linie, die sich daraus ergibt, etwas Besonderes sind. Dass das, was Kretschmann tut, tatsächlich sehr ernst und aufrecht gemeint ist. Die Leute nehmen ihm das ab. Von der politischen Währung Glaubwürdigkeit besitzt er viel.

Dann hat also er Sie erzogen?

Ja, hat er. Aber ich hoffe, er hat auch ein bisschen von mir profitieren können. Ich habe vielleicht die Instrumente an der Hand gehabt, um seine Art, Politik zu machen, bekannt zu machen. Er wusste ja sehr genau, wie er ist, aber er hielt sich lange für einen Exoten und hat damit gehadert. Er sei nicht geschaffen für diese Medienwelt und ihre Talkshows. Wir haben ihm beibringen können, dass es ein Alleinstellungsmerkmal und einmalig in der Politik ist, dass er diese Ecken und Kanten hat, sich eben nicht von Bild, BamS und Glotze leiten lässt und seine Politik begründen kann wie kaum ein anderer.

Die erste Frage der Grünen ist traditionell: Was bedeutet das für die Grünen? Sie scheinen sich das kaum noch zu fragen.

Das stimmt. Es geht um Baden-Württemberg. Wir regieren das Land, und grüne Zielsetzungen sind gut für das Land, das ist ja der Witz.

Würden Sie sagen, die Baden-Württemberg-Grünen sind Post-Realo-Fundis?

Diese Kategorien sind hier weitgehend überwunden, das ist verinnerlichte Realpolitik.

Viele verstehen nicht, warum die Kretschmann-Grünen eine Mehrheitsgesellschaft hinter sich gebracht haben. Inwiefern sind Sie auch anders in der Gesellschaft verortet, als es Grüne sonst sind?

Wir waren immer ein bisschen anders als viele andere Grüne, wir haben uns immer als Teil des Landes gefühlt, waren immer der Überzeugung und auch in der Lage, Bündnisse mit unterschiedlichen Kräften zu suchen und einzugehen, um Ziele zu realisieren. Die Zeit ist vorbei, in der man grüne Politik gegen starke Mächte durchpeitschen musste. Du kannst jetzt mit Wirtschaft und Kirchen grüne Politik umsetzen. Du hast Gegner, auch in der Wirtschaft, völlig klar, aber du hast auch viele, die ähnlich gelagerte Interessen haben und eine Chance sehen in grünen Produktlinien und Ressourceneffizienz. Das ist im Landesverband verinnerlicht und in der Regierung sowieso.

Warum fanden die Baden-Württemberger es sehr schnell normal, dass ein grüner Ministerpräsident regiert?

Weil er es gut macht. Das ist banal. Er setzt sich unbedingt für die Interessen des Landes ein, was auch heißt, er gleicht die Interessen aus.

Ihre Wahlwerbung lautete: Grün wählen für Kretschmann. Ich übersetze: Nehmt die Grünen in Kauf für euren hochgeschätzten Ministerpräsidenten?

Das hat uns nicht geschadet - oder?

Es ist frappant, dass die im Land anerkanntesten Grünen fast alle das Etikett tragen: eigentlich gar kein Grüner. Das mag ein Missverständnis sein. Es ist jedenfalls als Kompliment gemeint.

Dem liegt eine falsche Herleitung zugrunde: Wir regieren das Land gut, das hat man den Grünen nie zugetraut, also kann Kretschmann kein richtiger Grüner sein, sonst würde er das Land nicht gut regieren. Es gibt ja nach wie vor die Vorurteile, die Grünen seien eine Besserwisserpartei, eine Bevormundungspartei. Jedoch ist Kretschmann das Gegenteil der holzschnittartigen Profile, die die Leute mit den Grünen verbunden haben. Das hat das Umdenken in Gang gebracht.

Im Wahlkampf ist Kretschmann als europäischer Staatsmann aufgetreten.

Es gibt immer wieder Unkalkulierbares. Natürlich hat er von der Partei eine Eins-A-Wahlkampfrede bekommen als Gerüst. Die fand er auch okay, aber dann hat er Anfang des Jahres in der heißen Phase der Flüchtlingspolitik im Rahmen einer Brüsselreise viele Gespräche geführt, in denen er sich bestätigt fühlte, dass hinter der Flüchtlingskrise die europäische Krise steckt und dass sie das wirklich Gefährliche ist, weil viel verloren gehen kann – vom Frieden bis zum Wohlstand. Kretschmann flog damals von Brüssel zurück und hatte noch am Abend seinen ersten Wahlkampfauftritt. Er verwarf die vorbereitete Rede und hielt eine engagierte Grundsatzrede, warum die EU wichtig ist, warum wir eine europäische Lösung brauchen und weshalb er dabei die Kanzlerin unterstützt. Das war zwar keine Wahlkampfrede, aber es war genau das richtige Format.

Das hat sich aus dem Mann in dem Amt heraus ergeben?

Tatsächlich ja. Die Agentur hatte erkannt, dass der Mann und das Amt im Vordergrund stehen müssen, naheliegend angesichts seiner hohen Zustimmungswerte. Konkret hat sich bei seinen Auftritten viel aus dem Kretschmann selbst heraus ergeben. Dazu kam, dass der politische Gegner schwächelte, zerstritten war und das Spitzenpersonal offenbar nicht überzeugen konnte.

Das ist doch traditionell die grüne Rolle.

Diesmal nicht.

CDU und SPD haben durch die AfD verloren, Sie sind zur Volkspartei geworden. Warum?

Auch wir haben 70.000 Wählerinnen und Wähler an die AfD verloren, so ist es nicht. Aber generell hat die Parteibindung abgenommen. Je jünger die Menschen, desto volatiler wählen sie. Ein politisches System ist ausgereizt, wo Volksparteien alles unter sich verteilen. Das führte bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl zu einem Duell zwischen einem Grünen und einem FPÖ-ler. Es kamen aber in Baden-Württemberg noch andere Faktoren hinzu. Bei der CDU waren es die Zerstrittenheit und das nicht wirklich überzeugende personelle Angebot im Vergleich zu Kretschmann. Bei der SPD liegen die Ursachen tiefer, die Erzählung der Partei scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein, kommt nicht mehr an. Viele sahen, trotz einer guten Regierungsarbeit, in Baden-Württemberg keinen Grund mehr, SPD zu wählen.

Die einen sind zu den Grünen, die anderen zur AfD. Der Riss ist offensichtlich: Hier die okayverdienenden, identitäts- und einwanderungspolitisch progressiven Grünen-Wähler. Dort diejenigen, die sich als Verlierer fühlen und die Moderne mehr und mehr als Zumutung begreifen.

Man darf das nicht unterschätzen, weder die AfD noch die rechtsnationale Tendenz in Europa. Aber wir dürfen uns nicht auf diese Truppen fixieren und ein neues Antirechts aufbauen, das hielte ich für verheerend.

Was heißt das?

Man kann sich als Antirechtspartei verstehen und sich zu 50 oder mehr Prozent dieser Aufgabe widmen. Oder man kann ihre Positionen in Teilen übernehmen. Beides ist falsch. Wir konzentrieren uns darauf, gute und erfolgreiche Politik zu machen und ihnen damit das Wasser abzugraben. Die von uns nach vorne gebrachte Bürgerbeteiligung ist da ein Schlüssel zum Erfolg.

Im Blick auf die Wahl 2017 wird der Begriff «Linkes Lager» recycelt. Die Idee ist, dass es eine linke Mehrheit gebe, die einsehen müsse, dass sie zusammengehört. Davon ist in Baden-Württemberg nie die Rede. Warum nicht?

Als die Grünen 1980 hier ins Parlaments kamen, wollten sie eben nicht links von der SPD sitzen, sondern rechts von der SPD. In der Mitte. Das war sehr bewusst gewählt und bezog sich auf Rudolf Bahros geflügeltes Wort: nicht links, nicht rechts, sondern vorne.

Was heißt das für die Idee vom linken Lager?

Es wäre ein veritabler Rückfall, in solchen Kategorien zu denken. Man muss mittlerweile mit einer gewissen Unübersichtlichkeit klarkommen, das ist so. Wir haben uns Grün-Schwarz nicht gewünscht, aber diese Komplementär-Koalition ist vielleicht besser als jede andere in der Lage zu verhindern, dass sich die AfD in die Mitte der Gesellschaft frisst. Eben weil Grün-Schwarz diese Mitte sehr breit abbildet. Grün-Rot hatte eindeutig mehr Überschneidungen, besaß aber nicht diese gesellschaftliche Breite.

Kretschmann weigert sich, sich «links» zu nennen. Aus wahltaktischen Gründen, weil der Baden-Württemberger keine Linken mag?

Nein, das ist bitterernst gemeint. Sich als linken Politiker zu bezeichnen, das trifft es für ihn einfach nicht.

Der Soziologe Heinz Bude sagt, Ministerpräsident Kretschmann zeichne ein «reparatives Sprechen» aus, mit dem er nicht spaltet, sondern Teile der auseinanderstrebenden Gesellschaft neu zusammenfügt. Woher kommt das?

Das ist sein Wesen, so redet er. Sein Bestreben ist es, nicht nur die Koalition, sondern auch das Land zusammenzuhalten. Das äußert sich aber nicht darin, dass er Süßholz raspelt. Aber auch folgende Eigenschaft kann man sich als Stratege nicht besser wünschen: Er tut nicht so, er interessiert sich wirklich für die Leute. Wenn er einen Bürgerempfang macht, dann geht er mindestens zwei Stunden von Tisch zu Tisch, er dreht seine Runden und will es wissen. Dann sagt er auch manchen deutlich seine Meinung und blafft sie an, wenn es sein muss, aber immer aus der Haltung heraus: Ich will wirklich wissen, was dich umtreibt, auch wenn ich nicht deiner Meinung sein muss.

Wie reagieren die Leute, wenn er blafft?

Mit Respekt. Die wollen nicht umgarnt werden, sondern mit jemandem sprechen, der sie ernst nimmt. Kretschmann sagt oft: «Wir hören euch zu, aber das heißt nicht, dass ihr auch erhört werdet.»

Reinhard Bütikofer vertritt auch die These, dass die Grünen mit Kretschmann in der dritten Phase ihrer Parteigeschichte sind. Erste Phase: große Fragen. Zweite Phase: etwas beitragen. Dritte Phase: Volks- und Orientierungspartei.

Orientierungspartei und Volkspartei ist mir zu theoretisch. Ich würde es anders sagen. Erste Phase: frische Partei, richtige Fragen. Zweite Phase: vieles gegen traditionelle Kräfte durchgesetzt, im schweren Kampf. Fischer und Trittin können davon ein Lied singen. Dritte Phase: mit mächtigen Verbündeten pragmatisch und zielgenau Allianzen bilden und grüne Politik umsetzen.

Welches waren für Sie die entscheidenden politischen Konflikte, die die Grünen zur Nummer eins im Land gemacht haben?

Zunächst war es der andere Politikstil, nicht mehr von oben durchzuregieren. Nach den Terroranschlägen in Paris war es Kretschmann, der den Innenminister aufgefordert hatte, Anti-Terror-Pakete aufzulegen. Wichtig war auch der erste Asylkompromiss, wo er im Alleingang einige Sachen rein verhandelt und dann zugestimmt hat. Die Bürgerinnen und Bürger schätzen es, dass er aus der Sache heraus agiert und nicht nur nach grünen Maßgaben.

Manche Bundesgrüne denken hingegen, dass er ein Opportunist ist, der grüne Menschenrechte für einen Appel und ein Ei verkauft.

Die verwechseln Ideologiefreiheit mit Opportunismus. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich kenne kaum einen Grünen, der so ein klares Wertefundament hat wie Kretschmann. Er ist letztlich moderner als Trittin, Künast und Peter zusammen, weil er verstanden hat, dass er grüne Politik nicht mehr gegen gesellschaftliche und wirtschaftliche Institutionen durchdrücken muss, sondern sie mit ihnen realisieren kann.

Welche Illusionen über die Grünen haben Sie nicht mehr?

Ich bin wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Bundesgrünen stärker schauen, was wir 2011 gemacht haben. Nicht nur wir haben in dem Jahr 25 Prozent geholt; die Bundespartei lag ein ganzes Jahr in den Umfragen über 20 Prozent. Ich fand es enttäuschend, dass man keinen Versuch gemacht hat, diese Menschen zu halten, die ein ernsthaftes Interesse an den Grünen gezeigt haben. Wenn man 15, 20 Prozent auf Bundesebene holen will ...

... was Sie für realistisch halten?

Das ist meines Erachtens machbar. Aber dann muss man die Politik darauf einstellen, das muss man wollen und das muss man auch ausstrahlen.

Wenn Sie zum Bundesparteitag der Grünen kommen, kehren Sie in Ihre Kindheit zurück?

Das ist zumindest eine frühere Zeit. Die Gesamtanmutung ist wie ein Bilderbuch aus alten Zeiten. Gefällt mir selbst nicht, dass es so ist. Da kommt dann ein Imagefilmchen, wie Grüne gegen die Datenkrake oder Kohlekraft demonstrieren. Das erzeugt Wärme, aber wir sind längst keine Bewegungspartei mehr. Wir könnten auch jenseits von Baden-Württemberg so viel mehr sein.

 

Rudi Hoogvliet lebt seit den 80er Jahren in Baden-Württemberg, organisierte Menschenketten für die Friedensbewegung und trat den Grünen bei. 1989 wurde er in deren Landesvorstand gewählt und war Anfang der 90er Jahre zeitweilig Vorstandssprecher. Er managte die Bundestagswahlkämpfe 2002, 2005 und 2009 und war zeitgleich Pressesprecher von Winfried Kretschmann.

 

Der Beitrag ist zuerst in unserem Böll.Thema 2/2016 "Die große Verunsicherung - Die Krise der liberalen Moderne" erschienen.