Identitätspolitik: Wir sind viele

Feministischer Zwischenruf

Nach Manchester wird der Dialog zwischen den Religionen beschwört. Doch wer Terrorist*innen auf die eine Glaubensidentität beschränkt, wird den Kampf gegen den Terror verlieren.

Nach Manchester wird der Dialog zwischen den Religionen beschworen. Das verortet den Terrorismus primär in der Religion und reduziert uns alle darauf, in erster Linie Mitglieder einer Glaubens- oder Nichtglaubensgemeinschaft zu sein. Dabei sind wir so viel mehr.

Mir kommen noch immer die Tränen, wenn ich an Manchester denke. Deshalb ist es so schwer, darüber zu schreiben. Doch Angst macht die Toten nicht wieder lebendig und die Konzerthallen und Clubs nicht sicherer.

Die Frage der Stunde ist: wie steht es um die Innere Sicherheit? Nahezu kein Artikel kommt ohne den Hinweis aus, dass Salman Abedi, der 22-jährige Täter, dem britischen Geheimdienst bereits bekannt war. Laut der BBC sollen schon vor Jahren zwei Freunde von ihm eine Anti-Terror-Hotline angerufen haben. Ihr Verdacht: Salman Abedi radikalisiere sich. Haben die Behörden also versagt? Müssen wir entschiedener gegen Verdächtige vorgehen, um Tragödien wie die in Manchester zu verhindern?

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Wenig bekannt ist, dass solche Anrufe und Meldungen die Regel, und nicht die Ausnahme sind. Jedes Jahr gehen Tausende ein. Gibt es also tausende Terroristen? Jedes Jahr? Natürlich nicht.

2003 führte Großbritannien Prevent, das Programm zur Früherkennung von Menschen, die Gefahr laufen „in den Terrorismus abzugleiten“[1], ein. 

Weil sie Terroranschläge als Reaktion auf ihren Einmarsch in den Irak befürchteten. Seitdem wurde das Programm mehrfach überarbeitet. Mittlerweile werden Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und sogar Kindergärtner*innen dazu angehalten, nach Warnsignalen bei ihren Schutzbefohlenen Ausschau zu halten. Die Regierung hat eine Liste dieser Warnsignale erstellt, dazu gehören: Depressionen, Probleme mit der Familie oder dem Umfeld, keine Freunde, neue Freunde, ein geringes Selbstwertgefühl, Jugendliche*r zu sein, sich zu fragen, wohin frau* und mann* gehört, sich mit Religion zu beschäftigen, sich ungerecht behandelt zu fühlen, Gefängnisstrafen, Migrations-Erfahrungen, Rassismuserfahrungen, Krieg im Herkunftsland und so weiter.

All das betrifft in dem ein oder anderen Punkt jede*n von uns und das sind natürlich keine Straftaten. Jetzt werden sie jedoch bei bestimmten Personen als (möglicher) Ausdruck einer Ideologie gewertet und damit als „gewaltfreier Extremismus“, der sich zu „gewaltsamem Extremismus“ entwickeln könnte, besser bekannt als die Conveyor-Belt-Theory. Nach dem Motto: Wer einmal auf dem Fließband ist, wird automatisch weitergetragen bis es knallt. Eine andere noch perfidere Theorie: die Iceberg-Theory von Colonel Cardinal, Chef der ressortübergreifenden Koordinationsgruppe zur Terrorismusbekämpfung des Pazifik Kommandos. Laut Cardinal schwimmen Islamist*innen wie Eisberge in einem Meer von moderaten Muslimen und würden dadurch nicht nur schwerer zu erkennen, sondern überhaupt erst ermöglicht - so wie Eisberge das kalte Wasser um sie herum brauchen, bräuchten Islamist*innen vermeintlich moderate Muslime.

Unnötig zu erwähnen, dass keine dieser Theorien von der modernen Extremismus-Forschung unterstützt wird. Ganz im Gegenteil, warnte der UN Spezialberichterstatter Maina Kiai, dass Prevent durch diese Form von gezielten Stigmatisierungen und Verhören, Extremismus überhaupt erst erschaffen könne.[2] Trotzdem ist die Zahl der Meldungen in den letzten beiden Jahren sprunghaft angestiegen, während gleichzeitig das Alter der Angezeigten sinkt. Jede Woche werden in Großbritannien 60 Kinder angezeigt, einige von ihnen jünger als 9 Jahre. Die Politologin Karma Nabulsi berichtet von einem syrischen Jungen, der im Kindergarten ständig Bilder der Flugzeuge malte, deren Bomben seine Familie zur Flucht gezwungen hatten. Anstatt dem traumatisierten Kind Hilfe zu anzubieten, riefen die Kindergärtner*innen die Polizei.[3]

Diese Geschichte ist keine Ausnahme, da Erzieher*innen und Lehrer*innen  verstärkt unter Druck gesetzt werden, ihrer „Prevent Pflicht“ nachzukommen und regelmäßig Fragebögen zur Risikoeinschätzung auszufüllen. Mehr als eine halbe Million Brit*innen haben ein Prevent-Training durchlaufen, um potentielle Extremisten schneller erkennen zu können. Und wen sie „erkennen“ sind hauptsächlich muslimische Männer und Jungen. Rechtsextreme, gewaltbereite Briten hingegen werden kaum gemeldet.

So wurde auch der Chirurg Naveed Yasin auf offener Straße als Terrorist bezichtigt. Er war auf dem Weg zurück ins Salford Royal Hospital in Manchester, wo er zuvor bereits 48 lange Stunden die Verletzten des Anschlags versorgt hatte.[4]

Identitätskonzepte pluralisieren

Das, was  Naveed Yasin und wir alle gerade erleben, basiert unter anderem auf einem sehr eingeschränkten Konzept von Identität. Wenn uns jemand in den 1980er Jahren gesagt hätte, dass wir wieder einmal Glaubenskriege führen würden, wären wir in schallendes Gelächter ausgebrochen. Das Lachen bleibt uns heute im Hals stecken. Dadurch ist die Aussage, das, womit wir es hier zu tun haben, seien moderne Glaubenskriege, zwar nicht wahrer geworden. Sie ist nur bedrohlicher.

Menschen lassen sich nicht in zwei Gruppen unterteilen, die sich genuin voneinander unterscheiden. Das stimmte nicht bei Männern und Frauen, bei Schwarz und Weiß und es stimmt auch nicht bei Muslimen und dem „Christlichen Abendland“. Es gibt nicht die eine zentrale Identität, die alles andere bestimmt. Je nach Kontext bin ich Schriftstellerin oder Leserin, Journalistin oder Kulturwissenschaftlerin, Inderin oder Deutsche, Mutter oder Tochter, Oberbilkerin, Partnerin, Schwimmerin oder all das zusammen und noch vieles mehr. Wir alle haben unsere eigene Mischung an Identitäten, die sich im Laufe unseres Lebens verändert, aber niemals nur auf eine einzige Identität reduzieren lässt.

Von dem Philosophen Amartya Sen stammt der wunderbare Satz: „Ein auf einen Aspekt reduzierter Zugang ist ein guter Weg, nahezu jeden Menschen auf dieser Welt misszuverstehen.“[5]

Wenn seit Manchester alle den Dialog zwischen den Religionen beschwören, dann ist das löblich, allerdings schreibt es auch weiterhin Religion als die ursprüngliche Identität fest. Dabei teilen wir so viele Identitäten miteinander, wie Trauernde, Liebende ... Menschen.

Das heißt nicht, dass wir alle gleich sind: Wir sind nur auf viele unterschiedliche Weisen verschieden. Wir haben plurale Identitäten. Und es ist wichtig, diese Pluralität zu feiern. Genau das bedeutet Demokratie. Deshalb ist das einzige, was wirklich gegen Terror hilft, unsere demokratischen Rechte zu stärken statt Angst, Überwachung und Singularität. Wir brauchen keinen Dialog zwischen den Religionen, wir brauchen einen Dialog zwischen Menschen.


[1] Karma Nabulsi writes about Prevent: Don’t go to the Doctor. In: London Review of Books, Vol. 39, No. 10, 18.5.2017, S.27

[2] vergleiche Damien Gayle: Prevent strategy 'could end up promoting extremism'. In The Guardian vom 21.04.2016

[3] Karma Nabulsi a.a.O.

[4] Mark Chandler: Hero surgeon branded ‚terrorist‘ in torrent of racist abuse hours after treating Manchester bombing victims. In Evening Standard vom 29.05.2017

[5] Amartya Sen: Identity and Violence. The Illusion of destiny. Penguin books, London: 2006; S. xii