Was ist Amazonien überhaupt?

Hintergrund

Die Vorstellungen zu Amazonien sind vielfältig. Hier ein Überblick, was Amazonien ist, wer hier lebt und warum so große Flächen hier entwaldet werden.

Bild des Regenwaldes im Amazonas-Gebiet
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Amazonien heute – eine diverser Natur- und Lebensraum

Amazonien kennen alle - und wir haben alle unsere ganz eigenen Vorstellungen, wenn es um Amazonien geht. Manche denken  an das Opernhaus von Manaus, an Piranhas, an Indigene mit Blasrohren oder die Filme von Werner Herzog... Doch meist stellt man es sich als großen Wald vor.

„Amazonien ist aus dem Mythos geboren“ – das stellte eine Publikation aus dem Jahre 1992 fest. Aber im sumpfigen Gelände der Bilder und Mythen, der Urteile und Vorurteile ist es leicht, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und so beruhigt es, dass heute wenigstens eine Definition von Amazonien existiert, die weitgehend anerkannt wird: Danach umfasst das Amazonasbecken ein Gebiet von etwa 7,5 Millionen km², von denen ca. 5,5 Millionen km² mit tropischem Regenwald bedeckt sein sollen. Das sind fast unvorstellbare Zahlen. Deutschland und Frankreich zusammen kommen nicht einmal auf eine Million km², sie würden achtmal in das Amazonasbecken passen. Sieben Staaten und Französisch-Guyana sind Teil dieses Gebiets, das auch als Panamazonien bezeichnet wird.

 

Amazonien zu definieren ist keine leichte Aufgabe. Offensichtlich können verschiedene Kriterien angelegt werden – und wurden es auch über lange Zeit. Daher riefen die Europäische Kommission und die Vereinigung der Staaten Amazoniens (OTCA) im Jahre 2005 eine Kommission von Experten ins Leben (es fand sich kein Frau darunter), die die Grenzen Amazoniens definieren sollten. Die Arbeit der Kommission bildet bis heute die Grundlage der allgemein anerkannten geographischen Definition Amazoniens.

Ein aktuelle Analyse der Daten kommt allerdings zu etwas anderen Zahlen als die Kommission, nämlich zu einer Größe von 7,8 Millionen km². Da RAISG die aktuellste Zusammenzustellung von verlässlichen Daten in Amazonien darstellt, gehen wir im Folgenden von dies Zahlen aus. Eins ist jedenfalls klar: Wenn von „Amazonien“ die Rede ist, können ganz unterschiedliche Dinge gemeint sein.

Amazonien als Naturraum

Ist von Amazonien als geographischer Raum die Rede, dann ist damit in der Regel das Amazonasbecken oder die Amazonastiefebene gemeint, das größte zusammenhängende Landschaftsgebiet der Welt. Die Tiefebene wird durch ein gewaltiges Flusssystem strukturiert. Der Amazonas selbst ist der längste Fluss der Welt. Lange Zeit galt der Nil als längster Fluss, aber neuer Messungen im Jahre 2008 haben den Amazonas an den ersten Platz gerückt. Unbestritten war aber immer, dass der Amazonas der mit Abstand wasserreichste Fluss der Welt ist. Mit einem Abfluss von 206.000 m3 in der Sekunde steht er einsam an der Spitze, der zweitgrößte Fluss in dieser Kategorie, der Kongo, kommt lediglich auf 41.800 m³, der Rhein schafft gerade mal 2.900 m³.

Mehrere der Zuflüsse des Amazonas gehören selbst zu den größten Flüssen der Welt, wie der Rio Tapajós und der Rio Xingu. Das Amazonasbecken ist damit das größte Süßwasserreservoir der Welt, etwa 25 Prozent des Süßwassers der Erde sollen hier fließen.

Der größte Teil Amazoniens ist tatsächlich mit Wald bedeckt, im Jahre 2000 waren es 5.357 Millionen km², das sind 68,8 Prozent der Region. Zwischen 2000 und 2010 hat das Amazonasgebiet aber etwa 4,5 Prozent (240.000 km²) an Wald verloren, nach 2010 verminderte sich der Rhythmus der Entwaldung, bis sie jetzt unter Präsident Bolsonaro wieder zunahm. 

Das Amazonasgebiet ist damit eindeutig das größte Tropenwaldgebiet der Welt, die Hälfte der tropischen Wälder finden sich hier. Es beherbergt einen beträchtlichen Teil der Artenvielfalt dieser Welt. Schätzungen gehen davon aus, dass sich etwa 10 Prozent der weltweiten Artenvielfalt im Amazonasraum befinden.

Allerdings ist die numerische Erfassung der Biodiversität mit Vorsicht zu genießen, allein schon deshalb, weil die Gesamtzahl der Arten umstritten ist und nur auf Schätzungen beruht. Ein guter Überblick mit weiteren Verweisen findet sich hier.

Amazonien als Lebensraum

In der als Amazonien definierten Region leben rund 33 Millionen Menschen, mindestens zwei Drittel davon in Städten. Mit Belem und Manaus finden sich zwei Millionenstädte im Amazonasbecken, Iquitos kommt als drittgrößte Stadt auf 400.000 Einwohner. Nicht zu Unrecht hat die brasilianische Geographin Berta Becker Amazonien als „urbanisierten Dschungel“ bezeichnet. Insbesondere die erwähnten Städte sind kein neues Phänomen, sondern bildeten die Brückenköpfe für die Kolonisierung der Region. Jüngeren Datums sind eine Reihe von mittelgroßen Städten, die im Umkreis von Entwicklungspolen gewachsen sind, wie etwa Marabá in Brasilien.

Die Städte Amazoniens stehen aber weniger im Mittelpunkt der globalen Aufmerksamkeit. Die Besonderheit Amazoniens macht etwas Anderes aus: In der Region leben 385 registrierte indigene Völker. Etwa 27 Prozent der Fläche sind indigene Gebiete. Indigene Territorien (TI) und Schutzgebiete, die oftmals von traditionellen Gemeinschaften bewohnt und bewirtschaftet werden, machen etwa 45 Prozent der Fläche Amazoniens aus. Indigene Völker und traditionelle Gemeinschaften sind damit in der Region eine territoriale Großmacht. Schutzgebiete und indigene Territorien bedecken zusammen ein Gebiet, das in etwa viermal so groß ist wie Frankreich und Deutschland zusammen -  Diese gewaltige Konzentration von Schutzgebieten und indigenen Territorien prägt die meisten Länder des Amazonasbeckens und ist weltweit einmalig. Die hohe Zahl indigener Völker ist auch ein Indikator für eine große soziokulturelle Vielfalt, es gibt nicht das indigene Amazonien, sondern sehr unterschiedliche Ethnien und Lebensweisen.

Amazonien als Mythos

Mythen sind sinnstiftende Erzählungen. Im Fall von Amazonien leisten Mythen vor allem eines: sie bringen eine riesige Region auf einen Punkt. Sie definieren durch Vereinheitlichung, sie insistieren immer wieder auf ein „Amazonien ist…“

„Grüne Hölle oder Paradies?“ fragte jüngst 2017 eine Fernsehserie und markiert damit die Pole einer mythischen Verschiebung. Lange Zeit wurde Amazonien eher als grüne Hölle gesehen, ein undurchdringlicher Urwald, voller heimtückischer Krankheiten und gefährlicher Wilder mit giftigen Blasrohren. Joseph Conrads paradigmatischer Kurzroman „Das Herz der Finsternis“ endet mit den Worten „das Grauen, das Grauen“ und spitzt damit einen kolonialen Blick auf die Tropen zu. Natürlich hat es auch immer eine Gegenerzählung gegeben – oft im Fahrwasser der Idee des „guten Wilden“.

Prototyp für einen modernen Mythos ist die Bezeichnung Amazoniens als grüne Lunge der Erde. Aber in der jüngeren Geschichte lautet das mythische Grundmuster für Amazonien eher: „Entwicklung“. Amazonien, der unerschlossene Urwald, das Land ohne Menschen, erscheint spätestens seit der Vargas-Diktatur in den vierziger Jahren als die große Entwicklungsregion. Der brasilianische Dichtern Euclides da Cunha bezeichnete vor 100 Jahren Amazonien als letzte Seite, die im Buch der Genesis noch zu schreiben sei. Dem „framing“ von Amazonien als ein zu entwickelndes Gebiet liegt die Annahme zugrunde, dass das Vorhandene weg oder zumindest überwunden werden muss. Entwicklung heiß zunächst Abwicklung, Zerstörung des Gegebenen. Wälder müssen abgeholzt werden, indigene Völker stellen Entwicklungshemmnisse dar.

Aber in den letzten Jahrzehnten ist neben diese Vorstellung von „Entwicklung“ auch die der „Bewahrung“ getreten. Hier erscheint plötzlich des Bestehende positiv, erhaltenswert. Die Wälder und Flüsse Amazoniens sind ein Hort der Biodiversität, dessen Erhaltung erstrebenswert ist. Abholzung gilt nicht mehr als zivilisatorische Großtat, sondern als Frevel. Indigene Völker werden zu Rechtssubjekten mit eigener Geschichte, Gegenwart und Zukunft und gelten nicht länger als ein bedauernswertes Relikt der Steinzeit.

Die große Verwirrung im heutigen Amazonien beruht darauf, dass beide Muster vorhanden sind und beide Einfluss auf regionale und globale Entwicklungen genommen haben und nehmen. Diskursiv hat vielleicht die Erzählung von der Erhaltung gewonnen, zumindest in Westeuropa, aber auch in den urbanen Zentren Südamerikas. Dennoch läuft die Maschinerie der Zerstörung zwar nicht ungestört, aber doch mit großer Wucht weiter. Dabei fehlt es nicht an beschwichtigenden Konzepten, die Erhaltung und Entwicklung versöhnen wollen. Aber am Ende der Tage auf dem Boden der realen Konflikte in Amazonien funktioniert das nicht so gut. Davon wird mehr zu berichten sein.

Amazonien heute: Eine diverser Natur- und Lebensraum

Zwei Entwicklungen haben unser Bild von Amazonien in den letzten Jahrzehnten verändert und neu geprägt. Zum einen ist das Bild eines einheitlichen Ökosystems einer größeren Differenzierung gewichen. Es hat sich gezeigt, dass es wenig Sinn ergibt, von Amazonien als Ganzem zu reden: Der große Wald, der zumindest aus dem Flugzeug tatsächlich sehr homogen wirkt, hat sich als weniger einheitlich entpuppt, als ursprünglich gedacht. Das brasilianische Statistikinstitut IBGE identifizierte 1995 nicht weniger als 104 verschieden Landschaften und 204 Subsysteme. Bodenbeschaffenheit und Vegetation sind diverser als ursprünglich gedacht. Auch die sozio-kulturelle Vielfalt der unterschiedlichen Gruppen in Amazonien ist mittlerweile bekannt: Die Region ist keineswegs nur durch indigene Völker besiedelt; es findet sich vielmehr ein ganzes Mosaik von traditionellen Nutzern in lokalen Gemeinschaften. Die homogenisierenden Bilder vom großen Wald sind einer realistischen Unübersichtlichkeit gewichen.

Und zum andern wird heute deutlicher gesehen, dass der Regenwald Amazoniens nicht einfach ein weitgehend unberührter Naturraum ist, sondern ein Produkt einer jahrhundertelangen Interaktion zwischen Mensch und Natur. Große Teile des Regenwaldes sind durch die Aktion indigener Völker beeinflusst und modelliert worden, sie haben etwa Verteilung und Häufigkeit von Pflanzen verändert. William Baille hat dafür den treffenden Begriff „Cultural Forest“ geprägt. Die „unberührte Natur“ wird damit in das Reich der Mythen verbannt, auch wenn es Teile Amazoniens geben mag, in der der menschliche Einfluss wenig oder kaum nachweisbar ist. Aber die Interaktion der indigenen Völker mit dem Regenwald ist auch ein Erfahrungsschatz für die Menschheit. Sie zeigt Möglichkeiten, mit dem Wald und von dem Wald zu leben, ohne ihn zu zerstören. Demgegenüber erscheint eine Wirtschaftsweise, die erst dann beginnt, den der Wald vernichtet wird, als primitiv.

Amazonien – zentraler Bezugspunkt für globale Umweltpolitik

Für die Erhaltung der Biodiversität und die Bekämpfung des Klimawandels ist Amazonien von fundamentaler Bedeutung. Die Zerstörung des tropischen Regenwaldes, des vermutlich artenreichsten Ökosystems weltweit, bedeutet eine gigantische Vernichtung von Arten. Obwohl viele Wissenschaftler davon ausgehen, dass für die Zukunftsfähigkeit des Lebens auf dem Planeten die Vernichtung der Arten ein mindestens genauso großes Problem ist wie der Klimawandel, steht eher letzterer im Mittelpunkt der globalen Debatten.

„Der Amazonaswald ist eines der Kipp-Elemente im Erdsystem“ stellt Delphine Zemp vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung fest. Ein Teufelskreis aus Trockenheit durch Entwaldung, die wiederum weitere Entwaldung begünstigt, würde die Klimafunktion des Amazonaswaldes erheblich beschädigen. Inzwischen ist gut erforscht, dass der Regenwald des Amazonasbeckens entscheidend für die Regenfälle in weiten Teilen des Kontinents sind. Die „fliegenden Flüsse“ wie die Wolkenbildung im Amazonas auch bezeichnet wird, versorgt Regionen bis nach Argentinien mit Wasser. Weitere Verluste von Amazonaswald hätten unmittelbare Auswirkungen auf das Regenregime Südamerikas und darüber hinaus auch auf das globale Klima.

Carlos Nobre, einer der profiliertesten brasilianischen Klimaforscher, geht davon aus, dass die Gefahr eines solchen Umkippens nur vermieden werden kann, wenn nicht mehr als 20 Prozent des Regenwaldes zerstört werden. Zur Zeit seien etwa 17 Prozent der Fläche entwaldet, weitere Teile des Regenwalds durch Holzeinschlag geschädigt. 

Wir sind also sehr nahe an dem befürchteten Kipp-Punkt. Aber schon jetzt hat Amazonien bzw. die Zerstörung des Regenwaldes eine Bedeutung für die globale Klimapolitik, denn Entwaldung ist für etwa 11 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Geht die Entwaldung in Amazonien im bisherigen Maße weiter oder steigt sogar noch an, dann sind die Pariser Klimaziele nicht zu erreichen. Aus diesem Grund diskutiert auch das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, auch als Weltklimarat bekannt) bereits für diesen Fall, wie „negative Emissionen“ zu erreichen sind, zum Beispiel durch großflächige Aufforstungen.

Noch aber ist es möglich, diesen Trend zu wenden. Die Zerstörung des Regenwaldes, die Vernichtung des Lebensraumes indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften ist ein Ergebnis sozialer und ökonomischer Prozesse, die in Machtverhältnisse eingebettet sind.

Amazonien in Brasilien – ein Begriff wird operationalisiert

Der Begriff Amazonien (Amazônia) wird in unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht. Im brasilianischen Kontext ist Amazônia Legal als eine Verwaltungseinheit definiert. Sie umfasst etwas mehr als 5 Millionen km² und damit 61 Prozent der Fläche Brasiliens. In Amazônia Legal leben 21 Millionen Menschen, 12,4 Prozent der brasilianischen Bevölkerung. Rund 72 Prozent der Bevölkerung Amazoniens leben in Städten (Census von 2010). Manaus mit 2,1 Millionen und Belém mit 1,4 Millionen sind die größten Städte der Region. Etwa 250.000 Menschen werden zur indigenen Bevölkerung gezählt; 21 Prozent der Fläche von Amazônia Legal sind indigene Gebiete. Amazônia Legal ist aber keineswegs identisch mit dem Regenwald Amazoniens. Vielmehr umfasst Amazônia Legal drei Biome, also große ökologische Systeme: Amazônia (Regenwald), Cerrado (Feuchtsavanne) und das Pantanal (Sumpfgebiet). Etwa 4 Millionen km² entfallen auf das Biom Amazônia, also auf das Regenwaldgebiet. Ist vom Biom Amazônia die Rede, dann ist damit nur das Regenwaldgebiet von Amazônia Legal gemeint. Diese Unterscheidung ist wichtig, wird aber nicht immer gemacht. So beziehen sich die Entwaldungszahlen meistens auf Amazônia Legal, das heißt, nicht die gesamte Entwaldung betrifft den Regenwald. Insbesondere die Ausdehnung des Sojaanbaus hat sich bisher vorwiegend in den Cerrado-Gebieten abgespielt. Auch rechtliche Regelungen werden nach Biomen differenziert. So gilt die so wichtige Vorschrift, dass auf Privateigentum nur 20 Prozent der Fläche entwaldet werden darf, nur für das Biom Amazônia. Für das Cerrado-Gebiet innerhalb von Amazônia Legal darf 65 Prozent der Fläche gerodet werden.

Entwaldung und kein Ende? Eine Ursachenforschung

Der Regenwald geht in Rauch auf – immer wieder gehen solchen Bilder durch die Medien. Das Amazonasgebiet und insbesondere Brasilien kommt nicht aus den Schlagzeilen: Die Entwaldung scheint unaufhaltbar. Und das, obwohl inzwischen großer Konsens herrscht, dass großflächige Entwaldung schädlich ist – und daher bekämpft werden muss. Dieser Konsens herrscht nicht nur weitgehend in den Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre, sondern hat auch die ökologisch aufgeklärte urbane Bevölkerung Brasiliens erreicht. Denn unbestritten und gut belegt ist:

  • Entwaldung trägt zum Klimawandel bei. In Brasilien ist Entwaldung die wichtigste Quelle von CO2-Emissionen.
  • Das Klimaziel, auf das sich die Weltgemeinschaft geeinigt hat, nämlich die Erderwärmung auf 1,5° zu beschränken, kann nicht erreicht werden, wenn die Abholzung der tropischen Wälder nicht drastisch verringert wird. 
  • Der Regenwald ist ein Hotspot der Biodiversität. Flammen verbrennen auch die Grundlage der Evolution des Lebens auf unserem Planeten.
  • Entwaldung zerstört die Lebensräume indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften. Der Regenwald ist Lebensraum!

Das alles ist nur allzu bekannt und hat auch dazu geführt, dass sich Länder mit großem Bestand an tropischen Wäldern Ziele gesetzt haben, die Entwaldung zu reduzieren. Der wichtigste Bezugspunkt ist dabei der internationale Klimaprozess. Durch das Pariser Abkommen hat sich auch Brasilien verpflichtet, Entwaldung deutlich zu reduzieren. Warum ist dennoch die Entwaldung so schwer zu stoppen?

Die Ursachen der Entwaldung – ein aktueller Überblick

Die Dynamik der Entwaldung wird seit langem erforscht, und die wichtigsten Tendenzen sind gut dokumentiert. Weltweit sind es vier große Faktoren, die für die Entwaldung verantwortlich sind: Vieh, Soja, Palmöl und Holz.

Die Umwandlung von Wald in Viehweiden und Anbauflächen ist verantwortlich für den größten Teil der Entwaldung. Der globale Befund trifft auch auf Amazonien zu, aber hier sind Vieh und Soja die entscheidenden Triebkräfte. Palmöl spielt in Brasilien nur in einer Region des Bundesstaates Pará eine Rolle, aber in anderen Länder Lateinamerikas wächst die Bedeutung des Palmöls. Holzeinschlag ist weniger für großflächige Entwaldung verantwortlich als für die Degradierung von Wäldern – ein Phänomen das weniger Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Entwaldungsraten in Amazonien und in den Bundesstaaten Acre und Mato Grosso

Jahr

Amazonia Legal (km2)

Acre (km2)

Mato Grosso (km2)

2004

27,772

728

11,814

2005

19,014

592

7,145

2006

14,286

398

4,333

2007

11,651

184

2,678

2008

12,911

254

3,258

2009

7,464

167

1,049

2010

7,000

259

871

2011

6,481

280

1,120

2012

4,571

305

757

2013

5,891

221

1,139

2014

5,012

309

1,075

2015

6,207

264

1,601

2016

7,893

372

1,489

2017

6,947

257

1,561

2018

7,900

470

1,749

Alle Entwaldungszahlen beruhen auf den offiziellen brasilianischen Angaben von INPE/PRODES. Aktuelle Überblicke mit weiterer Literatur finden sich hier und hier.

Durch Satellitenbilder ist gut nachvollziehbar, was auf den entwaldeten Flächen geschieht: Auf mehr als 60% der entwaldeten Flächen finden sich Viehweiden. Die Ausdehnung der Rinderzucht ist mit Abstand der wichtigste Treiber der Entwaldung – eine Diagnose, die seit vielen Jahren besteht und durch unzählige Studien erhärtet ist.

Was geschieht auf den entwaldeten Flächen?

Das zeigen die Satellitenbilder: 60 Prozent Viehweiden, 23 Prozent Sekundärvegetation (größtenteils ehemalige Viehweiden), 6 Prozent Landwirtschaft. Die restlichen ca. 10 Prozent verteilen sich auf eine Vielzahl von Nutzungsformen, städtische Siedlungen und unklare Gebiete; Bergbau spielt dabei mit 0,1 Prozent keine Rolle.

Die mit Entwaldung verbundene Ausdehnung der Viehwirtschaft in Amazonien hat sich über Jahrzehnte erstreckt und zeigt ein aufschlussreiches Bild der „Entwicklung“ Amazoniens. Zwischen 1985 und 2005 wächst die Zahl der Rinder in Amazonien („Amazonia Legal“) von 15 auf 74 Millionen. Damit hat sich fast der gesamte Zuwachs des Rinderbestandes in Brasilien in der Amazonasregion vollzogen. In ihr finden sich nun mehr als ein Drittel aller Rinder Brasiliens, 1975 waren es noch weniger als 7 Prozent, 1985 etwas mehr als 10 Prozent. In diesem relativ kleinen Zeitfenster von zwanzig Jahren (1985-2005) hat die Ausweitung der Rinderweiden in Amazonien einen enormen Sprung gemacht und dominiert in vielen Teilen der Region die Entwicklungsdynamik. Es sind vor allem drei Bundesstaaten in denen die Zahl der Rinder zwischen 1985 und 2005 geradezu explodiert: Mato Grosso (von 6,5 auf 26,7 Mio.), Pará (von 3,4 auf 18,0 Mio.) und Rondonia (von 0,7 auf 11,3 Mio.). Diese enorme Expansion ist oftmals mit dem Begriff der „Verviehung“ belegt worden. Aber auch wenn die Ausbreitung der Viehzucht der entscheidende Faktor („driver“) für die Entwaldung ist, gilt dies keineswegs für alle Regionen Amazoniens. So spielt die Rinderzucht im größten Bundesstaat der Region, dem Staat Amazonas, trotz einiger regionaler Brennpunkte im Süden des Bundesstaates mit 1,2 Millionen Rindern weiterhin eine untergeordnete Rolle. Mehr Zahlen gibt es hier.

Ab 2005 geht die Zahl der Rinder in Amazonien leicht zurück (von 74 auf 70 Mio. im Jahre 2007). Seitdem lässt sich nun eine Konsolidierung auf relativ hohem Niveau (2016 bei etwa 80 Mio. Rindern) feststellen, sowohl im Amazonien wie in ganz Brasilien, wo die Zahl der Rinder nun um die 210 Millionen-Marke schwankt.

Wer entwaldet – die Kleinen oder die Großen?

Es ist umstritten, wer denn für die Entwaldung in erster Linie verantwortlich ist. Die Frage hat in den letzten Jahren wieder an Brisanz gewonnen, weil vorschnell das Ende der großflächigen Entwaldung verkündet worden ist. Allerdings wird nicht bezweifelt, dass sowohl Großgrundbesitzer wie Kleinbauern zur Entwaldung beitragen. Doch schwanken in der Forschung die Angaben über den Anteil von Besitzern kleinerer Grundstücke an der Entwaldung stark. Eine umfassende Studie kommt bislang zu folgenden Ergebnissen:

  • Der größte Teil der Entwaldung (47 Prozent) in den Jahren 2004 und 2011 konzentrierte sich auf Landbesitze, die größer als 500 ha sind.
  • 12 Prozent lassen sich kleinbäuerlichen Betrieben zuschreiben.
  • Einige tausend Großgrundbesitzer (größer als 2.500 ha) sind allein für 28 Prozent der   Entwaldung verantwortlich.
  • Aber der Anteil der kleinbäuerlichen Betrieb an der Entwaldung stieg von 8 Prozent im Jahre 2004 auf 13 Prozent im Jahre 2011

Quelle: Researchgate

Die Rolle des Sojaanbaus

Soja spielt ebenfalls eine wichtige Rolle für die Dynamik der Entwaldung, aber eine andere als Viehzucht. Ein großer Teil der Expansion der Sojaflächen vollzieht sich auf bereits abgeholzten Rinderweiden, Sojaanbau tritt damit oft nicht als primäre Ursache der Entwaldung auf. Dennoch sind die Dimension der Expansion von Soja in Amazonien exorbitant. Im Jahr 2012 waren 8,16 Mio. Hektar mit Soja bepflanzt, eine Steigerung um 159 Prozent gegenüber 2000. Dabei ist die Expansion des Sojaanabaus stark auf den Bundesstaat Mato Grosso konzentriert. Hier wuchs die Anbaufläche von 1,2 Mio. ha im Jahre 1991 auf 6,2 Mio. ha im Jahre 2010 bis auf 9,5 Mio. ha im Jahre 2018. Der größte Teil der Sojafelder findet sich im Biom Cerrado, dennoch hat gerade in den Jahren von 2001 bis 2006 die Expansion der Sojafläche dazu beitragen, die Entwaldungsraten signifikant zu erhöhen. In diesem Zeitraum wuchsen die Sojaplantagen in Amazonien um 1 Mio. Hektar, wobei sich 30 Prozent dieser Ausdehnung auf Waldflächen und nicht auf Viehweiden vollzog.

Holzeinschlag und Walddegradierung

In den Statistiken über Entwaldung wird der Schaden, der durch selektiven Holzeinschlag entsteht, nur unzureichend widergespiegelt. Denn die Satellitenbilder erfassen nur die Kahlschlagflächen, aber die Degradierung des Waldes durch (weitgehend illegalen) Holzeinschlag wird nicht ausreichend dargestellt. Die genaue Erfassung der Waldschäden ist auch deshalb schwierig, weil „Walddegradation“ kein klar definiertes Konzept ist. Eine Idee über das Ausmaß der Waldschädigung gibt eine Studie von Imazon im Bundestaat Pará für den Zeitraum von August 2015 bis Juli 2016. Dabei identifizierte die Studie eine degradierte Fläche von 12.800 km², viermal mehr als die zum selben Zeitpunkt entwaldete Fläche im selben Bundesstaat (3.025 km²).  Allerdings geht der Löwenanteil der Waldschädigung auf das Konto von Bränden und lediglich 427 km² auf Holzeinschlag zurück. Und genau da liegt das Problem der Diskussion um Degradierung. Es ist extrem schwierig, die die Ursachenketten genau zu bestimmen. Inwieweit sind die Feuer Folge der Degradierung der Waldflächen? Unbestritten ist, dass geschädigte Wälder anfälliger sind für Brände, aber es ist kaum möglich, dies genau zu quantifizieren. Dies gilt auch für die Frage, inwieweit der Klimawandel für Trockenperioden verantwortlich ist, die Waldbrände begünstigen.                                             

Treiber versus Ursachen

„Die Kuh ist das schlimmste Umweltproblem in Amazonien und der Welt“ – sagt Paul Adario von Greenpeace. Solche Aussagen finden sich häufig, sie mögen für Kampagnen nützlich sein, verkürzen das Problem der Entwaldung aber doch zu sehr. Denn so deutlich die 

Ausweitung von Vieh- und Landwirtschaft als Akteur der Regenwaldvernichtung zu Tage tritt – dies ist nicht zu verwechseln mit der Bestimmung der Ursachen von Entwaldung.

In der internationalen Debatte wird deshalb zwischen „drivers of deforestation“ und den „underlying causes of deforestation“ unterschieden. Warum entstehen da, wo Wald war, Viehweiden und Sojafelder? Ist etwa der Fleischkonsum in den „entwickelten“ Ländern Schuld? Oder der internationale Freihandel, der erst den Soja-Boom ermöglicht? Oder die nationale Entwicklungspolitik, die auf Agrarexporte setzt? Offensichtlich lassen sich die Ursachen nicht so leicht identifizieren wie Treiber und Akteure der Entwaldung

Direkte Treiber sind menschliche Aktivitäten oder unmittelbare Aktionen, die sich direkt auf die Waldoberfläche auswirken und zu einem Kohlenstoffverlust führen (z.B. durch Ausweitung der Landwirtschaft, der Infrastrukturmaßnahmen und der Holzgewinnung). Die Folge sind komplexe Wechselwirkungen sozialer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller und technologischer Prozesse, die häufig weit von ihrem Ursprungsbereich entfernt sind (z.B. steigende Weltmarktpreise, nationale Politiken, die Anreize für die Expansion der Landwirtschaft bieten, und öffentliche Umsiedlungsprogramme). Verursacher der Entwaldung bzw. Waldzerstörung sind Einzelpersonen, Haushalte oder Unternehmen, die sowohl mit den direkten Triebkräften als auch mit den zugrundeliegenden Ursachen in Verbindung stehen (z.B. Landwirte, Bergbauunternehmen, Regierungen und Verbraucher).

Eine mögliche Antwort bei der Suche nach den Ursachen ist so banal wie folgenreich: weil sich die Umwandlung ökonomisch lohnt. Diese Aussage ist nicht ganz so trivial, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Die ökologische Kritik hat Landwirtschaft in Amazonien lange als unmöglich oder zumindest unrentabel dargestellt. Diese Sichtweise hat offensichtlich Potentiale der Landwirtschaft in Amazonien unterschätzt oder missachtet. Der Sojaanbau hat sich insbesondere in Mato Grosso mit staatlicher Unterstützung zu einer hochtechnisierten und modernen Landwirtschaft entwickelt, die ähnliche Hektarerträge erzielt wie die US-Landwirtschaft. Damit hat sich auch eine neue Machtelite innerhalb des Agrobusiness etabliert. Der ehemalige Gouverneur von Mato Grosso und größte Sojaproduzent des Landes, Blairo Maggi, wurde zu einem wichtigen Unterstützer der Regierung Lula, Landwirtschaftsminister unter Präsident Temer und zu einem der exponiertesten und international vernetzten Vertreter des brasilianischen Agrobusiness.

Auch die brasilianischen Fleischerzeuger haben in den letzten Jahrzehnten eine atemberaubende Modernisierung vollzogen. Der Schlachthauskonzern JBS Friboi stieg zum größten Fleischverarbeiter der Welt auf, wurde zum wichtigsten Finanzier der Wahlkämpfe in Brasilien und steht seit 2017 im Mittelpunkt der Korruptionsskandale, die das Land erschüttern. Allerdings war die Modernisierung im Agrarsektor nur partiell. Viehzucht ist eingebunden in die Logik der Ausweitung der Agrargrenze. Um Entwaldung lohnend zu machen, muss Viehzucht offensichtlich nicht sehr produktiv sein; nach wie vor bedeutet die Anlage von Viehweiden auf ehemals bewaldeten Flächen eine Wertsteigerung des Landbesitzes. Die Rentabilität der Viehzucht hängt also nicht allein von der ökonomischen Aktivität ab, sie kann auch durch Wertsteigerung des Landbesitzes garantiert werden.

Neben der ökonomischen Rentabilität ist die Verfügbarkeit von Land zur Expansion der Landwirtschaft der zweite entscheidende Faktor. Amazonien ist nach wie vor eine der großen Agrarzonen der Welt: Neue Anbau- und Weideflächen werden durch Zerstörung der ursprünglichen Vegetation (Regenwald und Cerrado) gewonnen. Die Aneignung von Land ist zu einem großen Teil illegal – entweder, weil der Erwerb von Land nicht auf legalen Landtiteln beruht, zum andern weil Landbesitzer nicht die strengen Umweltauflagen beachten: Im Biom Amazonas dürfen Landbesitzer nur 20 Prozent des Waldes abholzen, im Biom Cerrado sogar 65 Prozent der ursprünglichen Vegetation. Die fehlende Durchsetzung rechtsstaatlicher Normen und umweltpolitischer Auflagen im Hinblick auf die Nutzung der Landflächen ist damit auch eine bedeutende Ursache für das Voranschreiten der Entwaldung. Kurz gesagt: Fehlende Kontrolle („command and control“), mangelndes Funktionieren des Rechtsstaates und (falsche) ökonomische Anreize gelten gemeinhin als entscheidende Ursachen der Entwaldung und sind daher Ansatzpunkte für politische Strategien zur Verminderung der Entwaldung.  

Der Blick auf Satellitenbilder kann etwas Entscheidendes nicht sichtbar machen: nämlich inwieweit die Dynamik des „land use change“ Teil einer umfassenden Entwicklungsdynamik ist. Straßen, einzelne Bergbau-Minen oder sogar Staudämme nehmen wenig Flächen ein, sind aber die Grundlage für den Ausbau von Infrastruktur, die „Eroberung“ von Wald durch die Agrarwirtschaft erst ermöglicht.  

Entwaldung kann also nur als Effekt eines komplexen sozialen, ökonomischen und politischen Prozesses gesehen werden. Die Umwandlung von Wald in Weiden und Ackerflächen ist lediglich der leicht erkennbare Teil dieses Prozesses.

Wem gehört Amazonien?

Diese einfache Frage ist leider nicht so leicht zu beantworten – und genau darin liegt das Kernproblem der Lage in Amazonien. In fast der Hälfte Amazoniens sind die Besitzverhältnisse gut definiert: Sie sind Schutz- oder indigene Gebiete.  

Auf der anderen Seite bilden etwa 70 Millionen Hektar Land ein riesiges Gebiet, das ohne definierte Besitzverhältnisse ist. Es sind sogenannte „terras nao designadas“. Rund 700.000 km² – das ist eine schier unglaubliche Größenordnung, es ist zweimal die Fläche Deutschlands (357.000 km²). In Wirklichkeit ist das Ausmaß des “caos fundiaria“, des Landbesitzchaos, in Amazonien noch größer, da auch außerhalb dieses besitzlosen Landes viele Besitztitel unklar sind.

Entwaldung ist der häufigste Weg, Land anzueignen und Besitzansprüche geltend zu machen. Und Landraub damit eine Ursache für Entwaldung. „Wer entwaldet, ist Herr des Landes“ lautet deshalb auch der Titel eines Buches von Mauricio Torres über die „grilagem“ in Amazonien, einer der wichtigsten Beiträge der letzten Jahre zur Amazonien-Debatte. Der Titel ist das Zitat eines „grileiros“.  Torres beschreibt die Zusammenhänge so: „Entwaldung ist nicht durch Soja oder Viehzucht verursacht... Wer entwaldet, besitzt in der Regel nicht ein Rind, er hat niemals ein Kalb großgezogen oder Soja gepflanzt... Die Entwaldung geht mit dem Preis für Land einher."

Entwaldung ist damit weniger Ausdruck einer unmittelbaren ökonomischen Strategie der Umwandlung von Wald in Viehweiden. Es ist vielmehr die Konsequenz einer Gemengelage, in der folgende Elemente zusammenkommen:

  • die Verfügbarkeit enormer Landflächen
  • fehlende rechtlich Klarheit
  • illegale Praktiken: Bestechung, Gewalt, Gewaltandrohung
  • Verschleierung von Illegalität (Erwerb zweifelhafter Besitztitel)
  • unzureichendes Katastersystem
  • Spezialisten der Landnahme („grileiros“) mit spezifischen Kenntnissen und guter Vernetzung
  • politische Verbindungen zur Agrarlobby, die politisch einflussreich ist und durch Gesetzgebung (z.B. Amnestien) illegale Entwaldungen legalisiert.

Es ist dieses Gemisch, dass Entwaldung so schwer kontrollierbar macht und manche politischen Ansätze trotz guter Absichten (z.B. der Verbesserung der Landkataster) ins Leere laufen lassen.

Erwartungen sind ein ganz wichtiger Aspekt dieser Dynamik. Diese Erwartungen beruhen auch auf Erfahrungen der Vergangenheit, insbesondere den Amnestien. Die Erwartung, dass die Dynamik der Entwaldung durch die politischen Rahmenbedingungen begünstigt bzw. zumindest weniger behindert wird, ist durch den Wahlsieg Bolsonaros deutlich begünstigt worden.