Mexiko: Versöhnung mit dem Narco-Staat?

Hintergrund

Ab Dezember tritt in Mexiko eine als links geltende Regierung an. Eine der größten Herausforderungen ist die Bewältigung der andauernden Gewalteskalation. Der künftige Präsident setzt eher auf moralische Erneuerung denn auf juristische Aufarbeitung – und stößt damit auf Widerstand.

Coahuila, Oktober 2017: Verschnaufpause der Angehörigengruppe VIDA bei ihrer wöchentlichen Suche nach menschlichen Knochenresten in der Wüste um Torreón.
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Coahuila, Oktober 2017: Verschnaufpause der Angehörigengruppe VIDA bei ihrer wöchentlichen Suche nach menschlichen Knochenresten in der Wüste um Torreón.

Mexiko steht vor einer politischen Zeitenwende: Mit Andres Manuel López Obrador ist – im dritten Anlauf – ein Politiker ins Präsidentenamt gewählt worden, dem man manches nachsagen kann, aber keine Korrumpierbarkeit. Zwölf Jahre lang hat er in einer Art Endloswahlkampf durch die Lande die „Mafia an der Macht" angeprangert – gemeint war die zunehmend kartellartig organisierte Staatspartei PRI und ihre politischen Komplizen.

Sie alle sind nun von Wahlberechtigten mit einer Wucht aus Ämtern, Parlamenten und Landesregierungen gespült worden, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Ein gewaltiges Aufatmen geht durch das Land. Alles Geschwätz vom drohenden Populismus – ohnehin ein nicht nur für Mexiko hohler Kampfbegriff ohne analytischen Mehrwert – verpuffte. Von Wahlbetrug ist zum ersten Mal seit 30 Jahren keine Rede mehr.

Aber auch die einstige Kampfansage scheint mit einem Mal in Luft aufgelöst. Schon in der Wahlnacht gab der Gewählte Reconciliación, Versöhnung, als neue Devise aus. Nicht mehr der realexistierenden Mafia, sondern dem Abstraktum der Korruption wird fortan der Kampf angesagt, aus einem politischen wird ein moralischer Imperativ. Schon eine solche – von López Obrador ausdrücklich so genannte – „Moralisierung“ der Politik ist problematisch, ebenso wie seine religiöse Semantik von „Wiedergeburt“, „Seelenheil“ und „Nächstenliebe“.

Befriedung durch Vergebung?

Richtiggehend fatal aber wird der Leitspruch der „Versöhnung“ angesichts der Gewaltkatastrophe, die das Land seit einer Dekade überzieht. Schätzungen zufolge sind an die 240.000 Menschen seit 2007 gewaltsam zu Tode gekommen, also erschossen, massakriert oder zu Tode gefoltert. Die letzte offizielle Statistik räumt 37.000 Verschwundene ein, mehr als in allen südamerikanischen Militärdiktaturen zusammen. Bis zur Amtsübergabe im Dezember will der künftige Präsident nun eine Strategie der „Befriedung“ vorlegen. Manches geht bereits in die richtige Richtung: Die Sicherheitspolitik soll demilitarisiert werden, verschleppte Menschenrechtsskandale sollen endlich untersucht werden. Für einen echten Neuanfang, so behauptet López Obrador leider auch, „müssen wir lernen zu vergeben“.

So polemisch es klingen mag: „Nationale Versöhnung“ war in den 1950er Jahren die Losung von General Franco, nachdem er zehn Jahre zuvor die Spanische Republik im Schutt und Asche gelegt hatte. Und, als er dann 1975 friedlich entschlafen war, war dies auch das Motto der „Übergangsregierung“, die das Land in die Demokratie führte, gepaart mit einer kommoden Amnestie für die am Massenmord Beteiligten.

In Argentinien hingegen, so etwas wie ein vergangenheitspolitisches Role Model für die Nachbarländer, gab es nach Ende der Diktatur Mitte der 1980er Jahre erst einmal einen spektakulären Prozess gegen sämtliche Junta-Generäle. Zwar wurden später auch hier Schlussstrich-Gesetze verhängt, um die Militärs ruhig zu halten. Die bleierne Zeit der Straflosigkeit aber hatte ein Ende, als die Kirchner-Regierung in den 2000er Jahren den Weg frei machte, um Tätern und vor allem Mittätern doch noch den Prozess zu machen – nicht über Sondergesetze und vor ausländischen Tribunalen, sondern in regulären Strafrechtsverfahren vor nationalen Gerichten. Das Wörtchen Reconciliación kommt im Vokabular von Opfergruppen oder Menschenrechtsorganisationen bis heute nicht vor.

Narco-Politik und Straflosigkeit

Natürlich ist der organisierte Staatsterror wie in Spanien oder Argentinien nicht dasselbe wie das diffuse Terrorregime, das sich in Mexiko mit der Militarisierung der staatlichen „Drogenbekämpfung“ vor über zehn Jahren etabliert hat. Kein monolithischer, krimineller Staat stand dahinter, sondern ein Geflecht aus immer weiter diversifizierten kriminellen Ökonomien und korrupten Staatsbediensteten, von einfachen Polizisten bis zum Gouverneur. „Makrokriminalität“ nennen die Experten diese Seilschaften, bei vielen Mexikaner/innen läuft es unter Narco-Estado, Drogenstaat.

Die Korruption, die López Obrador so glühend bekämpfen will, ist tatsächlich das Scharnier, über die sich Teile des Staates mit den Kartellen verflechten. Diese Verflechtung ist kein Relikt der Vergangenheit, wie der Historiker Claudio Lomnitz feststellt, sondern geht paradoxerweise einher mit der Geschichte der politischen Pluralisierung. Denn erst mit dem Niedergang der traditionellen Einkommensquellen in den wirtschaftsliberalen 1990er Jahren verbreitete sich die „Drogenökonomie“ über das gesamte Land und suchte neue politische Interessenvertretungen. Neue und auch alte Parteien buhlen nun vermehrt um die neuen Magnaten, die Narco-Política war geboren.

Dass dieses Geflecht sich derart ungehindert ausbreiten könnte, hat aber auch mit der tief verankerten Kultur der Straflosigkeit zu tun. Schon für das Massaker an Studierenden im Oktober 1968 wurde kein einziger Verantwortlicher jemals rechtskräftig verurteilt. Heute sind Massaker, Folter und Verschwindenlassen nicht mehr politisch, sondern ökonomisch motiviert, als Waffe im brutalen Konkurrenzkrieg um Märkte, Routen und Territorien. In einem internationalen Straflosigkeits-Index vom März 2018 rangiert Mexiko weltweit an vierter Stelle.

Um diesen Bann zu brechen, täte strafrechtliche Aufarbeitung not. Nicht nur wegen der Gerichtsurteile, sondern weil Rechtsprechung ja auch Rekonstruktion befördert. Und es gilt dringend zu rekonstruieren, wie der Narco-Estado funktioniert hat, wie sich die Epidemie systematischer Gewalt im Land ausbreiten konnte, wie sich das katastrophale Staatsversagen erklären lässt. 

Opfer sollen Opfer bringen

Die Chancen dazu stehen nicht schlecht: Im neu berufenen Kabinett sind viele als integer und kompetent geltende Köpfe versammelt. Darunter wiederum viele Frauen, wie die künftige Innenministerin Olga Sánchez Cordero, eine ehemalige Verfassungsrichterin, die für das Recht auf Abtreibung und Legalisierung von Marihuana eintritt. Es ist eine neue Garde, überwiegend unverstrickt in das gewachsene mafiöse Geflecht, die sich mit Engagement und Sachkenntnis ans Werk macht. Neu ist auch die Strategie des „Zuhörens“, zu allen möglichen Themen werden derzeit öffentliche Anhörungen und Bürgerbefragungen organisiert. So sind im August landesweit „Versöhnungsforen“ angelaufen, zu denen neben Expert/innen auch Gewaltbetroffene, vor allem Angehörige von Massakrierten, Gefolterten und Verschwundenen, geladen sind.

Hier aber tun sich noch gewaltige Gräben auf. Das wurde schon klar, als der designierte Sicherheitsminister, Alfonso Durazo, allen Ernstes verkündete, es seien die Betroffenen, die für den Frieden „das höchste Opfer“ zu bringen hätten, nämlich „Vergebung“. Man werde wohl nicht zueinanderkommen, konterte Tage später Silvia Ortiz aus dem nordmexikanischen Coahuila, „wenn man von uns erwartet, dass wir vergeben“. Seit 14 Jahren sucht die Aktivistin nach ihrer Tochter. Nach dem Ayotzinapa-Skandal im September 2014 begann Ortiz, wie viele andere im Lande, sich eigenhändig auf die Suche zu machen. Seit 2015 hat ihre Gruppe Tausende von Knochenteilchen in der nordmexikanischen Wüste aufgesammelt.

Als López Obrador zum Auftakt der Foren erneut für sein Mantra der Versöhnung warb, riefen ihm erzürnte Angehörige die ganz anderslautenden Mantras der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung entgegen: Ni perdón ni olvido, „Kein Vergeben, kein Vergessen“ oder Juicio y castigo, „Gerichtsprozess und Bestrafung“. Wie fremd López Obrador diese Welt zu sein scheint, zeigt seine bizarre Reaktion: „Ich glaube nicht an Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Die Gleichsetzung des Verlangens nach Justicia, nach Recht und Gerechtigkeit, mit biblischen Rachegelüsten gehört gewöhnlich zur Rhetorik scheidender, nicht kommender Regierungen. 

Die designierte Innenministerin Sánchez Cordero räumte gegenüber der Wochenzeitschrift „proceso“ ein, dass sie das „Ausmaß der nationalen Tragödie nicht wirklich erfasst“ hatte, bis sie sich kürzlich mit Müttern von Verschwundenen getroffen habe. Die Äußerung ist symptomatisch für die Parallelwelten, die in Mexiko mit der Gewalt einhergehen. Seit Jahr und Tag berichten Opfer und Medienarbeiter/innen auf allen Kanälen über den Horror des Verschwindens, über Leichenfunde, Tote und Verstümmelte. „Was ist nur mit den politischen Akteuren in diesem Land los, die offenbar völlig abgeschottet waren, solange das Drama nicht bei ihnen an die Tür klopft?“, fragt die Interviewerin Marcela Turati, einer der Frontline-Reporterinnen des Landes.

Kein Postkonflikt

„Transitional Justice“ lautet nun auch in Mexiko die neue Zauberformel. Gemeint ist ein Bündel von Maßnahmen, die im Übergang von einem Regime zu einem anderen, also von der Diktatur zur Demokratie, vom Bürgerkrieg zum Postkonflikt, helfen sollen, massenhafte Menschenrechtsverletzungen zu bewältigen. Dazu gehören juristische Sonderregeln – Amnestie oder auch Strafminderung gegen Information – und Wahrheitskommissionen, „Wiedergutmachung“ und „Erinnerungskultur“.

Mexiko aber ist kein Übergangsszenario, wie es im Buche steht. Es hat im 20. Jahrhundert keine Militärdiktatur erlebt und keinen deklarierten Bürgerkrieg. Von Postkonflikt kann keine Rede sein, 2017 gilt mit 25.000 Gewaltopfer als das bislang blutigste Jahr in der Terrordekade. So wirkt schon das gutgemeinte Gerede von „historischer Erinnerung“ seltsam fehl am Platz.

Bei einer Gewaltkatastrophe in der Gegenwart geht es ja weniger um Vergessen als um Verdrängung, also um die Gewöhnung an den Exzess. So wollen Gewaltbetroffene, etwa Angehörige von Verschwundenen, in der Regel auch nichts von „Entschädigung“ wissen. Der Riss in ihrem Leben ist viel zu frisch, jede Aussicht auf „Wiedergutachtung“ klingt da obszön. Am wichtigsten ist ihnen, ihre Liebsten wieder zu bekommen, wenn nicht schon lebendig, dann wenigstens die toten Körper. So hätten viele nichts einzuwenden gegen den Deal, dass Täter ihr Wissen über geheime Grabstellen gegen Strafnachlässe preisgeben. Allerdings müssten dazu Mörder und ihre Helfer, wie in Kolumbien ehemalige Paramilitärs oder auch Guerilleros, erst einmal glaubhaft überführt sein. In Mexiko sind die Gefängnisse voll von Menschen, die ohne Urteil oder nur aufgrund erfolterter Geständnisse hinter Gitter sitzen.

Auch gegen Wahrheitsfindung in Gestalt von Kommissionen ist selbstredend nichts einzuwenden. Nur sollte sie nicht von vorneherein zur juristischen Folgenlosigkeit verdammt sein. Denn das hat es schon einmal gegeben, als – ausgerechnet – der rechtsliberale Präsident Vicente Fox (2000-2006), der als erster eine PRI-Regierung ablöste, eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Aufklärung der staatlichen Verbrechen der 1960er und 1970er Jahre einrichten ließ. Im Abschlussbericht ist die brutale Repression, samt Geheimgefängnissen, Foltertechniken und Verschwindenlassen, minutiös dokumentiert und im Netz frei zugänglich. Verurteilt wurde dennoch keiner der Verantwortlichen.

Natürlich geht es in Mexiko zunächst einmal um Eindämmung der wuchernden Gewalt. Dazu braucht es neben der dringend anstehenden Demilitarisierung wohl auch Verhandlungen mit Gewaltakteuren. Das ist ohnehin ein mühsames Geschäft, in dem Rückschläge jederzeit möglich sind, wie man nicht zuletzt in Kolumbien sieht. In Mexiko hat man es nicht mit ehemaligen Guerrilleros, sondern mit aktiven Kartellchefs zu tun, also mit Massenmördern. Ein fieser Gedanke. Verhandeln aber, und das ist ein entscheidender Unterschied, ist nicht vergeben.

Ein paar Monate hat die neue Truppe noch, bis sie am 1. Dezember ihre Ämter antritt. Es ist zu hoffen, dass das „Zuhören“ Früchte trägt und mit entsprechender Lernbereitschaft einhergeht. Denn auch wenn das Land der institutionalisierten Revolutionäre bekannt ist für seine mitunter paradoxe Politik: Sollte ausgerechnet die erste linke Regierung Mexikos den Narco-Staat in Frieden (ruhen) lassen, wäre das eine allzu böse Paradoxie.