"Entscheidend ist, dass man nonstop etwas unternimmt - und manchmal klappt es"

Swetlana Gannuschkina - Preisträgerin des Alternativen Nobelpreises
Teaser Bild Untertitel
Swetlana Gannuschkina in der Heinrich-Böll-Stiftung

Im Vergleich zu Russlands Präsident Wladimir Putin ist Swetlana Gannuschkina das freundliche, das zivile Gesicht Russlands. Doch wegen ihres Engagements für Flüchtlinge wird die Trägerin des Alternativen Nobelpreises 2016 vom russischen Staat als ausländische Agentin eingestuft. Ein Gespräch mit der Frau, vor der sich Putin offenbar fürchtet.

Menschenrechtler und kritische Journalistinnen und Journalisten haben es schon lange schwer in Russland. Hat sich die Situation in den vergangenen zwei Jahren weiter verschlechtert?

Swetlana Gannuschkina: Ja, die Zivilgesellschaft wurde in den vergangenen zwei Jahren systematisch plattgemacht. Viele Organisationen sind geschlossen worden, Menschenrechtler sind ins Ausland ausgewandert. Früher gab es vor den russischen Gerichten zumindest noch einzelne Fälle, wo man Recht bekam. Das ist heute eigentlich unvorstellbar geworden. Russland ist kein Rechtsstaat.

Sie haben für Ihre Arbeit den Right Livelihood Award gewonnen. Was bedeutet der 'Alternative Nobelpreis' für Sie?

Er ist eine große Ehre. Er ist ein Ausdruck von internationaler Solidarität und hilft, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf unsere Probleme in Russland zu lenken. Das ist sehr wichtig. Doch auch das Preisgeld hilft. Wir können mit dem Geld den Menschen unmittelbar helfen.

Der Right Livelihood Award war ein großer Erfolg für Sie, vielleicht der bisher größte. Aber erinnern Sie sich auch an den größten Rückschlag für Ihre Menschenrechtsarbeit?

Ja, das war das verrückte Gesetz über ausländische Agenten. Es ist der Versuch, kritische Stimmen mundtot zu machen. Doch es ist keine Schande für uns, sondern für das Justizministerium, das uns als ausländische Spione bezeichnet.

Schon vier Organisationen, für die Sie tätig sind, wurden vom Staat als ausländische Agenten eingestuft, darunter Ihre Flüchtlingshilfeorganisation 'Ziviler Beistand'.

Es begann vor zweieinhalb Jahren mit der Menschenrechtsorganisation 'Memorial', wo ich ein Projekt mit dem Titel „Migration und Recht“ habe. Dann das Sacharow-Zentrum, später 'Ziviler Beistand'. Und dann kam der komplette Irrsinn - die internationale Gesellschaft 'Memorial', die als internationale Organisation von dem Gesetz eigentlich gar nicht betroffen sein dürfte, wurde zum ausländischen Agenten erklärt. Meine Mitstreiter und ich haben das Gefühl, in Gefahr zu sein. Denn wir nehmen an, dass die Machthaber es nicht dabei bewenden lassen werden, die Organisationen in die Liste aufzunehmen, sondern weitere Schritte planen.

Auf Ihrer Internetseite reagieren Sie auf den Druck mit Humor ...

Ja, auf unserer Internetseite gibt es eine Gallerie mit Bildern von Flüchtlingen. Unter ein Foto mit Flüchtlingskindern haben wir geschrieben: 'Wir sind die Agenten dieser Ausländer.'

Sie sind in Gefahr. Doch offensichtlich haben auch die russischen Machthaber Angst - vor Ihnen. Denn sonst würde die Regierung Sie nicht als ausländische Agentin einstufen. Warum fürchten sich die Machthaber vor Ihnen?

Das müssen Sie sie fragen. Meiner Ansicht nach sind wir überhaupt nicht angsteinflößend. Wir machen eigentlich keine Politik. Die Machthaber haben Angst vor Revolutionen. Ich bin keine Anhängerin von Revolutionen. Denn ich glaube, dass es in Russland keine samtenen Revolutionen geben kann.

Sind Sie einmal an einen Punkt gekommen, an dem Sie vor Verzweiflung fast aufgegeben hätten?

Am Anfang jedes Mal, wenn ich von meiner Betreuung von Flüchtlingen nach Hause gekommen bin. Ich kam immer nach Hause, habe mich auf das Sofa gelegt und mir gesagt: 'Da gehe ich nie wieder hin.' Aber das ist schon lange her. (lacht)

Und dann wurde unsere Arbeit immer schwieriger. Doch das Ohnmachtsgefühl hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Denn ich weiß: Ich kann immer etwas tun. Manchmal weiß ich gar nicht, was. Aber entscheidend ist, dass man nonstop etwas unternimmt. Und manchmal klappt es ganz unverhofft. Wenn ein Mensch zu mir kommt, der fürchterlich gefoltert wurde und nun frei ist, dann gibt das mir Kraft für meine weitere Arbeit.

Einmal kamen Eltern eines tschetschenischen Mädchens zu mir. Dem Vater hatte man illegalen Waffenbesitz vorgeworfen. Niemand hatte der schwangeren Mutter medizinisch geholfen. Und dann legte die Mutter ihre Tochter auf meinen Tisch und sagte: 'Das ist Ihr Patenkind.'  In solchen Momenten habe ich ein sehr großes Glücksgefühl, das mit nichts zu vergleichen ist.

Wenn wir nach Deutschland schauen, sehen wir, wie mit der AfD eine rechtspopulistische Partei dabei ist, sich in den Parlamenten zu etablieren. Wie nehmen Sie dies wahr?

Das macht uns sehr stutzig. Es zeigt, dass für Deutschland eine weitere Impfung gegen Fremdenfeindlichkeit nötig ist - so wie sie früher von den Bundeskanzlern Konrad Adenauer oder Willy Brandt vorgenommen wurde.

Kann Frau Merkel diese Impfung vornehmen?

Frau Merkel macht eine aktive Außenpolitik. Sie ist in meinen Augen in Europa die am meisten ernstzunehmende Politikerin. Doch jetzt braucht die deutsche Gesellschaft offensichtlich ein anderes Engagement. Ich denke, Frau Merkel könnte jemanden damit beauftragen. Ich habe von Fernsehkampagnen gehört, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik stattgefunden haben. Vielleicht würde so etwas heute wieder helfen. Damals war trotz der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg das Bewusstsein für die Verantwortung für die fürchterlichen Greueltaten nicht von Anfang an vorhanden. Man muss etwas unternehmen, dass es nicht wieder zu Auswüchsen kommt, die man später bitter bereut.

Auch die Wirtschaft könnte Verantwortung übernehmen. Wie verhalten sich die deutschen Unternehmen in Russland?

Die deutschen Stiftungen sind uns wohlgesonnen, aber nicht die Unternehmen. Sie wollen nur Profit machen und haben ein ganz anderes Bild von der Lage in Russland als wir. Ich habe erlebt, wie deutsche Unternehmer deutschen Journalisten sagten: 'Hört auf, Russland zu diffamieren!' Die Firmen sind stolz auf eine gute Beziehung zur Regierung und nehmen auf sie große Rücksicht. Die Stiftung 'United Way', in der Unternehmen mitarbeiten, die in Russland vertreten sind, hatte uns fest Gelder für unser Projekt eines russischen Sprachunterrichts für Migrantenkinder zugesagt. Aber aus Angst, durch die Spende Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, hat der Stiftungsrat sein Angebot zurückgezogen, nachdem er erfahren hatte, dass wir in der Liste der 'ausländischen Agenten' eingetragen sind."

Das Interview für die Heinrich-Böll-Stiftung führte Andreas Maisch.