Tsunami im Wasserglas?

Wandgemälde von Donald Trump in Mexiko-Stadt
Teaser Bild Untertitel
Street Art in Mexiko-Stadt

Laut Jorge Castañeda, ehemaligem Außenminister Mexikos, ist das Freihandelsabkommen NAFTA das einzige, das in der mexikanischen Wirtschaft funktioniert. Donald Trump stellt es in Frage - wartet ein neuer Sturm? Der vierter Beitrag unserer Kolumne von Michael Castritius zum Leben mit Donald Trump in Mexiko.

Tsunami-Entwarnung wird in Mexiko nicht gegeben, aber die Wellen, die Donald Trump im Wahlkampf und nach seiner Amtseinführung geschlagen hat, kommen niedriger an, als zunächst befürchtet.

Zumindest der erste Sturm hat sich gelegt: Die mexikanische Währung hat sich stabilisiert. Ein Dollar kostet unter 20 Pesos. In der Trump-Hysterie zwischen November und Januar kostete er bis zu 22 Pesos, vor der Wahl allerdings nur 17.

Der Vertrauensindex der Konsumentinnen und Konsumenten hat sich von Januar auf Februar um 11 Prozent verbessert. Und das, obwohl das Leben für die Mexikanerinnen und Mexikaner teurer geworden ist. Sie spüren es im Alltag, bei jedem Einkauf im Supermarkt. Die Inflationsrate schnellt hoch: von 2,1% im Dezember auf 4,8% im Februar.

Allerdings ist nicht alles Trump: Ein Teil dieses Anstiegs ist hausgemacht: Gescheiterte oder stagnierende Reformen tragen zur Teuerung bei. Den Benzinpreis etwa hat die staatliche Erdöl-Gesellschaft PEMEX seit Jahresbeginn um 20% angehoben, sie arbeitet reformunfähig weiter in tiefroten Zahlen. So gibt der Energiesektor nur der Inflation kräftigen Anschub.

Schon das Wirtschaftsjahr 2016, bevor Trump kam, war für Mexiko schwierig. Das Wachstum schloss mit +2,3% zwar positiver, als die erwarteten +2,1%, aber schlechter als im Vorjahr (+2,6%). Der Motor stotterte bereits.

Finanzierung der Mauer durch Remesas

Entlastung brachten die Remesas, die Rücküberweisungen der Mexikaner, die in den USA arbeiten. Sie überwiesen ihren - meist armen - Familien die Rekordsumme von fast 27 Milliarden Dollar, 8,8% mehr als im Vorjahr. Nach Umtausch in den gefallenen Peso waren das für die Angehörigen sogar 28% mehr, da es im Laufe des Jahres immer mehr Pesos für den Dollar gab. Auch dank Trump.

Aber ausgerechnet an diese Remesas will der US-Präsident ran, um seine Mauer zu finanzieren. Mit zwei Prozent, so seine Idee, könnten die Überweisungen besteuert werden. Allerdings käme so nicht einmal ein halbe Milliarde Dollar pro Jahr zusammen. Dann hätte er sein anachronistisches Bauwerk erst in vier Jahrzehnten abbezahlt, schließlich soll es mindestens 20 Milliarden Dollar kosten. Und wenn er immer mehr Lateinamerikanerinnen und -amerikaner ohne Aufenthaltsgenehmigung abschiebt, dann sinken auch die Remesas und damit logischerweise die Mauergelder.

Diese Abschiebungen hält der ehemalige Außenminister Mexikos, Jorge Castañeda, für eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe. Er empfängt in seinem luxuriösen Apartment in Polanco, dem modernen Stadtteil von Mexiko-Stadt. Penthouse, lichtdurchflutet, ein Windspiel bimmelt vor sich hin. Die überbordenden Bücherregale sind mit Fotos des Hausherrn an der Seite internationaler Politiker geschmückt, gleich auf vier Stück ist es Fidel Castro.

Auf dem Sofatisch liegen mehrere Ausgaben von Castañedas Biografie über Che Guevara, darunter die chinesische und die türkische Übersetzung.

Im letzten Jahr hatte er seine Kandidatur als Unabhängiger bei der Präsidentschaftswahl 2018 angekündigt. Aber die liege zurzeit auf Eis, mit Donald Trump gebe es erstmal Wichtigeres, präzisiert er.

„Kurzfristig sind die Deportationen das Herzzerreißendste, das Verletzendste. Da sind etwa Mütter von US-amerikanischen Kindern, die kein Gesetz gebrochen haben, außer keine Aufenthaltsgenehmigung zu haben.“

So werden Familien auseinandergerissen, die Zeitungen sind voll von dramatischen Beispielen. Jorge Castañeda war in jungen Jahren Kommunist, ist auf Kuba bis heute gern gesehener Gast. Ab dem Jahr 2000 aber diente er dem konservativen mexikanischen Präsidenten Vicente Fox als Außenminister. Rechts oder links - das ist in Mexiko nicht zwangsläufig eine lebenslange Einstellung.

NAFTA als Fundament mexikanischer Wirtschaft

Dass Donald Trump jetzt auch noch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA in Frage stellt, das vor 23 Jahren in Kraft trat, hält Jorge Castañeda langfristig für die größte Bedrohung aus dem Weißen Haus. Denn mit NAFTA würde das Fundament der mexikanischen Wirtschaft zerstört. Das Abkommen sei zwar nicht perfekt, aber das Einzige in der mexikanischen Wirtschaft, das funktioniere.

Mexikos größter Fehler war, keine diversifizierte Industrialisierung betrieben zu haben. Bis zu 70% der Exportprodukte bestehen immer noch aus zuvor importierten Einzelteilen. Viele davon wurden in den USA hergestellt, was Donald Trump geflissentlich übergeht. Das hat aber den mexikanischen Arbeitsmarkt verengt: Die Löhne sind nicht gestiegen, sondern extrem niedrig geblieben. In der mexikanischen Automobil-Produktion etwa, dem erfolgreichsten Sektor, liegt der Durchschnittslohn eines Arbeiters bei 450 Dollar im Monat, in den USA bei 30 Dollar pro Stunde.

Die Folge: Entgegen der Versprechungen sind die Einkommensunterschiede nicht kleiner geworden, NAFTA hat sie sogar verstärkt. Mexikanische Angestellte haben ihren kargen Verdienst von 1994 nur um den Faktor 1,91 steigern können. US-amerikanische Beschäftigte dagegen um den Faktor 2,02. „Mythos Freihandel“ schreibt deshalb der Kolumnist Gregorio Vidal in der Zeitung „El Universal“: Die Realität der sozialen Ungleichheit sehe anders aus als die Politikerworte 1994 und erst Recht als die Schwarzmalerei des Donald Trump.

Dass dem mit Logik und Fakten nicht beizukommen ist, wurde in Mexiko Allgemeinwissen. Selbst in der Regierung, die zunächst verunsichert auf die neue Politik Washingtons reagiert hatte.

Jetzt strahlt sie zunehmend Selbstbewusstsein aus -  bis hin zur Selbstblendung. Und bis zur Neuverhandlung des Freihandelsabkommens, die in Mexiko einen folgenreichen Tsunami auslösen könnte.