Europarat: Russlands Mitgliedschaft nicht ohne Substanz

Interview

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) wird aller Voraussicht nach am 24. Juni 2019 die Sanktionen gegen die russische Delegation aufheben, die nach der Krim-Annexion und aufgrund der russischen Rolle im Krieg im Donbass verhängt worden waren. Die abstimmenden Mitglieder der Versammlung stehen dabei vor einem Dilemma: Ein Ausschluss bzw. Austritt Russlands aus dem Europarat würde für die Bürger/innen Russlands den Zugang zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof versperren.

Swetlana Gannuschkina

Der nun mit Russland verhandelte Verbleib ohne substanzielles Entgegenkommen in Bezug auf die Prinzipien und Werte des Europarats beschädigt jedoch die Glaubwürdigkeit der Institution, da krasse Verstöße gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln ohne Konsequenz bleiben. Aus Sicht der Heinrich-Böll-Stiftung ist der gefundene "Kompromiss" keiner: Der Erpressung durch Russland (keine Teilnahme, keine Zahlungen, falls nicht vollständige Rücknahme der Sanktionen) wird ohne Gegenleistung nachgegeben. Damit wird zukünftigen Erpressungsversuchen Tür und Tor geöffnet.



Zur Dokumentation der Kontroverse zu dieser Frage innerhalb der russischen Zivilgesellschaft dokumentieren wir ein Interview mit Swetlana Gannuschkina, Vorstandsmitglied des Menschenrechtszentrums von MEMORIAL und Trägerin des Alternativen Nobelpreis im Jahr 2016. Noch im November 2018 veröffentlichten eine Reihe russischer Menschenrechtler/innen ein Memorandum, in dem sie den Verbleib Russlands im Europarat fordern (in Englisch).





EP: Im vergangenen Jahr hat sich MEMORIAL dem Memorandum russischer Menschenrechtsaktivisten nicht angeschlossen, in dem die PACE aufgefordert wurde, die Sanktionen gegen die russische Delegation zu lockern, um ein solches Szenario zu verhindern. Warum?

Ich kann nur für mich selbst sprechen, nicht für MEMORIAL. Sehen wir uns die Argumente dieses Memorandums an. „Lockern Sie die Sanktionen, sonst ist es schlecht für die einfachen Leute. Sie schaden nicht den Machtapparat, sondern den einfachen Leuten.” Ich lehne dieses Argument kategorisch ab.

Erstens bin ich absolut zuversichtlich, dass es überhaupt keine „einfachen Leute“ gibt. Wer sollte das denn sein - Unmündige, Kinder oder Menschen mit geistiger Behinderung? “Einfache Leute” sind Staatsbürger ihres Landes, und sie sind für das, was in ihrem Land passiert, und für die Handlungen ihrer Behörden verantwortlich.

Daher überzeugt mich das Argument, dass es den Bürgern des Landes schlechter gehen wird, nicht. Vielleicht lohnt es sich, diese Bürger daran zu erinnern, dass sie ihren letzten Schutz verlieren werden?

Erstens gibt es also keine “einfachen Leute”. Jeder Bürger der Russischen Föderation ist verantwortlich für das, was in seinem Namen getan wird.

Zweitens. Wie kann man sagen: „Lass uns bitte in Ruhe: Wir werden die Krim weiter annektieren, den Konflikt und die Kämpfe im Donbass weiter schüren, wir werden das alles tun und gleichzeitig, schmeißt uns bitte nicht raus, weil es dann für alle schlimmer wird. “

Wenn die Staaten, die ihm angehören, keine Verantwortung für das tragen, was sie tun, verwandelt sich der Europarat in eine Kinderbildungsanstalt. Es gibt Dokumente, die zum Zeitpunkt des Beitritts unterzeichnet wurden. Die Beitrittsstaaten haben sich verpflichtet, bestimmte Verpflichtungen einzuhalten, und die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten einzuhalten.

Der Europarat ist eine Versammlung von Gleichen, die gleichermaßen Verantwortung tragen. Zu fragen, ob man für uns eine Ausnahme machen dürfen, weil wir so spezielle Straftäter sind - das ist doch seltsam. Wir werden mit Ihnen unsere Spielchen spielen, aber bitte, werfen Sie uns nicht aus dem Team heraus, sondern erziehen Sie uns um …

Kurz gesagt: der Europarat ist keine Pionierbrigade zur Umerziehung von Zurückgebliebenen.

Deshalb kann ich mich dem Memorandum nicht anschließen.

EP: Wie würde sich der Austritt Russlands aus dem Europarat auf die russischen Bürger auswirken?

Die Folgen werden nicht nur für die russischen Bürger schlimm sein. Als Person, die hauptsächlich mit ausländischen Staatsbürgern arbeitet, verstehe ich das sehr gut. Für uns ist der Europäische Gerichtshof eine Rettung. Dank ihm können wir Auslieferungsverbote für Länder wie Nordkorea, Usbekistan, Tadschikistan und andere Länder erreichen. Unsere Schützlinge sind nicht verantwortlich für das, was in Russland passiert, und sie werden in der Tat ungeschützt bleiben. Das ist wahr.

Wir werden die Möglichkeit verlieren, Auslieferungen in Eilfällen zu verhindern. Gemäß Artikel 39 der Geschäftsordnung des EGMR wird die Entscheidung über ein Auslieferungsverbot innerhalb weniger Stunden getroffen. Der Verlust einer solchen Möglichkeit wird einen großen Nachteil für diese Menschen bedeuten. Nun, das bedeutet, dass uns nichts anderes übrigbleibt, als ihnen zu raten, unter keinen Umständen nach Russland zu kommen, sondern in anderen Länder Schutz zu suchen.

EP: Setzt Russland üblicherweise EGMR-Entscheide um?

Russland setzt den materiellen Teil der EGMR-Entscheide zu 100% um. Und setzt in der Regel das Auslieferungsverbot um. Oft tun sie aber so, als hätten sie das Verbot nicht rechtzeitig erhalten, und die Person wäre ausgeliefert worden, bevor man die Informationen des EGMR erhalten hätte. Deshalb schicken wir, sobald wir von Entscheidungen des Gerichtshofs erfahren haben, diese selbst an die Generalstaatsanwaltschaft und das Justizministerium weiter, damit sie dann nicht behaupten können, dass sie keine Informationen vom EGMR erhalten hätten.

In allen anderen Fällen, wenn es um die Änderung der Gesamtsituation oder grundsätzliche Forderungen geht, werden die Entscheide praktisch nicht umgesetzt.

EP: In Russland wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Nichteinhaltung von Entscheidungen des EGMR erlaubt, wenn sie der Verfassung widersprechen. Hat sich das irgendwie auf die Gesamtsituation ausgewirkt?

Vertreter unserer Regierung sind lustige Leute. Sie kennen ihre Verfassung nicht. Ich hatte viele Chancen, dies festzustellen. Sie interessieren sich einfach nicht für das, was in der Verfassung geschrieben steht. Andernfalls wären sie sich bewusst, dass internationale Verträge und folglich Entscheidungen internationaler Gremien der Verfassung nicht widersprechen können. Sie haben Vorrang vor den nationalen Rechtsvorschriften.

Die Verfassung selbst bestätigt das in Artikel 15 Teil 4: „Die allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts und der internationalen Verträge der Russischen Föderation sind ein wesentlicher Bestandteil ihres Rechtssystems. Stellt ein internationaler Vertrag der Russischen Föderation andere Regeln auf, als die, die vom Gesetz vorgesehen sind, so gelten die Regeln des internationalen Vertrags. “

EP: Wie kann die PACE der russischen Zivilgesellschaft, die zu einer Geisel im politischen Spiel ihrer Führung geworden ist, mehr Hilfe leisten?

Wir sind keine Geiseln, wir sind selbst auf die eine oder andere Weise an der Existenz dieses Systems beteiligt und wir tragen die Verantwortung dafür. Darüber hinaus glaube ich, dass sich zur Zeit ein sehr interessanter Prozess abspielt - die Schaffung einer vereinten Zivilgesellschaft ohne Grenzen.

Ich habe nicht weniger Gleichgesinnte in der Ukraine, in Polen, in der Tschechischen Republik, in Deutschland, in Frankreich, in den USA und auf der ganzen Welt, als in Russland. Wir bilden eine einige Zivilgesellschaft, und es wäre gut, wenn wir uns dessen bewusst wären. Wir sind verantwortlich für das, was auf der ganzen Welt passiert, und nicht nur in unserem kleinen Raum, der als Nationalstaat bezeichnet wird. Das imperiale System, das entstand, als der Staat in der Struktur der Welt am wichtigsten war, bricht zusammen. Ich hoffe sehr, dass die Siege der Rechtsextremen in Europa und Trumps Politik in den USA diesen allgemeinen Entwicklungsprozess der Weltgemeinschaft nicht aufhalten werden.

Was internationale Institutionen betrifft, brauchen wir ihre Hilfe wirklich. Insbesondere ihre Rolle als Vermittler zwischen unserer Zivilgesellschaft und unseren Behörden ist äußerst wichtig.

Diese Rolle spielte einst die UN-Flüchtlingsagentur (UNHCR). Bei der Vorbereitung der UN-Migrationskonferenz in der GUS waren es das UNHCR und die Internationale Organisation für Migration, die unseren Behörden gezeigt haben, dass außer ihnen noch weitere Menschen auf dem Gebiet der Migration tätig sind. Sie haben uns in den Vorbereitungsprozess der Konferenz einbezogen, Entwürfe des Aktionsprogramms - des Abschlussdokuments der Konferenz - an die Nichtregierungsorganisationen weitergeleitet und unsere Kommentare und Vorschläge berücksichtigt. Sie haben uns an der Erstellung dieses Dokuments beteiligt und unserer Regierung gezeigt, dass wir gleichberechtigte Partner im Dialog über Migrationspolitik und -praxis sind.

Leider scheint die UNHCR-Vertretung in Russland nun eine etwas andere Position einzunehmen. Wir haben uns lange nicht mehr unter ihrer Schirmherrschaft mit unseren Behörden getroffen - das UNHCR besteht nicht mehr darauf, wie es das 1995/96 tat. Es scheint, als wollten sie unsere Behörden davon überzeugen, dass eine gut organisiertes Asylrecht dem Ansehen Russlands in der Welt zugute kommen wird. Ich glaube, dass diese Hoffnung naiv ist, da unser “nationaler Führer” uns nicht zu einem besseren Leben auf Erden führt, sondern direkt ins Paradies.

Ich muss auch erwähnen, dass Europa dazu beigetragen hat, die derzeitige Situation in Russland zu schaffen, als es beim Auftauchen Putins in Euphorie verfiel. Er ist ja fast zufällig auf sein Podest gestiegen, und als er immer noch wackelte, benötigte er internationale Unterstützung. Er war bereit, den Anführern anderer Länder, vor allem Deutschlands, zuzuhören. Sie haben diese Gelegenheit nicht in vollem Umfang genutzt.

Inzwischen braucht er diese Unterstützung nicht mehr. Und Europa hat die eigenen Interessen seinen Werten vorgezogen. Und jetzt geht es weiter: Wieder treten die sogenannten nationalen Interessen in den Vordergrund, während die historisch nachgewiesene Gefahr eines solchen Ansatzes in Vergessenheit gerät.

Umso mehr ein Grund, die Zivilgesellschaft zu vereinen. Diese Schlussfolgerung drängt sich von selbst auf.

EP: Bitte geben Sie den europäischen Partnern Russlands Ratschläge: Wie können sie Ihnen, der russischen Zivilgesellschaft, in dieser Situation helfen?

Zunächst müssen wir verstehen, dass man nicht nur uns und wegen uns helfen muss - das Risiko einer Zuspitzung in der Welt wird von allen getragen - wenn wir nicht das Ergebnis wollen, über das Putin so liebenswert scherzt.

Es ist notwendig, Treffen zu organisieren, an denen die Zivilgesellschaft - die global vereinte Zivilgesellschaft - die russischen Machthaber und die europäischen Länder teilnehmen.

Wir sollten möglichst viele solcher Treffen abhalten, damit wir im Beisein der Europäer, nicht nur in Russland, sondern auf der ganzen Welt, darüber berichten können, was wir über die Politik und die Praxis in wichtigen Lebensbereichen denken.



Wir hatten einmal Konsultationen zwischen der EU und Russland. Und wozu haben sie geführt? Wir wurden einfach von den gemeinsamen Treffen ausgeschlossen. Zunächst fanden vorbereitende Treffen aller Prozessbeteiligten mit den Nichtregierungsorganisationen statt. Die russischen Vertreter weigerten sich, an diesen teilzunehmen - und untersagten gleichzeitig den Europäern, europäische und internationale Nichtregierungsorganisationen zu den Treffen mit ihnen einzuladen.

Man fragt sich, wie man diesem Verlangen nachgeben könnte, wenn sich die russischen Beamten weigern, nicht an den Sitzungen mit der Zivilgesellschaft teilzunehmen? Aber die Europäer stimmten zu. Sie trafen zuerst uns, und dann kam es zu der dummen Situation, dass wir uns bei den Europäern über unsere Behörden beschweren mussten.

Am Ende sind wir aus dem Prozess komplett ausgestiegen, weil die Europäer, nachdem sie uns getroffen hatten, den russischen Beamten etwas sagten, und Lügen als Antwort erhielten. Aber es gab niemanden, der sagen konnte, dass sie lügen.

Ich würde mir wünschen, dass die Europäer Standfestigkeit zeigen, und sich für unser Leben interessieren, weil es es ein gemeinsames Leben ist. Dass bei ihren Treffen Vertreter der Zivilgesellschaft mit am Tisch sitzen, der vereinten Zivilgesellschaft, wie sie von MEMORIAL, Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Organisationen vertreten wird.

EP: Was würden Sie den Mitgliedern der PACE sagen, die für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland stimmen wollen, weil sie sich Sorgen über das Schicksal der Menschenrechte in Russland machen?

Ich würde ihnen sagen, dass man das nicht darf. Man darf dem Regelbrecher nicht nachgeben. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es nicht, Sanktionen aufzuheben, sondern die Verstöße zu stoppen.


Wir bedanken uns bei Alya Shandra und Euromaidan Press für die Möglichkeit der Übernahme des Interviews, sowie bei Tobias Weihmann für die Übersetzung ins Deutsche.

Erstveröffentlichung am 13.6.2019 in Russisch und Englisch