Das Dilemma der Verhaltensüberwachung: Menschenrechte, Technologie und die neue Normalität

Analyse

„Wir müssen gestärkt aus der Krise hervorgehen.“ Diesen Gedanken hört man häufig als Reaktion auf die Corona-Krise. Er bringt Hoffnung zum Ausdruck und ist eine Einladung, die Krise zu nutzen, um Fortschritte zu machen. In ihrer Eile, auf die Krise zu reagieren und sie schnell zu überwinden, arbeiten Regierungen jedoch mit Technologieunternehmen zusammen, um Infrastrukturen für eine biologische und Verhaltensüberwachung zu entwickeln. Wird sich dies als ein positiver Schritt nach vorn oder als ein Schritt in die falsche Richtung erweisen?

Überwachungskameras an Betonwand

Im April 2020 äußerte UN-Generalsekretär António Guterres seine Sorge, dass die Pandemie zu einer Zunahme an Menschenrechtsverletzungen geführt habe, und drängte darauf, sowohl Lösungen für „die Notlage von heute als auch den Wiederaufbau von morgen“ zu finden.[1] Regierungen und Institutionen in aller Welt haben schnell Maßnahmen ergriffen und sich dabei – die einen mehr, die anderen weniger – auf Technologien und die von ihnen versprochenen Dateneinblicke gestützt. Beispiele dafür finden sich in allen Regionen und für eine Bandbreite an Techniken: vom Drohneneinsatz in Frankreich zur Durchsetzung der Ausgangssperre[2] über Quarantäne-Kontrollen per App in Abu Dhabi[3] und Immunitätsausweise in Estland[4] bis hin zu tragbaren Tracking-Geräten in Singapur[5]. In der Tat sind in Reaktion auf die Pandemie so viele Technologien zur Sammlung und Analyse von Daten im Einsatz[6], dass es für die Gruppen, die sich um Digitalrechte kümmern, und verstärkt auch für Menschenrechtsorganisationen weltweit immer schwieriger wird, all diese Techniken im Auge zu behalten und das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche Herausforderungen diese Technologien für die Bürgerrechte und Grundfreiheiten darstellen.[7]

Die weitverbreitete Nutzung von Technologien in Reaktion auf die Pandemie hat es mit sich gebracht, dass die Erhebung von Daten über unsere Bewegungen zu einer Normalität geworden ist. Von der Gesellschaft wird das stillschweigend hingenommen, nicht weil es unbedingt als gut empfunden wird, sondern weil die Vorstellung, es nicht zu tun, viel schlimmer ist.

Der rasante Wandel hin zur Verhaltensüberwachung beinhaltet auch eine Vermengung der auf Individualebene im öffentlichen und privaten Bereich gesammelten Daten. Einfach gesagt bedeutet das, dass quasi über Nacht im Namen des Allgemeinwohls massiv auf Datensätze von Einzelpersonen zugegriffen wird, die normalerweise nicht zusammengeführt werden, wie Daten von Kreditkartentransaktionen mit Reisedaten oder Daten von Handys mit Überwachungskameras.[8] Zwar sind in dieser Datenmischung auch notwendige Gesundheitsdaten enthalten, aber die meisten dieser Daten sind wertvoll, weil sie unabhängig von ihrer Quelle auf unsere Bewegungen schließen lassen. In vielen Fällen kommt es hier zu einer Datensynthese, die normalerweise der Polizei und den Nachrichtendiensten vorbehalten ist. Häufig werden dabei selbst die üblichen Praktiken und Schutzbestimmungen durch Notfallverordnungen außer Kraft gesetzt. Wenn zu dieser Dynamik noch Grenzkontrollen und militärische Aktionen hinzukommen,[9] wie es in Zeiten nationaler Krise häufig der Fall ist, entsteht eine Art Verhaltensüberwachungs-Supermacht, die auf allen Ebenen wirkt: Daten über die Bewegungen Einzelner auf Kommunal-, Regional- und Gesamtbevölkerungsebene werden mobilisiert, um uns vor dem Tod und wirtschaftlichem Ruin zu bewahren.

Einige Forscher aus dem Gesundheits-, Wissenschafts- und Technologiebereich sind der Auffassung, dass immer noch nicht genug dafür getan werde, um die Verhaltensdaten für die Eindämmung der Virusverbreitung zu nutzen, und dass vieles von dem, was getan wird, verbesserungswürdig sei.[10] Sie fordern weitere Maßnahmen. Damit die auf Daten beruhenden Bemühungen effektiv sein können, müssen die Daten qualitativ hochwertig und umfassend sein. Teildatensätze, Ungenauigkeiten und Sicherheitsrisiken sowie fehlende öffentliche Unterstützung lassen diese Lösungsansätze häufig scheitern. Misserfolge bei vielen der von Regierungen in kleinem Rahmen durchgeführten Experimente haben dazu geführt, dass diese Projekte wieder verworfen wurden – so beispielsweise in Norwegen[11] und im indischen Madhja Pradesch geschehen[12]. Im Laufe der Monate scheint daher weniger in selbst erdachte Ansätze als in umfassendere Vorgehensweisen investiert zu werden. Auch diejenigen, die eine massenhafte Erhebung von personenbezogenen Daten befürworten, behaupten, dass diese Daten nur dann wirklich von Nutzen sind, also Nachweise erbringen, Einblicke gewähren, Muster aufzeigen und Tendenzen erkennen lassen, wenn sie umfassend sind. Mit den zunehmenden Ängsten über die langfristigen Auswirkungen der Pandemie und dem Aufkommen eines „Nie-wieder“-Gefühls steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Maßnahmen im großen Rahmen verstärkt werden, um die auf Datensammlungen basierenden Lösungen effektiver zu machen. Auf Bevölkerungsebene erhobene Verhaltensdaten unterstützen nicht nur die Strategien des Trackings, Tracings und der Kontrolle, sondern sind auch unerlässlich für die Einrichtung von Frühwarnsystemen. Damit das funktioniert, ist die weitere Einbeziehung von einigen der größten Verbraucher-Tech-Unternehmen der Welt, wie Google, Apple und Tencent, unvermeidlich.[13]

Die sich um Digitalrechte sorgende Gemeinschaft ist zurückhaltender in Bezug auf die Verhaltensüberwachung als Reaktion auf die Pandemie.[14] Sie stellen die Aussagekraft dieser Maßnahmen und ihre Wirksamkeit in Frage und sind zu recht besorgt, welche Konsequenzen das heute für den Datenschutz der Einzelpersonen haben wird.[15] Sie sind jedoch auch besorgt über die Bürgerrechte der Gesellschaften von morgen. Denn beim Stichwort Überwachung kommen Erinnerungen an die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hoch. Der „Krieg gegen den Terror“ gewährte den Behörden im Namen der nationalen Sicherheit weitreichende Überwachungsbefugnisse, die nur schwer zurückzunehmen waren und über zwei Jahrzehnte galten.[16] Wie aus den durch Snowden nach außen gedrungenen Informationen hervorgeht, wurde auf Bevölkerungsebene eine in die Privatsphäre eingreifende Überwachungsinfrastruktur aufgebaut, die sich auf Daten aus dem Privatsektor stützte. Den Forderungen nach „notwendigem und verhältnismäßigem“ Einsatz von Technologien zur Verhaltensüberwachung wird immer wieder das Argument entgegengehalten, dass die Überwachung unumgänglich sei. Es machen sich jedoch Bedenken breit, dass diese Daten auch dazu genutzt werden können, oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen und Proteste zu untersuchen.[17] Mit der nach wie vor nicht abklingenden Corona-Pandemie besteht das Risiko, dass wir zusätzliche Überwachungsbefugnisse über menschliche Bewegungen dulden, die leicht missbraucht werden können. Die Massenüberwachung von Bewegung in dieser Größenordnung ist relativ neu, wobei wir noch nicht voll und ganz begreifen, wie gravierend sie sich auf die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit auswirken könnte.

In Wahrheit haben beide Positionen, die befürwortenden und die kritischen Stimmen, ihre Berechtigung. Kurzfristig gesehen will niemand, dass ständig die Bedrohung einer Pandemie auf der Familie, den Freunden und der eigenen Existenz lastet und die Weltordnung erschüttert. Wenn Daten über jede unserer Bewegungen eine Lösung ist, dann geht es eben nicht anders. Aber langfristig gesehen will niemand seine Freiheiten und Rechte in der Gesellschaft aufgeben. Wenn die Überwachung zur neuen Normalität wird oder wir zukünftig in einer Welt leben, in der uns von unseren Daten vorgeschrieben wird, wohin wir gehen, wen wir sehen und was wir arbeiten können, dann werden wir uns als Gesellschaften nicht so leicht damit abfinden.[18] Im Grunde müssen wir lernen, die Nachteile besser zu steuern. In einem von Akademikern und Technologen verfassten wissenschaftlichen Papier lautet die schonungslose Antwort auf dieses Dilemma: „Zur Kontrolle der Pandemie bedarf es der Kontrolle der Menschen – einschließlich ihrer Mobilität und anderer Verhaltensweisen.“[19] Deshalb ist es so schwierig, die fälligen Wertentscheidungen zu treffen.

Die Bedenken über die Verhaltensüberwachung von Einzelpersonen werden häufig im Zusammenhang mit dem Recht auf Privatsphäre diskutiert.[20] Aber: Reduziert man diese Sorgen allein auf die Privatsphäre, lässt man nicht nur außer Acht, dass die Privatsphäre die Voraussetzung für alle anderen Freiheiten wie Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist, sondern übersieht auch die Risiken, die Verhaltensüberwachungen auf Bevölkerungsebene in sich bergen und wie diese Überwachungen missbraucht werden können. Ebenso stellt man damit die Lehren aus den letzten beiden Jahrzehnten in Abrede. Zentralisierte, in großem Umfang erhobene Datensätze über die Verhaltensweisen von Einzelpersonen stehen auf vollkommen undemokratische Weise in direktem Zusammenhang mit dem Erwerb von Kenntnissen, Wohlstand und Macht, wie Shoshana Zuboff es ausführlich und anschaulich in ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus darlegte und wie es Naomi Klein kürzlich in einem Artikel über die Macht der Big-Tech in Folge der Pandemie erklärte.[21]

Covid-19 ist eine weltweite öffentliche Gesundheitskrise, die schnell zu einer wirtschaftlichen, politischen und menschenrechtlichen Krise geworden ist und letztlich auch zu einer Mahnung, wie wenig wir tun, um die negativen Auswirkungen des Zeitalters des Anthropozän zu mindern. Dieser Moment der globalen Verletzlichkeit hat deutlich gemacht, dass wir als Gesellschaften immer häufiger von Krisen bedroht sind, nicht nur von Pandemien, sondern auch von Naturkatastrophen und anderen Folgen des Klimawandels. In diesem Szenario werden die in großem Umfang erhobenen Daten über menschliche Bewegungen immer wertvoller und die oben skizzierten Dilemmata werden immer schwieriger.[22] Wir müssen eine komplexere und gründlichere Debatte über die Nachteile führen, die mit der im großen Maßstab erfolgenden Verhaltensüberwachung von Menschen einhergeht, und darüber reden, wie der Druck, diese Technologien einzusetzen, um die Auswirkungen der Krise einzudämmen, neue Machtzentren schaffen, Ungerechtigkeiten verstärken und sich auf Grundrechte und -freiheiten auswirken wird.

Wenn wir diesen Moment nutzen wollen, um gestärkt und besser daraus hervorzugehen, dürfen wir die Probleme des Techno-Solutionismus, alles mit Hilfe von Technologie lösen zu wollen, nicht beiseiteschieben. Wir müssen uns den vielen Problemen stellen, die noch zu lösen sind, wenn wir die Vorteile der eingerichteten Dateninfrastruktur nutzen wollen, ohne dabei die gesellschaftlichen Grundwerte auszuhöhlen. Tun wir das nicht, werden wir zukünftig mit den Folgen der ständigen umfassenden Überwachung unserer täglichen Bewegungen leben müssen.

 

[6] Weitere Meldungen über den weltweiten Einsatz von Nachverfolgungs- und Durchsetzungstechnologien finden sich unter: https://privacyinternational.org/examples/tracking-global-response-covid-19

[15] In einigen Fällen ist es gelungen, gegen die plötzlichen zu weitreichenden Überwachungen durch die Behörden vorzugehen, was zumindest wichtige kurzfristige Erfolge sind. Zum Beispiel: https://in.reuters.com/article/health-coronavirus-slovakia-tracking-idINKBN22P2E3

[20] Einige Länder haben in diesem Bereich Innovationen vorangetrieben, auch wenn es dabei nach wie vor Probleme gibt. Siehe das Beispiel Deutschland: https://www.politico.eu/article/germany-privacy-coronavirus-contact-tracing-app/

[22] Siehe zum Beispiel Crofton Blacks Arbeit über Mobilitäts-Tracking und Flüchtlinge: https://www.thebureauinvestigates.com/stories/2020-04-28/monitoring-being-pitched-to-fight-covid-19-was-first-tested-on-refugees