Aus den Wahlen in Senegal am 24. Februar 2019 ging der amtierende Präsident Macky Sall mit 58 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Am 2. April wurde er vereidigt und präsentierte seine neue Regierung. Zum Anlass der Wahlen interviewte die Heinrich-Böll-Stiftung Fadel Barro, den ehemaligen Koordinator der Bewegung „Y en a marre“ (dt. Wir haben es satt). Barro war stark in eine Mobilisierungskampagne involviert, die vor allem junge Senegalesinnen und Senegalesen dazu motivierte, wählen zu gehen. Nachdem er die Leitung von „Y en a marre“ an seinen Nachfolger Aliou Sané abgegeben hat, zieht er nun Bilanz aus den Wahlen und berichtet uns, was er von der neuen Regierung erwartet.

Was kann man als Bilanz aus den Präsidentschaftswahlen 2019 in Senegal festhalten?
Seit den Parlamentswahlen wurden Schwächen und Fehler beim Wahlverfahren offenbart. Durch einseitige Entscheidungen sind Kandidaten ausgeschlossen worden, die Verteilung der Wahlausweise war nicht transparent. All das hat eine ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen verhindert. Es gab viele Verstöße, die Zweifel an den Ergebnissen aufkommen lassen und das Vertrauen zwischen den verschiedenen Akteuren zerstört haben. Deswegen hat die Bevölkerung die Wahlergebnisse mit Unbehagen aufgenommen.
Als Insider der Zivilgesellschaft mit Zugang zur Politik, wie sehen Sie die Lage der Demokratie?
Unser eigentliches Problem ist eine Krise der Repräsentation und eine mäßige politische Elite. Die Elite nimmt ihre Verantwortung nicht wahr, kommt ihren offiziellen Zielen nicht nahe und vernachlässigt die von den Bürgern geäußerten Bedürfnisse. Die Senegales/innen fangen generell an, sich für ihre Demokratie zu interessieren und seit Langem schon fordern sie Gewaltenteilung, eine gute Regierungsführung, Beendigung des politischen Nepotismus und Klientelismus, kurz: mehr Demokratie.
Aber es zeigt sich, dass die politische Elite nicht dem Anspruchsniveau der senegalesischen Bevölkerung genügt. Zunächst einmal hinsichtlich der Organisation der politischen Parteien selbst, von denen bis heute keine einzige einen internen Mechanismus etabliert hat, der Demokratie, Erneuerung und Transparenz garantiert. Es gibt innerhalb der politischen Parteien keinerlei Transparenz.
Zweitens führen die Politiker, mit wenigen Ausnahmen wie dem Präsidentschaftskandidaten Ousmane Sonko, einen überholten Diskurs, der mit den Anliegen der Leute nichts zu tun hat. Der politische Diskurs folgt häufig den Empfehlungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Es wird viel von Entwicklung gesprochen, aber man interessiert sich nicht für die Entwicklung der Menschen, wie diese sie sich vorstellen. Die Leute wollen nichts als ihre eigene Entfaltung. Dass man auf ihre Erfahrungen schaut, wie sie leben. Dass man sich für ihre Freiheit interessiert. Sind sie frei, sich zu äußern? Sind sie frei, ihre Position zu artikulieren, ihren Standpunkt, ihre Lebensweise?
Politiker gehen auf diese Fragen nicht ein. Aber das schwächt eine Demokratie, die eine wirkliche Demokratie sein will. Unsere Demokratie ist ein Raum, wo sich eine überholte politische Elite mit überholten Ansichten unter sich austauscht, aber nicht imstande ist, einen guten Teil, um nicht zu sagen die Mehrheit der senegalesischen Bevölkerung, für den Aufbau der Demokratie, für unsere Entwicklung zu mobilisieren.
Wie beurteilen Sie, dass bei den Wahlen im Februar 2019 keine Frau kandidiert hat?
Unsere politische Elite verbreitet die Stigmata einer feudalen Gesellschaft mit Prinzipien, die auf Gerontokratie und Patriarchat fußen. Dadurch werden generell Talente an ihrer Entfaltung gehindert, und die Schwächsten, also die Frauen und Kinder, werden unterdrückt.
Im Moment instrumentalisiert das politische Personal den Wunsch der Frauen, am nationalen Aufbau teilzuhaben, mittels populistischer Gesetze, die nicht wirklich umgesetzt werden, wie beispielsweise das Gleichstellungsgesetz von 2010. Frauen wird auch oft die für Männer nützliche Rolle der „Claqueurin im Wickelrock“ – also Frauen, die angeheuert werden, in bunten Kleidern mit Aufdrucken einer Partei oder Präsidentschaftskandidaten den männlichen Politikern öffentlich zuzujubeln. Trotzdem sind es die Frauen, die wählen. Sie sind also die Grundlage der Macht, haben selbst aber keine Macht.
Die Lebensbedingungen und Anliegen der senegalesischen Frauen spielen in der politischen Debatte keine Rolle. Dieser Mangel ist noch nicht einmal Thema, weil, um es noch einmal zu sagen, das Verständnisniveau unserer politischen Eliten über die einfachsten Erwartungen nicht hinauskommt. Die Herrschaft von Gerontokratie und Patriarchat hält die Frauen von allen gesellschaftlichen Ebenen fern. Sie sind auf Haushalts- und Dienstbotenaufgaben beschränkt, weil sie der Sache der Männer zu dienen haben.
Was sagen Sie zu der ausgestreckten Hand von Präsident Macky Sall, der nach der angespannten Stimmung vor den Wahlen nun die Opposition zum Dialog aufruft?
Das Problem ist, dass bei uns das politische Wort nicht viel gilt. Der ehemalige Präsident Abdoulaye Wade pflegte zu sagen, ein Versprechen verpflichte nur denjenigen, der daran glaubt. Macky Sall hat uns gezeigt, dass man seinen Worten und Versprechen keinen Glauben schenken kann.
Sall hat den Dialog einfach wie einen Slogan benutzt. Er hat einen politischen Dialog organisiert und hat Leute eingeladen, die die ganze Zeit Lobeshymnen auf ihn gesungen haben. Es gab nur wenige Parteien, die da waren und etwas forderten. Letzten Endes ist absolut nichts passiert. Das war dasselbe wie mit dem Dialog über das Ölmanagement, bei dem er Texte vorbereitet hatte, die nur noch abgesegnet werden sollten.
Ein weiteres Problem ist, dass jedes Mal, wenn Sall alle gesellschaftlichen Kräfte zum Dialog aufgerufen hat, dies vorrangig dazu diente, Personen aus der Zivilgesellschaft für die eigene Sache zu rekrutieren. Der Dialog ermöglicht der Regierung schlicht die Abwerbung von Personal.
Letztlich ist der Dialog für Sall also ein Kommunikations- und Rekrutierungsinstrument. Aus diesem Grund sind wir skeptisch, weil wir nicht wissen, was er damit noch machen wird. Nach solchen Wahlen, nach denen es so viele Dinge zu verarbeiten gibt und darüber nachgedacht werden muss, wie die Probleme in unserer Gesellschaft gelöst werden können, hätten wir uns einen aufrichtigen Dialog über die wirklichen Anliegen der Senegalesen gewünscht.
Welche Erwartung hat „Y en a marre“ an die neue Regierung?
Die Arbeit von „Y en a marre“ besteht nicht darin, etwas von der Regierung zu erwarten. Wir fordern sie auf, das zu machen, für das sie gewählt wurde. „Y en a marre“ arbeitet nach dem Prinzip des staatsbürgerlichen Engagements. Wir arbeiten als Staatsbürger/innen und warten nicht auf die Regierung. Wir sind ihr gegenüber in der Position einer Gegenmacht, einer Position der Kritik und der Anprangerung, um die Dinge zu verbessern.
Im Moment hindert uns das nicht daran, die Anliegen der Senegales/innen zu artikulieren, vor allem die Unabhängigkeit der Justiz. Es ist dringend notwendig, die Gewaltenteilung zu etablieren, gegen Straffreiheit und Korruption zu kämpfen, die gute Regierungsführung zu fördern, Klarheit darüber zu schaffen, wie lange ein Präsident im Amt bleiben darf und den Nepotismus und den Klientelismus zu beenden. Vor allem geht es darum, sich dafür einzusetzen, dass die Senegales/innen alle ihre Talente und Möglichkeiten zum Ausdruck bringen können, und das geschieht auch durch die Einbeziehung der Frauen und der jungen Leute in die Entscheidungsprozesse.
Die Leitung der Bewegung „Y en a marre“ ist jetzt an Aliou Sané übergegangen. Was bedeutet das für Sie?
Ich bin das Beispiel für den Wandel, der kommen soll. Man kann nicht diese oder jene Position vertreten, kann nicht predigen, dass es innerhalb der Parteien demokratisch zugehen muss, dass es einer Erneuerung der Gremien bedarf, ohne dass man sich selbst in diese Forderungen einbezieht. Für wirkliche innere Demokratie braucht es solche Veränderungen. Anschließend muss allen in „Y en a marre“ vereinten Kräften gestattet werden, sich zu äußern, ihre eigenen Visionen zu artikulieren. Es ist extrem wichtig, den jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, zum Aufbau einer Bewegung beizutragen, die uns standhält, die uns überlebt.
In Senegal, in Afrika und ein bisschen wohl überall auf der Welt haben die Leute, die eine Organisation gründen, die Angewohnheit, diese niemals mehr zu verlassen. Es gibt eine so starke Einverleibung, dass die Organisation ihr öffentliches Eigentum wird. Wir wissen, dass wir die starken Köpfe der Bewegung sind, aber die Bewegung muss über uns hinauswachsen. Stark ist die Institution. Die Personen gehen, aber die Institutionen bleiben, und wir wollen, dass „Y en a marre“ zu jenen Institutionen gehört, die die Menschen, die sie leiten, überleben. Wir wollen mehrere Anführer haben, und wir wollen, dass morgen die Kinder unserer Kinder sich in „Y en a marre“ als sie selbst artikulieren können, dass sie gehört werden, und das geschieht durch eine Erneuerung auf allen Ebenen.
Übersetzt von Uta Rüenauver, bearbeitet durch Claudia Simons.