Ukraine: „Eine Eskalation ist jederzeit möglich“

Interview

Alexander Hug, stellvertretender Leiter der Sonderbeobachtungsmission der OSZE in der Ukraine, über die Perspektiven des Konflikts in der Ost-Ukraine.

Lesedauer: 3 Minuten
Bild einer zerschossenen Häuserfront in Donbas
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Zerschossene Häuserfront in Donbas

Herr Hug, die Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine ist seit 2014 im Konfliktgebiet tätig. Welche Ziele hat sie erreicht?

Die Tatsache, dass Zivilisten uns häufig bitten, bei ihnen zu bleiben, weist darauf hin, dass die Präsenz der OSZE eine gewisse abschreckende Wirkung auf die Seiten hat. Wir glauben, dass die Arbeit der Beobachter dazu beigetragen hat, relative Stabilität herzustellen: die Informationen, die die Mission liefert, dienen auch als Frühwarn-Indikatoren. 

 

Alexander Hug, stellv. Leiter der OSZE-Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine, nahm im November 2017 am Fachgespräch „Minsk-Process and Donbass conflict: What next?“ in der Heinrich-Böll-Stiftung teil.

Die OSZE hat dazu beigetragen, die Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen, so dass die Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen unterschrieben wurde. Nach deren Unterzeichnung hat sich das Gewaltniveau erheblich reduziert. Die Mission verbessert auch die humanitäre Situation, indem sie so genannte "Fenster der Stille" vermittelt. Dabei schweigen die Waffen in einem bestimmten Gebiet, so dass zerstörte Infrastruktur repariert werden kann. Im September sind 71 solcher "Fenster der Stille" eingerichtet worden. 

Wie viele Opfer gibt es unter der Zivilbevölkerung im Donbas?

Beide Seiten gefährden weiterhin die Zivilbevölkerung, indem sie Kriegsgeräte und Soldaten in der Nähe von Wohngebäuden positionieren und Zivilisten damit wahllosem Beschuss aussetzen. Die Mehrheit der zivilen Opfer 2017 geht auf Beschuss in Wohngebieten entlang der Kontaktlinie zurück. Eine weitere Ursache sind Minen. Kinder sind dadurch besonders gefährdet. Vom 1. Januar bis 12. November 2017 verzeichnete die Mission 429 Verletzte und 78 Tote.

Gegen die Minsker Vereinbarungen wird häufig verstoßen. Wie könnte man die Seiten zur Einhaltung bewegen?

Die OSZE-Mission berichtet über die Verstöße. Es fehlt eine Reaktion derer, die für die Verstöße verantwortlich sind. Die Seiten halten ihre Zusagen nicht ein, weil ihnen der politische Wille fehlt. Dafür müssen sie sich verantworten.

 

Der Konflikt

Der Konflikt im Donbass befindet sich bereits im vierten Jahr, insgesamt wurden ca. 10.000 Menschen getötet, ca. 2,5 Millionen Menschen haben ihre Heimat in den besetzten Gebieten des Donbass verlassen. Insbesondere entlang der so genannten Kontaktlinie zwischen den ukrainisch kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk sowie den mit massiver militärischer und finanzieller Hilfe Russlands selbst ernannten „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk bleibt die Sicherheits- und die humanitäre Lage für die Bevölkerung prekär. Dabei ist die Linie trotz Handelsblockade durchlässig – täglich bewegen sich bis zu 40.000 Zivilisten zwischen den Seiten.

 

Die „Minsker Vereinbarungen“

Die „Minsker Vereinbarungen“ von 2014 bzw. 2015 haben einerseits den offenen Krieg beendet, andererseits aber nicht zu einer dauerhaften Entspannung der Lage beigetragen. Keiner der 13 Punkte der Vereinbarungen konnte bisher umgesetzt werden. Eine Sondermission der OSZE beobachtet die Lage in der Region.

Vorschlag einer UN-Mission

Mit dem russischen Vorschlag einer UN-Mission für den Donbass schien im September Bewegung in die diplomatischen Bemühungen zu gelangen, denn die ukrainische Seite hatte zuvor ebenso internationale Truppen gefordert. Die Vorstellungen eines genauen Mandates gehen jedoch weit auseinander. Die Kosten und die Anzahl der benötigten Soldaten für die Kontrolle über ein Gebiet von der Fläche Thüringens mit ca. 500 km Kontaktlinie sowie ca. 400 km russisch-ukrainische Staatsgrenze wären erheblich. Eine Realisierung ist fraglich. Dennoch hat der Vorstoß eine neue Dynamik in den diplomatischen Gesprächen erreicht. 

Die Zivilbevölkerung ist von vielen Einschränkungen betroffen, wie etwa, dass sie sich nicht frei bewegen kann. Was sind die größten Probleme?

Die Gewalt konzentriert sich auf fünf Brennpunkte, wo etwa 90 Prozent der Verstöße beobachtet werden: das Gebiet um Avdiivka, Yasynuvata und den Donetsker Flughafen, die Vororte von Horlivka, das Gebiet um Popasna-Pervomaisk, das Gebiet südlich und östlich von Svitlodarsk und das Gebiet östlich und nordöstlich von Mariupol. Die Zivilbevölkerung leidet unter Einschränkungen ihres Alltags. Die OSZE-Mission beobachtet beinahe täglich Beschädigungen von Häusern, bewohnte und landwirtschaftlich genutzte Flächen sind weiterhin vermint. Beide Seiten nutzen schwere Waffen, die zivile Infrastruktur beschädigt: Krankenhäuser, Schulen, Wasser-, Gas- und Stromleitungen. Das Passieren der Kontrollpunkte an der Kontaktlinie bleibt schwierig. Vor allem in der Region Lugansk wäre es dringend nötig, ausgedehntere Öffnungszeiten sowie zusätzliche Passierstellen zu schaffen.

Die OSZE bezeichnet die Lage als Konflikt von geringfügiger Intensität mit der Tendenz zur Eskalation. Wie wahrscheinlich ist eine Eskalation?

Eine Eskalation ist jederzeit möglich, da die Bedingungen für eine Eskalation vorhanden sind, nämlich die Präsenz schwerer Waffen und die räumliche Nähe der gegnerischen Kräfte. Das Risiko bleibt solange sehr hoch, solange diese Kräfte nicht entflochten werden und die Waffen vor Ort bleiben.



Fragen: Claudia Wagner