Die neue extreme Rechte in Kanada

Analyse

Im Vorfeld nationaler Wahlen in Kanada sind Hassgruppen auf dem Vormarsch. Kanada war lange stolz auf seine offizielle Politik des Multikulturalismus - doch selbst der nette nördliche Nachbar der USA ist nicht immun gegen die immer stärker werdenden rechtsradikalen Bewegungen, die in den USA und Europa auf den Plan getreten sind.

Parlament in Kanada mit kanadischer Fahne

In den letzten Jahren haben amerikanische und europäische rechtsextreme Gruppierungen eine Welle von Hassgruppen in ganz Kanada entfesselt, unterstützt von der rassistischen Rhetorik, die von der amerikanischen Präsidentschaft ausgehend über die Grenze herüberschlägt. Experten schlagen nun Alarm. Angesichts der bevorstehenden landesweiten Wahlen scheint nun auch endlich die liberale Regierung von der Entwicklung Kenntnis zu nehmen.

Bis zu 300 rechtsextreme Hassgruppen sind in ganz Kanada aktiv.

Dr. Barbara Perry vom „Centre on Hate, Bias and Extremism“ der Ontario Tech University erlebt derzeit einen Moment im nationalen Rampenlicht. Als Kanadas führende Wissenschaftlerin zum Thema Rechtsextremismus hat sie die übliche Runde der gängigen Nachrichtensendungen und Talkshows gedreht, um die Kanadier vor einem scharfen Anstieg inländischer Hassgemeinschaften zu warnen. Die Merkmale dieser rechtsextremen Bewegungen beschreibt Perry als „fremdenfeindlichen Nationalismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und derzeit insbesondere Antisemitismus und Islamophobie“. Ihrer Ansicht nach wurde stark unterschätzt, welch schwere Bedrohung dies für die kanadische Gesellschaft darstellt. Im Jahr 2015 bezifferte ihre Studie die Zahl der Hassgemeinschaften in Kanada auf 80 bis 100; inzwischen schätzt sie, dass deren Anzahl eher auf die 300 zugeht. Laut Perry ist es kein Zufall, dass dieser Anstieg mit dem Eintritt von Donald Trump in die amerikanische Politik zusammenfällt.

Obwohl es in Kanada schon immer Hassgemeinschaften gab, deutet Perrys Arbeit darauf hin, dass sie sich jetzt besser miteinander abstimmen, sowohl im Inland als auch mit internationalen Pendants. Gruppen wie die ursprünglich in Finnland gegründeten Soldaten Odins, die deutsche anti-islamische Organisation Pegida und die amerikanischen neofaschistischen Proud Boys sind alle auch zunehmend in Kanada präsent. Kanadische Rechtsextreme nahmen 2017 an der „Unite the Right“-Kundgebung in Charlottesville, Virginia, teil und reagierten mit Schadenfreude auf die jüngsten Schießereien in Christchurch, Neuseeland und in El Paso, Texas. Sie sind immer besser bewaffnet und - was für Kanada neu ist - bedienen sich der Waffenrechte-Rhetorik im US-amerikanischen Stil. Besonders besorgt zeigt sich Perry über eine in den USA ansässige paramilitärische Gruppe namens „The Three Percenters“, die nun auch einen kanadischen Ableger hat. Die Gruppe rekrutiert gezielt ehemaliges und aktives Militär- und Polizeipersonal: „Sie sind schwer bewaffnet und betreiben paramilitärische Ausbildung“, erklärt sie, obwohl solche Aktivitäten unter kanadischem Gesetz illegal sind. Die Gruppe ist dafür bekannt, muslimische Gemeinschaften durch zivile „Aufsicht“ zu schikanieren und bei rechten Aufmärschen als „Sicherheitskräfte“ aufzutreten. Das Wachstum der Gruppe spiegelt die jüngsten Erkenntnisse der kanadischen Zeitung „Globe and Mail“ wider. Sie stellte fest, dass in rechten Chatrooms aktiv zum Eintritt in die kanadischen Streitkräfte aufgefordert wird, um dort eine militärische Ausbildung zu durchlaufen.

Ermutigt durch den globalen Anstieg von Rechtsextremismus sehen nun auch Hassgemeinschaften in Kanada eine Chance, ihre weiß-nationalistischen Ansichten in die breitere Bevölkerung zu tragen. Die gleiche Untersuchung der „Globe and Mail“ ergab nämlich, dass kanadische Rechtsextreme erörtern, wie sie eine breitere Öffentlichkeit ansprechen können, z.B. indem sie Hakenkreuze vermeiden. MAGA-Schriftzüge hingegen sind in diesen rechtsextremen Foren allgegenwärtig, ein Beweis dafür, wie explizit Hassgruppen im ganzen Westen ihre Legitimität mit Präsident Trumps politischem Erfolg begründen.

Hassgemeinschaften werden zu einer der „größten Bedrohungen“ Kanadas.

Der Boom kanadischer Hassgruppen geht einher mit einem stetigen Anstieg an Hassverbrechen. Von 2016 bis 2017 stieg der Anteil der angezeigten Hassverbrechen - einschließlich Sachschäden sowie körperlicher Drohungen oder Angriffe - um 47 Prozent. Diese Zahlen sanken 2018 leicht, liegen aber immer noch weit über den Werten vor 2015. Da jedoch anzunehmen ist, dass die überwiegende Mehrheit der Hassverbrechen gar nicht zur Anzeige gebracht wird, sind die Auswirkungen in der realen Welt wahrscheinlich noch wesentlich gravierender. Kritiker behaupten, dass Kanadas Gesetzgebung zur Bekämpfung von Hassverbrechen nicht energisch genug ist, um der zunehmend feindlichen Atmosphäre wirksam zu begegnen. Doch aufsehenerregende Anschläge wie die Schießerei in einer Moschee in Quebec im Jahr 2017, bei der sechs Menschen von einem „White Supremacist“ getötet und 19 weitere verletzt wurden, haben rechtsextreme Gewalt als öffentliche Bedrohung zentraler auf die Tagesordnung der Politiker gesetzt.

Noch 2014 fand Rechtsextremismus in einem Bericht der kanadischen Regierung über die Terrorgefahr in Kanada gar keine Erwähnung; stattdessen konzentrierte sich der Bericht vor allem auf die Bedrohung durch islamistische Radikalisierung. 2017 dann verwies derselbe Bericht jedoch bereits mehrfach auf rechtsextreme Bedrohungen und hielt fest, dass „jede Art von radikaler Ideologie Terrorismus anheizen kann, einschließlich Rechtsextremismus“. Inzwischen hat die Regierung mit der Entwicklung neuer Präventionsmaterialien sowie eines gezielten Trainingsmoduls für Ersthelfer begonnen. Anfang des Jahres erhielt Perrys Forschungszentrum staatliche Mittel für die Erarbeitung einer aktualisierten Übersicht über rechtsextreme Bewegungen in Kanada. Im Juni 2019 stellte die kanadische Regierung erstmals zwei rechtsextreme Gruppen unter Terrorbeobachtung. Jüngste Äußerungen des kanadischen Außenministers und des Direktors des kanadischen Sicherheitsgeheimdienstes machen deutlich, dass die Regierung „über die Zahl Rechtsextremer zunehmend besorgt ist“ und solche Gruppen zu den „größten Bedrohungen“ des Landes zählt.

Rechtsextreme Aktivisten beeinflussen die kanadische Politik.

Was bedeutet das für die bevorstehenden nationalen Wahlen? Neben dem Anstieg rechtsgerichteter Hassgemeinschaften wächst in Kanada auch die Bereitschaft der Politiker, rechtsextreme Ansichten zu vertreten. Wie etwa Faith Goldy: Die prominente politische Kommentatorin für das rechtsgerichtete kanadische Nachrichtenmedium „The Rebel Media“ wurde gefeuert, nachdem sie an einem Podcast über die Ereignisse in Charlottesville auf der amerikanischen neonazistischen Website „The Daily Stormer“ teilgenommen hatte. In der Sendung versicherte Goldy dem Publikum: „In den nächsten fünf bis zehn Jahren, wahrscheinlich eher in fünf, werden Männer und Frauen der Alt-Right-Bewegung für politische Ämter kandidieren.“ Im Jahr 2018 machte sie dieses Versprechen selbst wahr und führte einen viel beachteten Wahlkampf um das Amt der Bürgermeisterin von Toronto, bei dem sich aus der Sprüchekiste Donald Trumps bediente. Sie erhielt zwar kaum mehr als 3 Prozent – doch waren dies immerhin mehr als 25.000 Wählerstimmen.

Goldy gehört zu den extremsten kanadischen Politikern, aber in vielerlei Hinsicht steht sie für einen allgemeinen Rechtsruck in der kanadischen konservativen Bewegung. Nachdem er den Premierposten in der Provinz Alberta gewonnen hatte, proklamierte der Chef der United Conservative Party und aufstrebende politische Star Jason Kenney: „Die schweigende Mehrheit hat gesprochen.“ Auch dieser Satz stammt direkt aus Trumps Repertoire (der ihn wiederum bei Nixon abgekupfert hat) und soll frustrierte weiße Wähler ansprechen. Unter Kenneys Führung hat die Partei Kandidaten unter ihre Fittiche genommen, die hasserfüllt frauenfeindliche, islamfeindliche und homophobe Ansichten vertreten. Wie deren Erfolg den bevorstehenden Wahlkampf des konservativen Kandidaten Andrew Scheer prägen wird, wird sich noch zeigen.

Bisher scharen sich jedoch rechtsextreme Gruppen noch um die Randkandidatur von Maxime Bernier, dem Gründer der People‘s Party of Canada. Bernier kandidiert unter dem Motto einer „kanadischen Identität: für ein Ende des offiziellen Multikulturalismus und die Erhaltung kanadischer Werte und Kultur.“ Obwohl er keine wirkliche Erfolgschance hat und derzeit in Umfragen unter 3 Prozent liegt, glauben seine rechtsextremen Anhänger, dass sein Wahlkampf die breitere politische Landschaft beeinflussen könnte. Bereits jetzt haben sich Themen rund um die Einwanderung ethnischer Minderheiten stark polarisiert: Eine aktuelle Umfrage ergab, dass fast 70 Prozent der konservativen Wähler glauben, in Kanada gebe es „zu viele“ Einwanderer aus Gemeinschaften „sichtbarer Minderheiten“, verglichen mit nur 15 Prozent der liberalen Wähler. Dies ist eine drastische Veränderung im Vergleich zu 2013, als die Antworten auf die gleiche Frage jeweils 47 Prozent und 34 Prozent ergab.

Angesichts des schleichenden Einflusses rechtsextremer Hassgruppen zeigen sich Beobachter wie Perry tief besorgt über die Zukunft der kanadischen Demokratie. Die bevorstehenden Wahlen werden zeigen, wie erfolgreich sich diese Gruppen in die kanadische Politik einbringen können. Aber selbst ohne eine Wahl zu gewinnen oder eine echte Konkurrenz darzustellen, könnten Kanadas neu bestärkte Hassgruppen bereits genug Einfluss haben, um politische Normen dramatisch zu verändern, die Bevölkerung zu polarisieren und zu spalten und eine Grundstimmung zu schaffen, in der sich kanadische Politiker künftig immer weiter nach rechts bewegen könnten.