Serbien und Kosovo – zwei unvollendete Staaten 20 Jahre nach dem Krieg

Analyse

20 Jahre nach dem NATO-Luftkrieg gegen Serbien wegen des Kosovo ist auf dem Westbalkan plötzlich wieder die Rede von Krieg. Diskussionen um Gebietstauschabkommen führen den politischen Dialog zurück auf ethnoterritoriale Konzepte.

Serbien und Kosovo – Bild: Street Art - zwei Wellen schlagen ineinander.
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Es bedarf einer effektiveren Demokratisierungspolitik der EU, um im Statuskonflikt zwischen Serbien und Kosovo die Wogen zu glätten.

Ausgangspunkt sind von der EU-Außenbeauftragten Frederica Mogherini mit den beiden Präsidenten Serbiens und Kosovos, Aleksandar Vucic und Hashim Thaci seit zwei Jahren geführte Verhandlungen über ein umfassendes Normalisierungsabkommen zwischen den beiden Westbalkanländern. Im Sommer 2018 sind die beiden Präsidenten mit einem von Mogherini unterstützten Vorschlag für einen nicht näher bestimmten Gebietsaustausch als Kern eines Abkommens an die Öffentlichkeit getreten. Seitdem hagelt es Kritik an den drei Verhandlungsführern und ihrem Vorschlag - innerhalb der EU, in Serbien und vor allem im Kosovo und der weiteren Region. Nationalistische Rhetorik und Kriegsgerede erinnern zum ersten Mal seit Jahren gefährlich an die 1990er Jahre.

Als 2012 die EU, unterstützt von den USA den sogenannten politischen Dialog zwischen Serbien und der Republik Kosovo, die bis heute von Belgrad nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird, ins Leben gerufen worden war, war eine komplett anderer Weg beabsichtigt, und zunächst auch beschritten worden. Im April 2013 wurde ein erstes Abkommen hin zur vollständigen Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Brüssel unterzeichnet, das seinerzeit nicht als zu historisch beschrieben worden war.

Die dahinterstehende Formel war simpel: schrittweise Anerkennung Belgrads der Realität Kosovos und schrittweiser Abbau serbischer staatlicher Institutionen auf dem Territorium Kosovos (in mehrheitlich serbisch bewohnten Kommunen) bzw. Integration der Kosovoserben in den kosovarischen Staat, im Gegenzug für eine EU-Beitrittsperspektive Serbiens und weitreichende Minderheitenrechte für die Kosovoserben. Führende Regierungsvertreter in Belgrad sprachen 2013 in der Öffentlichkeit erstmals von der schmerzhaften Wahrheit, dass das Kosovo als Teil Serbien verloren sei.

Rückfall in die 1990er Jahre

Mit der Diskussion über ein Gebietstauschabkommen sind die Verhandlungen im sogenannten politischen Dialog zurückgefallen in ethnoterritoriale politische Konzepte aus den Balkankriegen der 1990er Jahre, anstatt sich auf praktische politische Themen und Probleme zu fokussieren, wie die Vielzahl an offenen bilateralen Fragen zwischen Kosovo und Serbien oder die nachhaltige Stärkung von Minderheitenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Zugleich gibt es seit vergangenem Jahr massive politische Proteste gegen die beiden Präsidenten in ihren Ländern. In Serbien gehen seit dem Winter 2018 Bürger/innen und politische Opposition gegen die zunehmend autoritäre Machtausübung von Präsident Vucic auf die Straße. Im Kosovo gibt es Proteste und politischen Widerstand gegen die intransparente Verhandlungsführung von Präsident Thaci, dem von fast allen parlamentarischen Parteien, inklusiver Teilen seiner eigenen Partei PDK die Privatisierung der Verhandlungsführung und der Ausverkauft territorialer Integrität des Kosovo aus privatem Machtinteresse vorgeworfen wird.

Dialog vs. Demokratisierung

Zwei Jahrzehnte nach Beendigung des Kosovokriegs verbleiben beide Westbalkanstaaten aufgrund des ungelösten Statuskonflikts im Zustand staatlicher „Unvollendetheit“. Und diese „Unvollendetheit“ hat direkte Auswirkungen auf die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. 



Mit einem am 11. Juni organisierten geschlossenen Policymaker Roundtable hat die Heinrich Böll Stiftung in Kooperation mit dem Democratization Policy Council (DPC, Berlin) einen Blick auf die Demokratie- und Rechtsstaatsentwicklung in Kosovo und Serbien geworfen. Dazu haben sie Vertreter/innen von Parteien und Zivilgesellschaft sowie politische Analysten aus Serbien und Kosovo, sowie Regierungsvertreter/innen von EU-Mitgliedsstaaten wie europäischen Institutionen, als auch der außenpolitischen Gemeinschaft aus Berlin in die deutsche Hauptstadt eingeladen. Gemeinsam wurde zunächst der Frage nachgegangen, wie es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit steht und welche Auswirkungen der ungelöste Statuskonflikt zwischen den beiden Staaten hat. In einem zweiten Teil wurde versucht, Lehren aus den Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte für die Zukunft zu ziehen sind.

Serbien auf dem Weg in eine Autokratie

Gesprächsteilnehmende aus Serbien und der EU waren sich darüber einig, dass die Demokratieentwicklung in Serbien in den letzten Jahren eine negative Kehrtwende vollzogen hat. Dies lässt sich zurückführen auf dem Amtsantritt der nationalistischen Regierungsparteien aus den 1990er Jahren unter Führung des Serbischen Fortschrittspartei SNS und ihres Vorsitzenden und aktuellen Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vucic im Jahr 2012. Zwar ist auch die demokratische Opposition und die von ihr gestellte Regierung vor 2012 alles andere als unproblematisch gewesen, dennoch zeichne die politische Entwicklung seit diesem Jahr eine unvergleichlich dramatische Verschlechterung aus. Das serbische Parlament ist als Abstimmungsmaschine der Regierungskoalition weitgehend neutralisiert.  Neutralisiert in ihrer korrektiven Funktion ist zugleich die Opposition.

Seit dem Beginn der Bürger- und Oppositionsproteste wird diese von der Regierung offen kriminalisiert. Wahlen sind von massiver Manipulation überschattet, unabhängige staatliche Institutionen unter politische Kontrolle gebracht worden. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde massiv untergraben – ein Trend der sich in der gesamten Region Westbalkan beobachten lässt. Die Medienfreiheit ist ernsthaft bedroht, die Zivilgesellschaft geschwächt und unter politischem Druck.

Kosovo‘s Demokratisierung kippt

Einig waren sich die meisten Teilnehmenden darin, dass die politische Lage im Kosovo insgesamt vergleichsweise besser ist. Kosovo hat 10 Jahre Statebuilding hinter sich und kann zurückblicken auf eine weitgehende Konsolidierung seiner Staatlichkeit wie seiner Demokratie. Insgesamt ist die Lage hinsichtlich Parteienpluralismus und Medienfreiheit und –pluralismus wesentlich besser als in Serbien. Die liegt teilweise auch an der intensiven Begleitung der Unabhängigkeit Kosovos durch die internationale Gemeinschaft und ihrer mit exekutiver Kompetenz ausgestatteten Institutionen in den ersten Jahren nach der Ausrufung staatlicher Unabhängigkeit. Allerdings erzielten einzelne Institutionen wie die EU-Rechtsstaatsmission EULEX nur sehr gemischte Ergebnisse, was bis heute negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Rechtsstaats hat.

Dennoch hat sich die innenpolitische Entwicklung seit dem Beginn des politischen Dialogs zwischen Kosovo und Serbien insgesamt negativ gewendet. So ist die kosovarische Regierung schwach und zunehmend klientelistisch geprägt, weil die wachsende Zahl an Koalitionsparteien und zu einer wachsenden Zahl an Ministerien, Ministern und Vize-Ministern, geführt hat, um noch die Vertreter/innen von Kleinstparteien mit Posten zu versorgen.

Das Parlament ist ebenfalls geschwächt und komme seiner Kontrollfunktion nicht nach, auch weil eine Vielzahl an Gesetzen im Eilverfahren durch die Volksvertretung gepeitscht wird. In den politischen Eliten ist es seit Kriegsende zu keinem Generationswechsel gekommen, was den politischen Wandel blockiert. Dass das Kosovo weiterhin isoliert bleibt, dass das Kosovo von der EU noch immer keine Visaliberalisierung für seine Bürger/innen erhalten hat, obwohl es mittlerweile alle dafür gestellten Bedingungen erfüllt hat, schränkt eine erfolgreiche demokratische Transformation zusätzlich ein.

Ungelöster Statuskonflikt als politisches Ablenkmanöver

Die meisten der Teilnehmenden betonten, dass die Schwäche von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Serbien wie dem Kosovo auch mit dem ungelösten Statuskonflikt zwischen den beiden Westbalkanländern zusammenhängt. Die grundsätzliche Unvollendetheit beider Staaten hat direkte Auswirkungen auf die Demokratisierung. In Serbien hat Präsident Vucic 2012 verstanden, dass Kosovo für die EU das zentrale Thema im Verhältnis zu Serbien ist. Er war mit einem pro-europäischen politischen Kurs gestartet und hat massiv Wähler von der demokratischen Opposition gewonnen. Das hat sich mittlerweile geändert, da er vom pro-europäischen Kurs abgewichen ist, und an den ursprünglichen, anti-europäischen Stammwählern der SNS festhält.

Zentral verantwortlich dafür ist die EU, die für den politischen Dialog und die Aufrechterhaltung einer (vermeintlichen) Stabilität ein Auge bei Demokratie und Rechtsstaat oder etwa Medienfreiheit zudrückt. Hinzu kommen Fehler wie das Insistieren auf der Kommerzialisierung der Medien in Serbien – vor der Festigung der Marktwirtschaft – was zur Zerstörung unabhängiger lokaler Medien geführt hat. Ermutigt durch diese europäischen Signale hat Präsident Vucic, der seinen politischen Aufstieg innenpolitisch seinem anfänglichen Image als konsequenter Korruptionsbekämpfer zu verdanken gehabt hat, in den letzten Jahren das politische System Serbiens autoritär bis autokratisch transformiert.

So dient der ungelöste Statuskonflikt zur Ablenkung nach innen von zentralen politischen Herausforderungen, demokratischen wie sozio-ökonomischen. Verstärkt hat sich diese Überlagerung durch den politischen Dialog in den letzten zwei Jahren mit den Verhandlungen über ein abschließendes Abkommen. Die damit einhergegangenen zwischenstaatlichen und interethnischen Spannungen, nicht zuletzt die zunehmende Kriegsrhetorik vonseiten der unter politischer Kontrolle stehenden Medien haben alle anderen politischen und gesellschaftlichen Themen in den Hintergrund gedrängt.

Globaler Aufstieg der „Strongmen“

Zu diesen europäisch-westbalkanischen Entwicklungen kommen die Auswirkungen der globalen, geopolitischen Veränderungen der letzten Jahre. Der Aufstieg autoritärer politische Führer, sog. „Strongmen“ hängt zusammen mit dem nachlassenden Engagement und der Schwächung der Demokratieförderung der EU, und der Rückkehr dritter Akteure wie Russland auf den Westbalkan.

Das Fehlen einer kohärenten Politik der EU, allen voran in der Erweiterungspolitik und transatlantische Differenzen haben führende lokale Politiker dazu ermutigt, ähnlich wie in den 1990er Jahren die interne Uneinigkeit des Westens auszunutzen, bzw. diesen zu manipulieren. Die Propagierung der Gebietstauschidee in den Verhandlungen im politischem Dialog ist nur ein Beispiel dafür, wenn auch das drastischste.

Der Ansehensverlust der EU

Die Auswirkungen dieser Entwicklungen sind verheerend. Die Politik der EU demotiviert die demokratischen gesellschaftlichen Kräfte in Serbien und Kosovo, und untergräbt so zusätzliche die Perspektiven einer demokratischen Transformation. In Serbien ist der Eindruck entstanden, dass die EU Serbien gar nicht in der Union haben wolle.

Andererseits konnte man den Eindruck gewinnen, die EU sei bereit, Serbien in ihren Klub ohne die Erfüllung demokratischer Standards aufzunehmen, weil sie es zugelassen hat, dass in den laufendenden Beitrittsverhandlungen Kapitel eröffnet würden, ohne dass Serbien die Reformbedingungen erfüllt hat.

Lehren für die Zukunft – Dialog und Demokratisierung

Der zweite Teil der Veranstaltung widmete sich der Frage, welche Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden können und müssen für eine erfolgreiche demokratische Transformation in Kosovo und Serbien bzw. eine effektivere Demokratisierungspolitik der internationalen Gemeinschaft, allen voran der EU. Die Mehrheit der Teilnehmenden war sich darin einig, dass die Lösung des Statuskonflikts trotz aller negativen Auswirkungen in der Vergangenheit oberste Priorität bleibt. Die rechtliche Unklarheit im Verhältnis von Serbien und Kosovo und verfassungsrechtlich wie staatspolitisch innerhalb der beiden Staaten muss beendet werden, um so die Bedingungen für eine nachhaltige Demokratisierung zu schaffen.

Die Demokratisierung darf aber in diesem Prozess nicht vernachlässigt werden, sondern politischer Dialog und Demokratisierung müssen parallel verlaufen. Nach der Lösung des Statuskonflikts, der Unterzeichnung eines wirklich umfassenden Abkommens zwischen Serbien und dem Kosovo wird die Demokratiefrage automatisch wieder in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit wie Auseinandersetzungen rücken. 

EU kommt Schlüsselrolle zu

Bis dahin ist es für die Rolle der EU in den beiden Ländern entscheidend, der aktuell drohenden Gefahr, pro-demokratische und pro-europäische Kräfte zu verlieren, u.a. durch das richtige politische Messaging zu begegnen. Entscheidend für die Glaubwürdigkeit der EU als Akteur externer Demokratieförderung ist dabei, dass die Union ihre internen Differenzen v.a. in der Erweiterungspolitik beilegt und eine mit echtem politischem Willen unterlegte Erweiterungspolitik im Westbalkan verfolgt.

Die Herausforderungen demokratischer Transformation

Verschiedene Teilnehmende befassten sich mit zentralen Feldern demokratischer Transformation. Sie waren sich einig, dass die Stärkung von Justiz und Rechtsstaatlichkeit in Kosovo und Serbien entscheidend ist. Der gerade vom deutschen Rechtsexperten Reinhard Priebe im Auftrag der Europäischen Kommission vorbereitete Expertenbericht zu Rechtsstaatlichkeit in Bosnien-Herzegowina ist ein gutes Format zur Rechtsstaatsförderung.  Es sollte auch auf andere Staaten wie Serbien und Kosovo übertragen werden.

Außerdem müssen die Wahlsysteme in Serbien und Kosovo dringend reformiert werden; insbesondere müssen die Wählerinnenlisten durchforstet werden. Zivilgesellschaftliche Dialogformate zwischen Serbien und Kosovo, etwa im Kultur- und Jugendbereich müssen gestärkt werden. Die in den letzten Jahren entstandenen lokalen Bürgerinitiativen in Serbien sind von großer Bedeutung für die Stärkung lokaler Demokratie. Sie sollten mehr Unterstützung erfahren, weil sie eine wichtige Chance für die Stärkung der Demokratie von unten darstellen.