Drei Jahrzehnte nach der Samtenen Revolution ist die Atmosphäre in der tschechischen Gesellschaft vergiftet. Im Land Václav Havels gewinnen Politiker Wahlen, die vor laufender Kamera beim Lügen ertappt werden, vulgär sprechen und ihre politischen Gegner diffamieren. Wer die Präsidentschaftswahl in Tschechien in den letzten Wochen im Detail verfolgte, fand sich in einem Albtraum wieder.

Was wäre das weihnachtliche Fernsehprogramm ohne den Film „Drei Nüsse für Aschenbrödel“? Was wäre meine Kindheit ohne den Straßen-Schreck Luzie, ohne die Märchenbraut Arabella, ohne Pan Tau? Lange bevor ich mich entschloss, Prag zu meinem Lebensmittelpunkt zu machen, kannte ich sie, diese unschlagbaren tschechoslowakischen Märchenfilme – ich mochte sie wahnsinnig gerne, und es war sicherlich nicht der Gesang von Karel Gott, der dabei ausschlaggebend war.
Sie waren eindeutig anders als die üblichen Märchenverfilmungen der 70er und frühen 80er Jahre, die an Kitsch, Langeweile und Vorhersehbarkeit nicht zu übertreffen waren. Frecher, witziger, absurder. Stereotypen stellten sie oft in Frage.
Vergiftete Atmosphäre im Land
Aber was ist um Gottes Willen in meiner Wahlheimat los? Wie ist es möglich, dass fast drei Jahrzehnte nach der Samtenen Revolution die Atmosphäre in der Gesellschaft so vergiftet ist? Warum gewinnen im Land Václav Havels Politiker, die vor laufender Kamera beim Lügen ertappt werden, vulgär sprechen und ihre politischen Gegner diffamieren, eine Wahl nach der anderen? Wer die Präsidentschaftswahl in Tschechien in den letzten Wochen im Detail verfolgte, fand sich in einem Albtraum wieder.
Nach einer von Staatspräsident Miloš Zeman geführten Schlammschlacht, die in einem Duell eines privaten Fernsehsenders vor der Stichwahl gipfelte, konnte dieser sein Amt in der historisch zweiten Direktwahl verteidigen – wenn auch nur knapp. Er setzte sich mit 51,4 Prozent gegen seinen Gegenkandidaten, den ehemaligen Vorsitzenden der Akademie der Wissenschaften Jiří Drahoš, durch. Noch vor einer Woche lag Drahoš in Umfragen knapp vorne.
Im Endspurt gelang es Zeman offensichtlich, die Mehrheit der Wahlberechtigten zu mobilisieren, die in der ersten Runde nicht gewählt hatten. Die Wahlbeteiligung lag bei 66,6 Prozent. Bitter ist der erneute Sieg Zemans für alle, die sich in der tschechischen Politik mehr Toleranz, gegenseitigen Respekt und Anstand wünschen und in einer beflügelnden Aufbruchsstimmung auf einen Wandel gehofft hatten, den Drahoš verkörperte. Zemans Arroganz, seine Selbstherrlichkeit und Angriffe, die immer wieder unter die Gürtellinie gehen, scheinen allerdings vielen Tschechinnen und Tschechen zu imponieren.
Gespaltene Gesellschaft
100 Jahre nach der Gründung der Tschechoslowakei, 50 Jahre nach dem Prager Frühling und 25 Jahre nach der Gründung der Tschechischen Republik gibt es wenig Grund zu feiern, denn diese Wahl hat gezeigt: Die tschechische Gesellschaft ist polarisiert und in politischen Fragen entzweit. In vielen Bereichen ist die Spaltung der Wählerschaft von Drahoš und Zeman nicht zu übersehen: Böhmen gegen Mähren, Stadt gegen Land, Jung gegen Alt.
Es zeigen sich auch Trends in Bezug auf die Berufe, die die jeweiligen Wählergruppen ausüben. Zemans Wählerschaft arbeitet überwiegend in den traditionellen Sektoren (Industrie, Landwirtschaft, Baugewerbe und Handwerk), die Wählerschaft von Drahoš arbeitet zum Großteil in der Informationstechnik, der öffentlichen Verwaltung und im Dienstleistungsbereich.
Soziologen sehen hier eine Parallele zu den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten: Die Wählerschaft, die sich von den Folgen der Globalisierung bedroht sieht, scheint sich nach Autoritäten zu sehnen – nach einem starken Mann, der ihnen das Gefühl gibt, dass er sie vor der Unfähigkeit politischer Eliten schützt.
Dabei ist es offensichtlich egal, dass dieser Mann seit Jahrzehnten zur politischen Elite des Landes gehört, gesundheitlich sichtbar angeschlagen ist und Lügen nicht scheut, wie das Faktencheck-Portal Demagog.cz zeigt. Präsident Zeman hat die Abstiegsängste dieser Menschen für sich genutzt und keine Möglichkeit unterlassen, sich als der Retter nationaler Interessen zu positionieren und den etablierten Parteien Untätigkeit und Inkompetenz zu unterstellen.
Seinem Gegenkandidaten Drahoš warf er politische Unerfahrenheit vor und warnte, er sei ein „Willkommensheißer“ von Migranten. Zeman hat in den vergangenen fünf Jahren nichts dafür getan, die Spaltung in der Gesellschaft aufzuhalten. Die Dialogunfähigkeit zwischen seiner Anhängerschaft und seiner Gegnerschaft hat sich ins Unerträgliche gesteigert. Die Fangemeinde Zemans hat sich in den letzten Jahren zudem radikalisiert – es kommt nicht von ungefähr, dass Gäste bei Zemans Wahlparty handgreiflich gegen Journalistinnen und Journalisten wurden.
Gegen Migranten, Muslime und das „Prager Kaffeehaus“
Seinen Kritikern und Gegnerinnen begegnet Zeman nicht selten mit geschmacklosen Beleidigungen. Wenn er in Form ist, schießt er gerne mit Vulgarismen um sich, deren Arsenal grenzenlos scheint. Zeman wettert mit Vorliebe gegen Migranten, Muslime, gegen das „Prager Kaffeehaus“ – womit er Intellektuelle sowie Künstlerinnen und Künstler meint, die nicht seiner Meinung sind.
Auch die unabhängige Medienberichterstattung ist ihm ein Dorn im Auge. Im Mai 2017 sagte er Putin bei einem Treffen in Peking, es gebe unnötig viele Journalisten, die man „liquidieren“ müsse. Viele lachen über Zemans verbale Entgleisungen, aber mindestens genauso vielen ist das Lachen schon lange vergangen. Ein Präsident sollte eigentlich versuchen, tiefe Polarisierungen in der Gesellschaft zu entschärfen. Daran ist Zeman überhaupt nicht interessiert, im Gegenteil.
Die Gräben, die sich in den letzten Jahren in der tschechischen Gesellschaft aufgetan haben, wird Zeman höchstwahrscheinlich nicht versuchen zu überwinden, auch wenn er vor und nach der Wahl versprach sich zukünftig zu mäßigen. Denn diese Gräben sind Fundament seines Erfolgs, sie sind sein politisches Kapital. Es stimmt allerdings auch, dass in Tschechien Parteien jeglicher Couleur den Zukunftsängsten in der Gesellschaft wenig entgegensetzen.
Es reicht nicht darauf zu verweisen, dass Tschechien wirtschaftlich erfolgreich ist und die niedrigste Arbeitslosenquote in der EU hat, denn es geht hier um weit verbreitete Abstiegsängste in einem Land, das sich noch sehr gut an die letzte Systemtransformation und die damit verbundenen Probleme und Entbehrungen erinnert. Durch die Unfähigkeit oder den Unwillen etablierter Parteien, diese Entwicklungen ernst zu nehmen und zu thematisieren, werden Rechtsaußen-Parteien Tür und Tor geöffnet, die Ängste und Ressentiments schüren.
Es ist kein Zufall, dass Zeman in seiner Rede nach der Wahl nur einen Politiker lobend erwähnte, der auch hinter ihm im Bild stand: Tomio Okamura, Vorsitzender der rechts-nationalistischen Bewegung „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD), die im vergangenen Oktober mit 10,6 Prozent als viertstärkste Kraft erstmals ins Abgeordnetenhaus einzog.
Außerdem war am Wahlabend hinter Zeman der ehemalige sozialdemokratische Innenminister Milan Chovanec nicht zu übersehen, der 2017 eine Verankerung des Rechts auf Waffenbesitz in der tschechischen Verfassung durchsetzte – angeblich, um die Sicherheit der tschechischen Bevölkerung zu erhöhen, was in Anbetracht der derzeitigen Sicherheitslage in Tschechien schlicht und ergreifend absurd ist und eine Steilvorlage für Tomio Okamura war.
Drei Nüsse für Babiš?
Der Ausgang der Präsidentschaftswahl ist nicht nur ein unerfreuliches Signal für die Zukunft der politischen Kultur in Tschechien und eine traurige Zustandsbeschreibung der tschechischen Politik und Gesellschaft, er wird auch maßgeblich die weitere Regierungsbildung im Land bestimmen.
Nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober 2017 wurde der Wahlsieger und Vorsitzende der ANO-Bewegung, Andrej Babiš, von Zeman mit der Regierungsbildung beauftragt. Anfang Dezember ernannte ihn Zeman zum Premierminister, obwohl in den Sternen stand, ob seine Minderheitsregierung aus ANO-Mitgliedern und parteilosen Ministerinnen und Ministern es schaffen würde, die Mehrheit des Abgeordnetenhauses hinter sich zu versammeln.
Im Januar verlor Babiš die Vertrauensfrage, unter anderem weil die Mehrheit der Abgeordneten es ablehnt, eine Regierung zu stützen, an deren Spitze ein Großunternehmer und Premier steht, gegen den strafrechtlich wegen des Verdachts auf EU-Subventionsbetrug ermittelt wird. Anfang 2018 stimmte das Abgeordnetenhaus für die Aufhebung der Immunität von Andrej Babiš und den stellvertretenden ANO-Vorsitzenden Jaroslav Faltýnek.
Babiš regiert dennoch unbeirrt weiter und erklärte nach dem Scheitern der Vertrauensfrage, dass er weiterhin eine Minderheitsregierung bevorzuge, sie sei praktischer. Zeman betonte in den letzten Wochen mehrmals, dass er Babiš auch ein weiteres Mal mit der Regierungsbildung beauftragen werde. Nicht wenige fühlten sich deshalb wie im falschen Film, der getrost auch „Drei Nüsse für Babiš“ genannt werden könnte.
Allerdings bleibt abzuwarten, ob Zeman den ANO-Vorsitzenden weiterhin bedingungslos unterstützen wird. Für Zemans Wiederwahl war es wichtig, dass sich Babiš entschieden hinter ihn stellte. Umfragen zeigen, dass Zeman bei der Wählerschaft punkten konnte, die sich Babiš als Premier wünscht. Zeman liegt aber wahrscheinlich nicht sehr viel an einer schnellen Stabilisierung der politischen Lage, da die anhaltende Regierungskrise ihm als Präsident den Spielraum lässt, den er sich wünscht.
Zemans letzte Amtszeit
Dies ist zudem die letzte Amtszeit Zemans, man kann also davon ausgehen, dass er ohne Rücksicht auf Babiš versuchen wird, seine politischen Überzeugungen mithilfe seines dubiosen Beraterteams umzusetzen – dazu gehören die Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen, islamophobe Positionen, eine Öffnung tschechischer Außenpolitik gegenüber Russland und China und die Stärkung direktdemokratischer Elemente in Form von Direktwahlen und Referenden (auch über einen EU-Austritt).
Diese Schwerpunkte sind allerdings nicht alle im Sinne von Andrej Babiš, der sich tatsächlich nichts sehnlicher wünscht, als ein in Europa anerkannter Premier zu werden. Babiš ist nicht sonderlich daran interessiert, die Tschechische Republik an die Peripherie der EU zu katapultieren. Die politische Agenda Zemans deckt sich hingegen mit den politischen Zielen Okamuras.
Es steht zu befürchten, dass Zeman versuchen könnte, Okamuras Stellung in der politischen Landschaft des Landes zu stärken. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass Zeman die Zukunft der tschechischen Sozialdemokraten beeinflussen möchte, deren Vorsitzender er von 1993 bis 2001 war. Von 1998 bis 2002 war er sozialdemokratischer Premier und trat aus der Partei aus, nachdem er bei seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 2003 eine Niederlage einstecken musste: Einige sozialdemokratische Abgeordnete hatten in der damals noch durch beide Parlamentskammern durchgeführten Präsidentschaftswahl nicht für ihn gestimmt.
Der Partei hat er das bis heute nicht verziehen. Wenn man Zemans Lebenslauf kennt, ist es nicht verwunderlich, dass Milan Chovanec, der sich für die Wiederwahl Zemans aussprach und in den letzten Jahren immer wieder die Nähe zu ihm suchte, am Tag nach der Präsidentschaftswahl seine Kandidatur für den Parteivorsitz der Sozialdemokraten bekannt gab.
Was zu hoffen bleibt
Der Schrecken über die brodelnden Konflikte in der Gesellschaft, die diese Wahl zum Vorschein gebracht und auch zugespitzt hat, sitzt heute vielen in den Gliedern. Es bleibt zu hoffen, dass die vielen Menschen, die sich in den letzten Monaten für einen Wandel im Land ausgesprochen und eingesetzt haben, nicht enttäuscht, frustriert, genervt oder verzweifelt ihr Engagement einstellen werden. Dabei sollten sie allerdings auch nicht vergessen, den Dialog zu suchen.
Im Kampfmodus kommt die tschechische Gesellschaft keinen Schritt weiter, er verhärtet nur die Fronten. Dies ist und bleibt auch das Land Václav Havels, der das Prinzip der Hoffnung scharfsinnig auf den Punkt brachte: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist – unabhängig davon, wie es ausgeht.“