Pandemie zwingt Nationalisten zum Handeln

Hintergrund

Es war nicht unbedingt erwartbar – und doch brachte die Corona-Krise für Bosnien und Herzegowina zunächst erst einmal Erstaunliches zu Tage: In dem kleinen Balkan-Land, in dem die politische Klasse außer ethnopolitischen Diskursen sonst wenig zu bieten hat, in dem seit Abschluss des Daytoner Friedensabkommens vor 25 Jahren regelmäßig neue Kriegsrhetoriken aufschwappen und das Thema „Governance“ eher eine unbekannte Größe ist, zwingt die Corona-Krise die Verantwortlichen in ungewohnter Weise zum Handeln.

Pandemie zwingt Nationalisten zum Handeln - Fußgängerzone in Bosnien und Herzegowina

Ungewohnte Einigkeit – außer bei den Finanzen

Mit einiger Verzögerung wurden hier im März die ersten Fälle gemeldet, nun sind es offiziell mehr als 660 Infizierte (Stand Montag, 6. April - bei einer Einwohnerzahl von 2,8 Millionen), auch wenn klar ist, dass dies nur ein Bruchteil des Gesamtbildes widerspiegelt. Die beiden Landesteile, die in etlichen Politikbereichen kaum miteinander kooperieren, versuchen jeder auf seine Weise, den Anforderungen gerecht zu werden.

Das sonst heillos zerstrittene dreiköpfige Staatspräsidium (mit je einem Vertreter der Bosnjaken, der Kroaten und der Serben) demonstrierte im Kampf gegen Corona erstmals seit langem Einigkeit. Mehrere Tage wurde der sonst dominierende Nationalismus in den Hintergrund gedrängt. 

Doch seit es um die Finanzverteilung geht, treten die alten Muster neuerlich hervor: Bei der Soforthilfe für die Gemeinden dominieren neuerlich ethno-nationalistische Kriterien – groteskerweise erhalten jene Gemeinden, die die meisten Infizierten-Fälle haben, nicht automatisch auch mehr Geld. Insgesamt mutet die Mittelvergabe seltsam willkürlich an und lässt neuerlich Korruptionsstrukturen anhand ethnonationaler Trennlinien erkennen.

Bestechen Bosniens Behörden und Administrationen sonst durch weitreichende Dysfunktionalität, wurde die bosnische Öffentlichkeit – auch als Reaktion auf die Erfahrungen in anderen Ländern – mit dem Aufkommen der ersten Fallzahlen rechtzeitig gewarnt. Die Schulen sind landesweit geschlossen, Hotels und Restaurants ebenfalls. 

Ein Land macht dicht

An normalen Tagen tummeln sich in Sarajevos osmanischer Altstadt, der Bascarsija, Tausende von Touristen, nun sind die kleinen verwinkelten Gassen verwaist, die zahlreichen traditionellen Kaffeehäuser geschlossen. Nichts geht mehr in Bosnien – auch der Flughafen Sarajevo stellte den Betrieb komplett ein. 

Zuvor hatte die bosnische Regierung bereits ein rigoroses Einreiseverbot für Reisende aus mehreren Ländern verhängt – darunter auch Deutschland, Italien, Spanien und China. Diese Länder gelten als Hochrisikozone.

Die Maßnahmen korrelieren zunehmend mit zweifelhaften Einschränkungen der Bürgerrechte: Beide Landesteile haben inzwischen strikte Ausgangssperren (von abends bis morgens) verhängt, in der Föderation dürfen Pensionäre ab 65 Jahren nur stundenweise das Haus verlassen, Minderjährigen bis zu 18 Jahren ist der Ausgang gänzlich verboten. Vor diesem Hintergrund begann in den Medien eine Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Einschränkungen, insbesondere über die Bewegungsunfreiheit von Kindern. Dass Bürgerrechte in dem hochgradig diskriminatorischen System Bosniens ohnehin mit Füßen getreten werden - daran haben sich viele schon gewöhnt. 

Dass nun, mitten in der Corona-Krise, kritische Stimmen laut werden, die die Gratwanderung zwischen sinnhaften Einschränkungen zur Eindämmung des Virus und überzogenen autoritären Maßnahmen diskutieren, erscheint daher überaus positiv. 

Entmachtung der Parlamente

Fest steht: Sowohl in der Föderation als auch in der Republika Srpska bringt die Corona-Krise eine Entmachtung der Parlamente mit sich, es regieren Krisenstäbe, die ohne parlamentarische Legitimation weit reichende Einschränkungen verfügen. 

In der RS hat die Präsidentin die Rolle der Nationalversammlung übernommen - in einem System, das auch ohne Notstand rigoros durchregiert und zivilgesellschaftliche Akteur/innen verfolgt und diskriminiert, stellen diese Ermächtigungen besorgniserregende Tendenzen dar. Die Terminologie „Polizeistunde“ erinnert viele an die Kriegsgeschehnisse der 90er Jahre. Zivile Akteur/innen befürchten, dass diese Ausnahmezustände durch die politisch Verantwortlichen missbraucht werden könnten.

Während Akteur/innen wie Russland, die Türkei und arabische Staaten in den letzten Jahren immer stärker ihre Einflusszonen in Bosnien und Herzegowina ausweiten konnten, rückt die Krise bislang eher die Bedeutung der EU in den Mittelpunkt. Die Union, der bislang die Entschlossenheit zur Weichenstellung der Erweiterung in Bosnien fehlt, stellt 7 Millionen Euro zur Verfügung, dazu noch medizinische Ausrüstung. 

Unterstützung kommt auch von USAID für die Laboratorien in BiH, die heillos unterversorgt sind. Aktiv beteiligen sich auch die Arabischen Emirate mit Lieferungen von Gesichtsmasken und anderem medizinischen Material. 

Massive soziale Verwerfungen

Dringende Interventionen benötigen vor allem die zahlreichen Kleinst- und Mittelbetriebe wie Restaurants und Hotels, etwa 27.000 existieren landesweit mit rund 350.000 Angestellten. Die meisten steuern auf die wirtschaftliche Insolvenz zu, sollte der lockdown noch länger anhalten. 

Viele der Betriebe können maximal noch einen Monat überbrücken, dann aber reichen bei vielen die Mittel nicht mehr aus. Analysten gehen von massiven ökonomischen und sozialen Folgewirkungen aus – in einem Land, das ohnehin zu den ärmsten Europas zählt. Dadurch wird sich voraussichtlich der ohnehin dramatische Massenexodus aus Bosnien noch weiter verstärken. 

Wenn Tausende Kleinstbetriebe keine Steuern mehr zahlen, könnte dies zudem zum kompletten Staatsbankrott führen, so lautet eine der düsteren Prognosen. Um das zu verhindern, will der IWF ein Hilfspaket im dreistelligen Millionenbereich schnüren - ob das Geld in dem korruptionsanfälligen System Bosniens allerdings auch tatsächlich bei jenen ankommt, die es am dringendsten benötigen, darf bezweifelt werden.