Janna Heine, Freie Universität - Berlin

Die neue Rästelhaftigkeit. Sinnliche Erfahrung im iranischen Film

Lesedauer: 5 Minuten

In den letzten Jahren sorgen einige iranische Festivalfilme durch formale als auch narrative Strategien beim Publikum für Irritation und Desorientierung. Desorientierend sind sie vor allem deshalb, da sie gängige Erwartungshaltungen an den iranischen Festivalfilm als Akteur des sogenannten Weltkinos stören und dennoch referenziell darauf verweisen. Die Filme brechen mit Konventionen und fordern das Publikum heraus, andere Blickwinkel auf die Filme, ihre Diskurse sowie das Zuschauer*innen-Film-Verhältnis entwickeln. Im Fokus meiner filmwissenschaftlichen Untersuchung stehen drei iranische Spielfilme der letzten fünf Jahre, mit denen drei zentrale Perspektiven der Weltkinotheorie kapitelweise reformuliert werden können: das Fremde, das Realistische sowie das Politische.

Mit Babak Anvaris Haunted-House-Horror UNDER THE SHADOW (2016) drängt sich eine Befragung des Begriffs Fremdheit auf, die sich nicht länger auf Vorstellungen des kulturell Fremden bezieht, sondern Fremdheit unter Bezug auf Bernhard Waldenfels‘ Phänomenologie des Fremden als Fremderfahrung in den Blick rückt. Das Fremde ist demnach nichts, was sich als Entität bestimmen lässt, sondern ist nur in der Veränderung des eigenen, verkörperten Leibs zu denken. Die Phänomenologie ermöglich einen dekolonialen Blick auf die Essenz des Weltkinos, dessen Faszination in der Fremdbegegnung verortet ist.

Ali Soozandehs TEHERAN TABU (2018) ist als Rotoskopieanimation realisiert. Die Schauspieler*innen wurden vor Green Screen gedreht, im Anschluss nachgezeichnet, während der Hintergrund des Films vollständig künstlich hergestellt wurde. Im Rekurs auf phänomenologische Ansätze zu Theorien des Magischen Realismus erarbeite ich ein nicht-repräsentatives, sprich nicht-mimetisches Verständnis von Authentizität oder Realismus. Stattdessen rücken formal-ästhetische Verfahren der Desorientierung in den Vordergrund, die gerade nicht das Abbilden einer vorfilmischen Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, sondern vielmehr eine Neupositionierung der Zuschauer*innen zur Welt und sich selbst verlangen.

Mit Mani Haghighis A DRAGON ARRIVES! (2018) erarbeite ich über die Analyse von Farbexzessen einen Politikbegriff, der sich jenseits binäroppositioneller Ideen des politischen iranischen Kinos als Widerstand gegen das Islamische Regime greifen lässt. Das Politische des Films liegt, wie auch in den beiden Filmen zuvor, in Affekten der Irritation. Im Rekurs auf die Kognitionstheorie sowie Jacques Rancières Ausführungen zum Verhältnis von Politik und Ästhetik veranschauliche ich einen Entwurf des Politischen, der Widerstand nicht im Sinne einer Gegenbewegung zu einem politischen System denkt, sondern als die von Rancière formulierte Neuaufteilung des Sinnlichen.

Seit mehreren Jahren ist die Idee ethnografischer Filmbefragungen, wie sie im Kontext der Weltkinotheorie ursprünglich formuliert wurde, speziell durch den Einfluss der Postcolonial und Cultural Studies in Kritik geraten. Mein Dissertationsvorhaben will den Weltkinobegriff nicht ab-, sondern neuschreiben und zugleich einen dekolonialen Zugang zum iranischen Kino entwickeln, der die Diskurse, in denen das Kino zirkuliert, berücksichtigt. Während das iranische Kino seit Jahrzehnten zu den populärsten und erfolgreichsten Festivalbeiträgen zählt, ist die wissenschaftliche Untersuchung sowohl im deutschsprachigen als auch im englischsprachigen Forschungsraum fernab nationalkinematografischer und ethnografischer Perspektiven kaum vorangetrieben worden.

Die Filme greifen unter anderem Modi des Horrors und Thrillers auf, bauen phantastische Elemente ein oder setzen moderne Filmtechniken wie die Rotoskopie ein. Dadurch erschaffen die Filme - für die iranische Nationalkinematografie bislang ungewöhnlich - audio-visuelle Affektpoetiken, die die Sinne der Zuschauer*innen adressieren.

Mit der Fokussierung auf sinnlich-leiblich wahrnehmbare Konzepte in den Filmen wird die Idee von Film als abbildrealistischer oder allegorischer Ausdruck einer politisch-gesellschaftlichen Situation kritisch reflektiert. Besonders in der westlichen Filmkritik ist die Auseinandersetzung mit dem iranischen Film meist eng verwoben mit Fragen nach der künstlerischen Zensur, wogegen sich Mani Haghighi bei der Berlinale 2016 öffentlich positionierte und eine Anerkennung seines Films PIG als Kunstwerk und nicht als Nebenprodukt der iranischen Zensurbehörde einforderte.

In meiner Forschung beziehe ich mich auf Jacques Rancière‘s kunstphilosophischen Ausführungen zur Politik der Ästhetik, die politische Kunst nicht als Abbildung oder Symbolisierung von Politik, sondern als Form von Erfahrung beschreibt, mit der Konsens und Grenzen des Alltäglichen überwunden werden können. Methodisch greife ich auf die neoformalistische Filmanalyse zurück, die im theoretischen Rahmen post-phänomenologischer Körperdiskurse der Film-, Kultur- und Kunstwissenschaften verwoben ist. Ich arbeite darüber hinaus mit dem Differenzbegriff von Politik und Politischem, den insbesondere Oliver Marchart detailliert aufgearbeitet hat. Ausgehend von dieser Differenz frage ich nicht nach explizit politischen Ereignissen, die im Film ihren Ausdruck finden (die Politik). Stattdessen nehme ich Bezug auf ein gemeinschaftliches Gefühl der Unordnung, der Instabilität und des Dissens (das Politische), das in Iran zum Beispiel durch oppositionelle Bewegungen seit 2009 verstärkt in den öffentlichen Raum tritt.  Ziel der Dissertation ist ein neues Regime der Kunst in der jüngsten Welle des iranischen Filmschaffens herauszuarbeiten, in dem sinnlich-leibliche Wahrnehmungsformen Konzepte von Bedrohung, Paranoia oder das Feststecken in Raum und Zeit vermitteln. Der affective turn im iranischen Film ermöglicht nicht nur ein Nachdenken über den Film und seine rätselhafte Bedeutung, sondern er ermöglicht ein Nachfühlen der Lebens- bzw. Erlebenssituation in Iran. Mein Forschungsprojekt betont den Geltungsbereich des jungen iranischen Films als audio-visuelles Kunstwerk, das nicht nur als Politikkritik gelesen werden kann, sondern das dem Publikum durch seine Politik der Ästhetik einen sinnlich-leiblichen Zugang zur allgemeinen Ordnung, zum Politischen, im Iran ermöglicht.