Wachstum in der Klimawissenschaft: Ein blinder Fleck

Pressemitteilung

Globale Szenarien aus wachstumskritischer Perspektive: Studie zu den Klimaschutzszenarien in den Berichten des Weltklimarates IPCC im Vorfeld des Sonderberichts zur Begrenzung der globalen Erderwärmung auf 1.5°C.

Lesedauer: 4 Minuten

Eine heute veröffentlichte Studie der Heinrich-Böll-Stiftung und des Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. kritisiert die in den Berichten des Weltklimarats berücksichtigten Klimaschutzszenarien als unzureichend. Die von Kai Kuhnhenn vom Konzeptwerk erstellte Untersuchung bemängelt, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen weiterhin ausschließlich auf konventionellen Wachstumsmodellen basieren und zeitweise Überschreitungen der Erwärmungsgrenzen von 1,5°C oder 2°C zulassen. Die zu viel ausgestoßenen Emissionen sollen nachträglich mit riskanten Technologien zur CO2-Entnahme wieder eingefangen werden. Effektive politische Maßnahmen jenseits der Wachstumslogik, etwa weniger Produktion und Konsum in bestimmten Bereichen wie zum Beispiel der Schwerindustrie, fänden somit kaum Eingang in die klimapolitischen und gesellschaftlichen Diskussionen.

Kai Kuhnhenn zur Studie: "Grundsätzlich sind die IPCC-Berichte und ihre globalen Klimaschutzszenarien wichtige Instrumente, um mögliche Wege hin zu einer klimafreundlichen Welt zu entwickeln, denn sie bilden die zentrale Grundlage für politische und gesellschaftliche Aushandlungen zum Klimaschutz. Doch die derzeitigen globalen Klimaschutzszenarien gehen vor allem von weiterem Wirtschaftswachstum aus, auch im globalen Norden. Maßnahmen, die zu weniger Produktion und Konsum führen, kommen darin nicht vor. Damit wird ein Wandel hin zu einer Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum als Möglichkeit ausgeblendet."

Linda Schneider, Referentin für Internationale Klimapolitik bei der Heinrich-Böll-Stiftung ergänzt: „Die Potentiale hocheffektiver, nicht-wachstumsbasierter Klimaschutzmaßnahmen werden vorneherein verschenkt, wenn sie in den Modellszenarien des IPCC nicht einmal erwähnt werden. Dabei können zum Beispiel eine nachhaltige und naturnahe Waldbewirtschaftung, Agrarökologie oder eine echte Zero-Waste-Kreislaufwirtschaft einen gewaltigen Beitrag zu Emissionsreduktionen leisten und nebenbei die Funktionen natürlicher Senken stärken. Das zeigen auch zahlreiche Erfahrungen von konkreten Projekten und sektoralen Studien aus der ganzen Welt, die die Heinrich-Böll-Stiftung erst jüngst in einer Textkollektion vorgestellt hat.“

Lili Fuhr, Referentin für Internationale Umweltpolitik bei der Heinrich-Böll-Stiftung: „Für eine zukunftsfähige und handlungsrelevante Klimapolitik braucht es mehr radikalen Realismus. Damit alternative Zukünfte überhaupt vorstellbar werden, muss ein Kurswechsel bereits bei der wissenschaftlichen Modellierung und der Auswahl von Szenarien anfangen. Politik und die Zivilgesellschaft sollten dies in aller Deutlichkeit einfordern und durch spezifische Forschungsprogramme und Fördermittel unterstützen. Solange dies nicht passiert, muss klar kommuniziert werden, dass aktuelle klimaökonomische Modellergebnisse keine geeignete Grundlage für eine echte sozial-ökologische Transformation darstellen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie zur Steilvorlage für die Erforschung und Erprobung riskanter Geoengineering-Technologien werden.“ 

Die heute vorgestellte Studie „Wachstum in der Klimawissenschaft: Ein blinder Fleck“ fordert eine stärkere Einbeziehung und gezielte Erforschung von Entwicklungspfaden jenseits von ausschließlich wachstumsbasierten Szenarien und eine konsequentere Berücksichtigung innovativer ökonomischer Denkmodelle.

Die Studie steht als Download hier zur Verfügung.

Außerdem:
„Nicht von Pseudolösungen ablenken lassen“
Interview mit Barbara Unmüßig zu radikal-realistischen Strategien für das 1,5 Grad Ziel in der Klimapolitik 

Dossier zum 1,5 Grad Ziel und zur Textkollektion "Radical Realism for Climate Justice" (in englischer Sprache)

Veranstaltungs-Hinweis 11.10.2018:

Kurswechsel 1,5 Grad
Die Grenzen des Wachstums bei der Lösung der Klimakrise

Mittwoch, 11. Oktober 2018, 18:00 Uhr - 22:00 Uhr
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin 

Mit:

  • Johann Rockström (design. Direktor , Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung)
  • Mons. Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer Misereor e.V.)
  • Barbara Unmüßig (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung e.V.)
  • Angelika Zahrnt (Ehrenvorsitzende BUND e.V.)

Anfang Oktober soll der Sonderbericht des Weltklimarats zum 1,5 Grad-Limit der maximalen globalen Erwärmung verabschiedet werden. Wirkungsvolle Lösungen für die Klimakrise sind dringender denn je. Dabei wird immer deutlicher, dass technische Optionen allein zu kurz greifen. Vielmehr müssen wir das vorherrschende Wachstumsparadigma in Frage stellen und den Wandel hin zu einer klimafreundlichen Weltgemeinschaft anstoßen, die sich innerhalb der planetaren Grenzen bewegt. Welche Maßnahmen können wir ergreifen, um den globalen Energie- und Ressourcenverbrauch zu senken? Welche Änderungen brauchen wir in unserer bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise? Und wie können diese Schritte auch zur Lösung der anderen sozial-ökologischen Krisen beitragen?

Diese Fragen und mögliche Antworten werden die vier Podiumsgäste des Abends diskutieren.

Sprache: Englisch/Deutsch
Eine Kooperation der Heinrich-Böll-Stiftung mit dem BUND und Misereor

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Pressekontakt
Heinrich-Böll-Stiftung
Michael Alvarez Kalverkamp, Pressesprecher
alvarez@boell.de, +49 (0)30 285 34-202