Regierungswechsel zum Schutz der Demokratie - Israels dritte Wahl in einem Jahr

Analyse

Netanjahus Machtpoker und das politische Remis zwingen Israel in die dritte Wahl innerhalb eines Jahres. Es geht um viel: Um eine Vision für das Land, aber auch um Israels kollektive Identität und den Charakter seiner Demokratie, analysiert Gayil Talshir.

Israel Wahl 2020
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Am 2. März 2020 finden in Israel Parlamentswahlen für die 23. Knesset statt.

Repräsentative Demokratien leben von Regierungswechseln durch freie, faire und geheime Wahlen, denn Macht korrumpiert. Diese demokratische Faustregel gilt umso mehr für eine Regierung, die bereits seit vielen Jahren ununterbrochen an der Macht ist. Und weil Macht korrumpiert, besitzt jede liberale Demokratie Mechanismen der Kontrolle und Gewaltenteilung. So wird die Arbeit der Regierung durch parlamentarische Ausschüsse kontrolliert; Medien und das Amt des Staatskontrolleurs, eine Art israelischer Rechnungshof, sind strukturelle Kontrollinstanzen. Aber auch der öffentliche Diskurs und natürlich die Möglichkeit eines Regierungswechsels an der Wahlurne übernehmen derartige Kontrollfunktionen.

Netanjahu-Regierungen – Nationalstaatsgesetz, Vorrangklausel und Regierbarkeit: Korrumpiert Macht?

Seit 14 Jahren ist Benjamin Netanjahu Israels Ministerpräsident – länger als David Ben-Gurion, Israels Staatsgründer. Und von diesen 14 Jahren befindet sich Netanjahu seit nunmehr zehn Jahren ununterbrochen im Amt. Der Fokus der letzten Rechtsregierung – von 2015 bis 2019 – lag vor allem bei drei, für Israels Demokratie wesentlichen Veränderungen. 2018 wurde das Nationalstaatsgesetz als Grundgesetz verabschiedet und genießt seitdem den gleichen Status wie Gesetze zum Schutz von Bürgerrechten. Es hat Israels Charakter als Nationalstaat des jüdischen Volkes zementiert, ohne die bürgerliche und politische Gleichstellung aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, also auch der nicht-jüdischen Minderheiten, zu erwähnen. Zweitens wurde die sogenannte Vorrangklausel als Gesetzentwurf vorgelegt, die es dem Obersten Gerichtshof unmöglich machen soll, von der Regierung verabschiedete Gesetze zurückzuweisen, auch wenn diese individuellen Bürgerrechten widersprechen. Es handelt sich also um eine dramatische Kompetenzbeschränkung der Judikative beim Schutz von Bürgerrechten gegenüber der jüdischen Mehrheitsregierung. Die Vorrangklausel war Bestandteil des Koalitionsabkommens von 2015, ist allerdings bislang nicht verabschiedet worden, da sich die Regierung noch nicht auf eine der unterschiedlichen Versionen einigen konnte. In den Verhandlungen, die Netanjahu mit Vertretern von Rechtsparteien nach den Wahlen 2019 geführt hat, ging es nicht nur um die Vorrangklausel, sondern auch um die Verabschiedung eines Immunitätsgesetzes, das Netanjahu vor einem Gerichtsverfahren in drei gravierenden Anklageschriften wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue schützen sollte. Allerdings ist es Netanjahu weder nach den Wahlen im April, noch nach den Wahlen im September gelungen, eine Regierung zu bilden. Derzeit ist er Ministerpräsident einer Interimsregierung ohne Mehrheit, obgleich die größte Oppositionspartei Kachol-Lavan mehr Mandate als Netanjahu auf sich vereinen konnte. Die dritte Maßnahme der Netanjahu-Regierung betrifft das Argument der „Regierbarkeit“, das einzig und allein auf die Schwächung der Mechanismen und Institutionen der checks and balances wie Parlament, Rechtswesen, öffentliche Medien oder Staatsbeamte abzielt, um die Macht der Regierung weiter auszubauen. Hinter dem Begriff „Governability“ verbirgt sich also ein Zuwachs an Macht für die Exekutive einerseits und die Einschränkung der Kontrollfunktion von Parlament, Judikative und Medien andererseits. Dabei werden im parlamentarischen System Israel weder Regierungschef noch Regierung direkt vom Volk gewählt. Israelische Wahlen sind landesweite Verhältniswahlen, bei denen Wählerinnen und Wähler für eine Partei stimmen. Meist ist es der Vorsitzende der stärksten Partei, der die Koalition bildet und, nachdem er zum Premier ernannt worden ist, die Minister ernennt. Trotzdem präsentieren führende, Netanjahu-treue Minister die Regierung als die einzige, vom Volk gewählte Institution Israels und beklagen, dass eine solche Regierung nicht genügend Macht habe, weil sie von ‚Staatsbeamten‘, ‚Beratern‘ und ‚feindlich gesinnten Medien‘ beherrscht und gebremst werde. Obgleich die Exekutive in Israel eine machtvolle Stellung besitzt, betreibt Netanjahu eine zerstörerische Delegitimierung anderer demokratischer Institutionen, indem er von einem ‚tiefen Staat‘ – einem Staat innerhalb eines Staates – spricht, in dem angeblich alte, nicht gewählte Eliten gegen den Willen des Volkes handeln, indem sie den Handlungsraum der Regierung begrenzen. Nach Ansicht des Ministerpräsidenten repräsentiert die Regierung die Herrschaft der (jüdischen) Mehrheit. Er ignoriert den Schutz individueller Rechte sowie die Rechte von Minderheiten, agitiert gegen die arabisch-palästinensische Minderheiten und delegitimiert die Hälfte der israelischen Bevölkerung – die liberal-demokratische Rechte, die Mitte, die Linke und die arabischen Israelis. Im Grunde betrachtet er jeden, der ihm nicht treu dient, als Bedrohung für seine rechte Regierung. Das können auch Anhänger des Likud sein wie Staatspräsident Reuven Rivlin oder Netanjahus Gegenkandidat in der Wahl des Parteivorsitzes des Likud, Gideon Saar, wie auch ehemalige Minister wie Avigdor Lieberman.

Die Schwächung demokratischer Institutionen, die zwischen Regierung und Volk vermitteln, bildet die Grundlage des Populismus. Als Ministerpräsident hat sich Benjamin Netanjahu den Nimbus eines übergeordneten Herrschers verliehen.  Immer wieder betont er, dass er der einzige politische Führer des jüdischen Volkes sei, eine ‚Liga für sich‘, wie er dies in seiner Wahlkampagne ausdrückt. Als solcher schafft er eine direkte Verbindung zwischen sich als einzigem politischen Führer und dem Volk. Deshalb gibt er öffentlichen Sendeanstalten kaum Interviews und meidet Pressekonferenzen. Stattdessen adressiert er das Volk vermeintlich direkt über seinen privaten Facebook-Account, über seine Webseite oder per WhatsApp, so als gäbe es Parteien, Medien und Regierungsministerien gar nicht – sondern nur ihn, den politischen Führer und das Volk.

Ein Ministerpräsident, gegen den drei gravierende Anklagen erhoben wurden, der sich zwei Wochen nach den Wahlen im März 2020 vor Gericht verantworten muss, eine machttrunkene Regierung, die unverhohlen von veränderten Spielregeln spricht – Israel also von einer (angestrebten) liberalen Demokratie zu einem neo-konservativen, jüdischen und anti-liberalen Staat machen will -  muss von den Bürgerinnen und Bürgern abgewählt werden. Wirtschaftlicher Liberalismus ist die einzige Form von Liberalismus, den diese Regierung kennt. Politischen Liberalismus ersetzt sie durch nationalen Konservativismus. Werden die im März 2020 anstehenden Wahlen zu einem Regierungswechsel führen? Wie sieht der israelische Wahlkampf aus? Um welche ideologischen Achsen wird gekämpft?

Worum geht es bei diesen Wahlen?

Eine Woche vor den Wahlen ermöglichen drei interessante Perspektiven ein besseres Verständnis des israelischen Wahlkampfes. Erstens geht es um die Wahlbeteiligung, zweitens um die ideologischen Unterschiede zwischen rechts und links und drittens um die Strategien für und Aussichten auf einen Regierungswechsel.

Wahlbeteiligung im dritten Wahldurchgang

Das Wahlverhalten israelischer Wählerinnen und Wähler wird von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht bestimmt. Die drei sozioökonomisch schwächsten sozialen Schichten stimmen entweder für ultraorthodoxe Parteien im rechten Lager oder für die Gemeinsame Liste im linken Spektrum – dem Zusammenschluss von vier arabischen Parteien, die sich gemeinsam zur Wahl stellen. Sozioökonomisch schwache Wählerinnen und Wähler stimmen für sektorale Parteien. Die untere Mittelschicht in der Peripherie, die in sogenannten Entwicklungsstädten oder Siedlungen lebt, setzt sich größtenteils aus traditionellen und religiösen Jüdinnen und Juden sowie Misrachim und Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion zusammen. Sie geben ihre Stimme mehrheitlich dem Likud oder rechten Parteien. Die gebildete Mittelschicht und die Oberschicht stimmen klar für die politische Mitte oder links davon. Dieses Wahlverhalten wird, wie wir im Weiteren sehen werden, von der Identität und nicht von der wirtschaftlichen Lage der Wählerinnen und Wähler bestimmt. Allgemein ist die Wahlbeteiligung im rechten Lager traditionell geringer als im linken Spektrum, weshalb der Likud sich vor allem um eine höhere Wahlbeteiligung bei seiner eigenen Wählerbasis bemühen wird. Das Hauptaugenmerk des Mitte-Links-Blocks wird darauf gerichtet sein, rechte Wählerinnen und Wähler abzuwerben. Von besonderem Interesse ist die Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung Israels. Im April 2019 haben sich nur 49,5 Prozent der Araber in Israel an der Wahl beteiligt, die 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Im September 2019 ist ihre Wahlbeteiligung als Reaktion auf die Hetze Netanjahus und des Likuds gegen sie auf 60 Prozent angestiegen. Die große Herausforderung der Gemeinsamen Liste wird eine Annäherung der arabischen Wahlbeteiligung an die durchschnittliche allgemeine Wahlbeteiligung Israels von 70 Prozent sein. Es wird also darum gehen, welchem Block es gelingt, seine Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Dies ist bereits der dritte Wahldurchgang, die Wähler sind müde und haben das Vertrauen in das System verloren.

Zwischen rechts und links

Es wird immer wieder behauptet, der israelisch-palästinensische Konflikt sei das zentrale Thema des israelischen Wahlkampfes. Allerdings herrscht seit einem Jahrzehnt der Konsens, dass es „keinen Partner“ gibt, dass kein auch noch so großzügiges Angebot einer Zweistaatenlösung von einer wie auch immer gearteten palästinensischen Regierung akzeptiert werden würde. Daher entscheiden Israelis seit einem Jahrzehnt nicht mehr aufgrund sicherheitspolitischer Überlegungen, wem sie ihre Stimme geben. Israels Wahlverhalten wird vielmehr von Identitätspolitik bestimmt. Trumps Jahrhundertplan hätte dies ändern sollen. Benjamin Netanjahu und die Trump-Regierung haben einen Plan präsentiert, der deklaratorisch das Prinzip einer Zwei-Staaten-Lösung akzeptiert – ein Prinzip, das Netanjahu in den letzten zehn Jahren immer wieder zurückgewiesen hatte. Der zentrale Grundsatz des Trump-Plans aber lautet: Kein Jude (und kein Araber) wird sein Haus räumen müssen. Keine Siedlung, nicht einmal die entlegenste, wird geräumt. Der Trump-Plan verspricht die Annexion und israelische Souveränität über Ortschaften im Jordantal und Siedlungen in Judäa und Samaria und hebt damit im Grunde die Illegalität der Siedlungen in den besetzten Gebieten auf. Der Plan beinhaltet noch einen weiteren besorgniserregenden Grundsatz, nämlich Grenzverschiebungen zwischen Israel und Palästina, so dass sich ein Teil der arabisch-israelischen Ortschaften zukünftig in Palästina befinden wird. Israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus Umm al-Fahm und Arara, Bewohnerinnen und Bewohner von Ortschaften im sogenannten Dreieck, werden palästinensischer Herrschaft unterstellt, ohne dass die Menschen gefragt worden sind.

Wie hat sich der Trump-Plan auf Israels politische Landkarte ausgewirkt? Israels Rechte hat die Grundzüge des Plans zunächst akzeptiert. Juden werden ihre Wohnorte nicht räumen müssen.  Siedlungen fallen sofort unter israelische Souveränität. Allerdings hat Netanjahu die Siedlungen nicht noch vor den Wahlen annektiert, wie er es zunächst angekündigt hatte. Darüber hinaus hat er prinzipiell einem Palästinenserstaat zugestimmt. Dies hat zu steigendem Widerstand bei den Rechten gegen den Trump-Plan geführt. Der Oppositionsführer Benny Gantz hat den Plan sofort angenommen, gleichzeitig jedoch von der Notwendigkeit internationaler und palästinensischer Zustimmung gesprochen. Zudem ist Trumps Friedensplan für Israel und Palästina ohne die Palästinenserinnen und Palästinenser gemacht worden und im Grunde lehnt auch Israels Linke den Plan ab. Kurz gefasst: Es hat genau eine Woche gedauert bis der Plan, der Netanjahus rechter Regierung zu einem klaren Sieg verhelfen sollte, ganz aus dem israelischen Wahlkampf verschwunden ist.

Worum geht es also bei den Wahlen in Israel? Es geht nicht um wirtschaftspolitische Programme der Rechten oder Linken, ja es wird in den Wahlkämpfen so gut wie gar nicht über Wirtschaft gesprochen. Bei den Wahlen im letzten Jahr ging es stattdessen um die Auslegung von Israel als „jüdischer und demokratischer“ Staat. Netanjahus Regierung und seine „natürlichen Bündnispartner“, diejenigen also, die Bibi seine „natürlichen Partner“ nennt – die religiösen und ultrareligiösen Parteien – haben die Vision von Israel als jüdischem Staat entwickelt, wobei jüdisch in einem religiös-nationalen Sinne interpretiert wird. Kachol-Lavan zog hingegen mit dem Slogan „Israel zuerst“ in den Wahlkampf und spricht von einem staatstragenden Israel und von ‚jüdisch‘ in seiner national-säkularen, liberalen Bedeutung, wobei Rechtsstaatlichkeit, individuelle Rechte und eine saubere, korruptionsfreie Regierung betont werden. Kachol-Lavan steht also für eine andere, israelische Vision, die sich klar von der jüdischen Vision der Rechten abhebt. Die Vision von Kachol-Lavan bietet damit auch der arabischen Bevölkerung als gleichgestellte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger einen Platz im Staat, sie haben die gleichen bürgerlichen, politischen und kulturellen Rechte. Während die politische Rechte von einem jüdischen Staat spricht, ist im mitte-links Spektrum von einem israelischen Staat die Rede.

Diesbezüglich spielt Avigdor Lieberman als Vorsitzender von Israel Beitenu eine Schlüsselrolle. Sicherheitspolitisch und im Hinblick auf den Friedensprozess ist Lieberman der extremen Rechten zuzuordnen. Was jedoch das Verhältnis von Staat und Religion angeht, gehört er zum Mitte-Links-Lager. Lieberman kämpft für die Gleichstellung aller Israelis beim Einzug zum Wehrdienst, für den Betrieb von öffentlichen Verkehrsmitteln in nichtreligiösen Städten am Schabbat, für zivile Eheschließungen und möchte den Ultraorthodoxen die Kontrolle über das Oberrabbinat entziehen. Damit liegt er auf der Identitätsachse mitte-links. Liebermans Verhalten hat zu einem dritten Wahldurchgang geführt, weil er sich geweigert hat, in einer von Netanjahu geführten Regierung zusammen mit „messianischen Extremisten und religiösen Fanatikern“ zusammen zu sitzen. Damit vertritt Lieberman die Ansichten des historischen Likud unter Menachem Begin – einen liberalen und säkularen Nationalismus. Heute werden diese Grundsätze von Kachol- Lavan und Lieberman statt vom Likud vertreten – einer Partei, die inzwischen für neo-konservative, national-religiöse Ansichten steht.

Hinter der Frage „Bibi - Ja oder Nein?“ verbirgt sich daher die Frage nach Israels kollektiver Identität, nach der Vision für das Land und nach dem Charakter seiner Demokratie.

Ist ein Regierungswechsel möglich?

Im März 2020 versucht die israelische Rechte zunächst einmal, ihre natürlichen Wählerinnen und Wähler in die Wahllokale zu bewegen, um die Wahlbeteiligung unter ihren Anhängern zu erhöhen. Welche Strategie sollte die israelische Mehrheit – Rechte, Linke und Mitte – verfolgen, also jene Kräfte, die die liberale Demokratie des Landes stärken wollen? Der Slogan der Gemeinsamen Arabischen Liste unter dem Vorsitzenden Ayman Odeh etwa lautet: „Ein Kampf. Eine Zukunft. Eine Liste“. Ihr Wahlkampf richtet sich vor allem gegen eine von Netanjahu angeführte Regierung. Dabei geht es ihr um eine Reduzierung sozialer Klüfte, um Solidarität mit der nationalen Minderheit, gegen die Netanjahu hetzt. Und tatsächlich erwägen nicht wenige Meretz-Wählerinnen und Wähler und all diejenigen, die Ayman Odehs Einzug in die gesamtisraelische politische Arena beeindruckt hat, ihre Stimme der Gemeinsamen Liste zu geben. Doch ist dies ein erfolgversprechender Weg für Wählerinnen und Wähler, die einen Regierungswechsel wollen? Mit welcher Strategie kann es gelingen, einen Regierungswechsel herbeizuführen?

In den 21 Tagen vor Auflösung des Parlaments im September bestand erstmals die Möglichkeit eines Regierungswechsels. Gideon Saar hatte versucht, die Mitglieder der Likud-Partei zu überzeugen, dass die Bildung einer national-liberalen Regierung ohne Neuwahlen innerhalb von zwei Stunden möglich sei. Sie müssten nur den Vorsitzenden des Likud als Regierungspartei bei Vorwahlen tauschen. Dieser Moment ist nun unwiederbringlich vorbei. Bei den innerparteilichen Vorwahlen wurde Netanjahu rechtmäßig wiedergewählt. Er wird also auch in den kommenden Jahren den Likud anführen. Die von Kachol-Lavan bevorzugte Regierungsvariante – eine Einheitsregierung mit Likud ohne Netanjahu – ist nicht mehr möglich. Eine weitere Option für Kachol-Lavan wäre eine Regierung mit den Ultraorthodoxen oder rechten Parteien. Dazu müsste allerdings der Rechtsblock zerschlagen werden, den Netanjahu gebildet hat. Kachol-Lavan hat offenbar nicht begriffen, dass der Block nicht nur Netanjahu persönlich treu ist, sondern ein religiös-nationaler Block ist, der in der jüdischen Herrschaft über das Land Israel eine Erfüllung prophetischer Visionen sieht (wie Arie Deri, der Vorsitzende der Shas-Partei, in Reaktion auf den Trump Plan und die Übertragung von Souveränität über die Machpela in Hebron und Beit El gesagt hat). Hinzu kommt, dass viele Ultraorthodoxe in der Demokratie ein bloßes ‚Verfahren‘ sehen und ihre Werte oftmals nicht teilen.

Der einzig realistische Weg, der, sofern die Bedingungen reif sind, eine Alternative hervorzubringen vermag, ist der Zusammenschluss einer Mehrheit der Parteien ohne den national-religiösen Block und ohne die Gemeinsame Liste, aber mit rechten Parteien. Zur Zeit fehlen Kachol-Lavan, Arbeitspartei- Gesher-Meretz und Israel Beitenu bei allen Umfragen jedoch zwei bis drei Mandate für eine solche Mehrheit. Alle, die für ein im säkular-nationalen Sinn jüdisches und im liberalen Sinne demokratisches Israel sind, sollten für eine dieser Parteien stimmen. Die Anstrengungen dieser Parteien sollten sich also darauf konzentrieren, Wählerinnen und Wähler für diesen Block zu gewinnen. Lieberman hebt sich durch eine originelle, einst von Meretz, Shinui und Jesh Atid vertretende Agenda ab, indem er die uneingeschränkte Herrschaft der Ultraorthodoxen in sämtlichen offiziellen religiösen Institutionen Israels bekämpft. Diesen Kampf haben nicht nur religiöse Zionisten, sondern auch Kachol-Lavan und Meretz längst aufgegeben. Lieberman hat erkannt, dass es auf der Achse im Kampf um die kollektive Identität und den Charakter des Staates auch rechte Wählerinnen und Wähler gibt, die nicht für die jüdisch-religiöse, sondern für die national-säkulare Option votieren (beziehungsweise eine nationalistische, wie der ‚Grenzverlagerungsplan‘ zeigt, den Lieberman einst konzipierte und der dann vom Netanjahu-Trump-Plan übernommen worden ist). Erstmals gibt es eine Masse von Wählerinnen und Wählern aus der ehemaligen Sowjetunion, die bei sozialen Themen und Fragen der Identität Teil einer Mitte-Links-Koalition sein könnten. Kachol-Lavan ist ein Flickenteppich aus Vertreterinnen und Vertretern der Rechten und Linken, die begriffen haben, dass es um den Charakter des Landes geht. Es geht um die Wahrung demokratischer Spielregeln, um die Zementierung der Rechtstaatlichkeit, um den Staatscharakter und um Israel als liberaler und demokratischer Staat. Die national-liberale Prägung von Kachol-Lavan macht die Partei zum Zuhause für Rechte und Angehörige der Mitte, die Israel als jüdischer und demokratischer Staat wahren wollen und darin ihre nationale Aufgabe sehen, die Vorrang hat vor der persönlichen Treue zu einem rechten Führer. Daher sollte Kachol-Lavan versuchen, ein oder zwei Mandate von national-liberalen Wählern zu gewinnen, statt der Linken Stimmen zu stehlen. Die Aufgabe von Arbeitspartei-Gesher-Meretz besteht darin, ein historisches Tabu zu zerschlagen und das Wahlverhalten von Traditionellen und Misrachim zu verändern, die in Kachol-Lavan die Erben der herrschenden Elite der MAPAI sehen. Symbolisch ist der Zusammenschluss von Orly Levi-Abekasis mit Amir Peretz und der Arbeitspartei von enormer Bedeutung. In der Vergangenheit sind zehn Mandate an Moshe Kachlon und Gesher gegangen. Selbst wenn nur ein Mandat von dort käme, wäre dies eine Errungenschaft. Eine Verbindung zwischen den traditionellen und Misrachi-Wählerinnen und Wählern und einem sozialdemokratischen Weltbild (an Stelle der Hetzkampagnen des Likud) herzustellen, könnte eine historische Wende bedeuten.

Und wie steht es um die arabischen Kräfte? Und die Gemeinsame Liste? Die Veränderungen bei arabischen Politikerinnen und Politikern, die ihre gesamtisraelische Aufgabe in der Politik erkannt haben, gehören zu den großen und beeindruckenden Veränderungen, die sich im letzten Jahr wegen und trotz der Hetze gegen sie vollzogen haben. Bei ihrem Treffen mit Staatspräsident Rivlin hat die Gemeinsame Liste Benny Gantz mit der Regierungsbildung betraut und auch von einer möglichen Enthaltung bei der Abstimmung über die nächste Regierung gesprochen, um die Absetzung der Netanjahu-Regierung zu ermöglichen. Dies gehört zu den positiven Veränderungen der israelischen Politik. Die Gemeinsame Liste steht vor riesigen Herausforderungen. Sie muss die hohe Wahlbeteiligung, die von April bis September von 49 auf fast 60 Prozent angestiegen ist, nicht nur wahren, sondern weiter zu erhöhen versuchen. Nichtarabische Stimmen für die Gemeinsame Liste könnten einen Regierungswechsel im Sinne der Partei und eine Mehrheit der israelischen Parteien gegen den religiös-nationalen Rechtsblock abzüglich der Gemeinsamen Liste gefährden. Rein rechnerisch würde ein zusätzliches Mandat für die Gemeinsame Liste die Möglichkeit einer liberalen Regierungsbildung zunichte machen, während ein weiteres Mandat für Arbeitspartei-Gesher-Meretz einen Regierungswechsel ermöglichen könnte. Das Ziel derjenigen, die sich für eine begrüßenswerte jüdisch-arabische Einheit einsetzen, sollte es sein, Issawi Frej auf Platz 11 der Liste von Arbeitspartei-Gesher-Meretz ins Parlament zu wählen.

Während die Rechte die Strategie verfolgt, die Wahlbeteiligung unter ihren Wählern zu erhöhen, ist es aussichtslos, Wählerinnen und Wähler vom israelischen Block für den religiös-nationalen Block zu gewinnen. Ziel aller israelischer Mitte-Links-Parteien sollte es sein, rechte Wählerinnen und Wähler dazu zu bringen, für Zentrumsparteien zu stimmen, möglichst viele Wählerinnen und Wähler ihres Blocks zu den Wahllokalen zu bewegen und die arabische Wahlbeteiligung zu erhöhen. Jede Partei sollte im eigenen Bevölkerungsbereich aktiv sein, statt als Teil eines Blocks aufzutreten. In einer Zeit, in der eine Interims-Regierung ohne Mehrheit unrechtmäßige Entscheidungen fällt, gegen ganze Bevölkerungsgruppen aufwiegelt und der israelischen Demokratie mit der Veränderung der Spielregeln droht, ist ein solches Vorgehen oberstes Gebot. Nur eine Mehrheit von Kachol-Lavan, Arbeitspartei-Gesher-Meretz und Israel-Beitenu kann, bei Enthaltung der Gemeinsamen Liste, eine weitere Netanjahu-Regierung verhindern.

Wie stehen die Chancen für einen Regierungswechsel in Israel in der kommenden Woche? Netanjahu hofft, 61 Mandate auf sich zu vereinen, um mit knapper Mehrheit eine rechte Regierung zu bilden. Benny Gantz und Kachol-Lavan würden eine Einheitsregierung von Likud und Kachol-Lavan ohne Netanjahu vorziehen. Das ist jedoch unmöglich, es sei denn, Netanjahu lässt sich im Rahmen des Gerichtsverfahrens gegen ihn auf eine Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft ein und scheidet aus dem politischen Leben aus. Eine solche Möglichkeit zeichnet sich derzeit nicht ab. Kachol-Lavan können Netanjahu nur zusammen mit Arbeitspartei-Gesher-Meretz und Israel-Beitenu und der externen Unterstützung durch die Gemeinsame Arabische Liste absetzen. Sollte eine solche Mehrheit zustande kommen, also eine Minderheitsregierung mit arabischer Unterstützung aus der Opposition heraus, könnte Benny Gantz auf ausreichend Druck auf die ultraorthodoxen Parteien hoffen. Diese würden dann argumentieren, den Staat vor einer von arabischen Parteien gestützten Regierung „retten“ zu wollen und so ihren Eintritt in die Koalition begründen. Dies ist allerdings äußerst unwahrscheinlich, da die ultraorthodoxen Parteien einen jüdischen und keinen säkular-nationalen Staat anstreben. Auch Lieberman wird einer Regierung, die sich auf die Unterstützung durch die Gemeinsame Liste beruft, nicht zustimmen. Für eine kurze Interimszeit, bis zum Ausscheiden Netanjahus, wäre eine solche Minderheitsregierung denkbar, gefolgt von einer Einheitsregierung. All das steht und fällt jedoch mit der Wahlbeteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen bei den Wahlen im März 2020. Der beste Rat lautet: Geht wählen! Hoffentlich kommt es bei diesen Wahlen zu einer Entscheidung und nicht zu einer weiteren Patt-Situation, die zu einem weiteren Wahldurchgang führen würde.