Vier Wochen lang zeigte sich das Land von seiner fröhlichen Seite. Die Welt verstand, was eigentlich auf der Hand liegen sollte: Russland ist mehr als nur Wladimir Putin. Der verhielt sich clever und störte das Fest nicht. Politisch wird das Event wohl keine Auswirkungen haben.

Die Fußballweltmeisterschaft in Russland sei "die beste Weltmeisterschaft, die jemals stattgefunden hat" sagte Fifa-Präsident Gianni Infantino am Freitag auf einer Pressekonferenz in Moskau. Er klopfte sich damit selbst auf die Schulter - schließlich lief die Veranstaltung unter seiner Oberaufsicht ab. Russland, so Infantino weiter, habe sich durch das Event zu einem Fußballland verändert. Ob das Land all die riesigen Stadien an den elf Austragungsorten wirklich benötigt, muss auch künftig nicht Infantino beschäftigen, sondern die russischen Beamten und letztendlich die Bürger, die dafür zahlen mussten. So verfügt Saransk, die kleinste WM-Stadt, ab sofort über ein Stadion mit rund 45.000 Sitzplätzen - und das bei nur 300.000 Einwohnern. Die Hauptstadt der Republik Mordowien 650 Kilometer südöstlich von Moskau hat keine Mannschaft in der ersten russischen Liga. Ob sportliche und kulturelle Veranstaltungen die Arenen füllen können, ist eine jener Fragen, die ab Montag auf der Tagesordnung stehen. Ebenso wie die Frage, ob sich das Event wirtschaftlich ausgezahlt hat. Die WM war nicht nur ein Monat des unbeschwerten Karnevals, sie war auch ein extrem teures Ereignis: mehr als zehn Milliarden Euro kostete sie.
Die Ausgaben gibt es schwarz auf weiß. Aber der (Miss-)Erfolg ist schwer in nackten Zahlen zu berechnen. Auch, weil er sich auf vielen verschiedenen Ebenen messen lässt, und es fällt leicht, diese gegeneinander aufzurechnen oder auszuspielen - je nach Präferenz: Da ist der Sport, aber da sind auch Wirtschaft, Gesellschaft, Politik.
Überraschung Russland
Bleiben wir bei der Politik. Waren es Putins Spiele? Ja, aber. War Russland ein toller Gastgeber? Ja, aber.
Diplomaten rühmen gern die Wichtigkeit der sogenannten "Track 3"-Treffen: Begegnungen zwischen Menschen, informelle Gespräche, Volksdiplomatie. So gesehen war in der aktuellen Ost-West-Verspannung die WM eine einmonatige, kollektive Entspannungsübung, die allen Teilnehmern gut tat. Nicht umsonst wurden angesichts des Eintreffens von rund 700.000 ausländischen Gästen Vergleiche zu den Olympischen Spielen von 1980 und sogar den Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Jahr 1957 gezogen. Auch damals begrüßte das geschlossene Land abertausende von Ausländern. Im Sommer 2018 entdeckten Einheimische und Gäste abermals, dass sie gar nicht so stereotyp und schablonenhaft waren, wie sie gedacht hatten. Dass es heute wieder eine derartige Verwunderung über das "sympathische Russland" gibt, wirkt kurios - und gibt doch zu denken. Aus der Sicht der Ausländer ist das Land längst nicht mehr geschlossen: Man kann es seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit einem Visum im Pass bereisen. Doch 70 Prozent der Russen haben keinen Reisepass, mit dem sie die Grenze überqueren können. Vor allem sie sind es, die sich kein eigenes Bild über die Welt außerhalb ihres Landes machen können.
Dass nicht alle zwischenmenschlichen Begegnungen gutgeheißen wurden, war an der Debatte über die Liebschaften zwischen Russinnen und den größtenteils männlichen Besuchern abzulesen.
Konservative Politiker/innen warnten mit zum Teil rassistischen Untertönen vor den künftigen Risiken für Alleinerziehende, und russische Männer ließen in sozialen Netzwerken ihrer Frustration freien Lauf. Dass Frauen sich vergnügen wollen, und es tun, mit wem sie wollen, ist eine der eher unerwarteten Ergebnisse dieser WM. Bald fahren die Konkurrenten ab, aber die Geschlechterdebatte in Russland ist damit längst nicht zu Ende. Die russische Männlichkeit - zwischen Machotum und der von vielen nur mangelhaft erfüllten Rolle als Ernährer - bleibt in der Dauerkrise.
Der Dauerkrise entsprungen ist hingegen endlich der russische Fußball. Fast über Nacht ist das Land zur Fußballnation geworden, und das, wo noch vor Beginn des Worldcups die Russen kein besonderes Interesse an dem als kolossales Bauprojekt wahrgenommenen Spektakel zeigten. Weniger als die Hälfte glaubten laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums, dass die Sbornaja den Gruppenaufstieg schaffen könnte. Das tadellose Ergebnis der Underdogs ließ angesichts der niedrigen Erwartung viele Emotionen frei. Tatsächlich bewiesen die Sportler echten Sportsgeist: Sie siegten zwei Mal in einem fairen Wettkampf. Und als sie verloren, bewiesen die Bürger Größe und führten vor, dass es möglich ist, zu verlieren ohne das Gesicht zu verlieren. Der Schriftsteller Dmitry Glukhowsky ortet in der Reaktion ein Bedürfnis nach Stolz. "Es war eine ehrliche, universelle, aufrichtige, fast unschuldige Freude - ganz anders als damals, als wir die Krim geschnappt haben." Tatsächlich war es eine Freude, wie man sie hier selten erlebt: ohne Pathos, ohne Revanchismus, ohne Angstmache. Man kann nur hoffen, dass diese Wochen den heimischen Fußball beflügeln werden: dass mehr und gezielter Nachwuchs gefördert wird, dass mehr Menschen all die neuen Stadien besuchen werden, dass die russischen Fans in ihren Klubs mehr Mitsprache haben werden, dass mehr Menschen russischen Fußball verfolgen.
Geschickte Abwesenheit Putins
Putin war der große Abwesende bei der WM. Rückblickend muss man sagen: Es war geschickt vom Präsidenten, sich nicht in den Vordergrund des Events zu stellen. Sowieso hätte er ziemlich alleine in der VIP-Lounge gesessen: Europäische Staatschefs hielten sich mit Besuchen zurück. Die wenigsten riefen zum offenen Boykott, die meisten wollten dem Kreml-Chef aber keine Bühne bieten. Der Ansatz war vernünftig, beide Seiten sind damit gut gefahren.
Auch die Staatsmacht hielt sich vier Wochen lang im Hintergrund. Viele Kleinigkeiten, die sonst nicht erlaubt sind, waren plötzlich möglich: spontane Versammlungen, Trinken in der Öffentlichkeit, das Entrollen von Bannern. Für die Ausländer war das nichts Besonderes, für die Russen war es ein fröhlicher Ausnahmezustand. Sie spürten ein paar Gramm mehr Freiheit - und es fühlte sich gut an. Und, noch wichtiger: Die Menschen erlebten, dass bei einer gesellschaftlichen Öffnung das Land nicht im Chaos versinkt, wie sonst so gern und häufig beschworen wird.
Vorne Fußball, hinten knallharte Politik
Dennoch wäre es naiv zu glauben, dass die WM den Kurs der Moskauer Regierung ändern wird. Hinter den Kulissen wurden neue Prozesse gegen Regierungskritiker aufgenommen. Bei den Moskauer Kommunalwahlen im September muss der Amtsinhaber Sergej Sobjanin keine wirklichen Oppositionskandidaten fürchten. Und der ukrainische Häftling Oleg Senzow trat am Freitag in den 60. Tag seines Hungerstreiks. Seine Mutter hat Präsident Putin um die Begnadigung ihres Sohnes gebeten. Willigt Putin ein, würde dies international als Zeichen der Menschlichkeit gelesen werden. Es wäre das perfekte Ende eines russischen Sommertraums.