2020 feiern wir 75 Jahre der Vereinten Nationen, der zwischenstaatlichen Organisation, die seit ihrer Gründung das Ziel hat internationalen Frieden, Sicherheit und den Schutz der Menschenrechte aufrechtzuerhalten. Doch obwohl die Menschenrechte ausweislich der Charta eine der drei Säulen der Vereinten Nationen sind, wird nur ein Bruchteil der finanziellen Mittel in diese Säule investiert. Silke Voß-Kyeck, UN-Expertin und Berichterstatterin für das Forum Menschenrechte, untersucht zum 75. Jahrestag der Organisation den Zusammenhang zwischen Finanzen und Menschenrechtsschutz innerhalb der Vereinten Nationen.

Vor 75 Jahren wurde die Charta der Vereinten Nationen beschlossen. Diese einzigartige multilaterale Organisation sollte Frieden weltweit sichern, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vorantreiben und die Achtung der Menschenrechte fördern und festigen. Schon drei Jahre – 1948 – später wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angenommen, die den Grundstein legte für zahlreiche internationale Menschenrechtsabkommen und die Etablierung von Gremien und Instrumenten, um den Menschenrechtsschutz durchzusetzen und weiterzuentwickeln.
Doch obwohl die Menschenrechte ausweislich der Charta eine der drei Säulen der Vereinten Nationen sind, wird nur ein Bruchteil der finanziellen Mittel in diese Säule investiert. So wird im Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen viel vom wertvollen System zum Menschenrechtsschutz die Rede sein, obwohl genau dieses den Mitgliedsstaaten der UN nicht viel wert zu sein scheint.
Gerade einmal 3,7 Prozent des regulären UN Haushalts sind für den Menschenrechtsschutz unter der Verantwortung des Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) vorgesehen (105,6 Mio. US-Dollar in 2019[1]). Zwei Drittel seiner Ausgaben muss das OHCHR aus freiwilligen Beiträgen (179 Mio. US-Dollar in 2019) bestreiten, der Großteil davon ist aber zweckgebunden. Weder mit den regulären noch den freiwilligen Beiträgen kann das OHCHR zuverlässig planen, denn immer häufiger zahlen Staaten ihre Mitgliedsbeiträge verspätet oder schlimmstenfalls gar nicht, und die Zahl der freiwilligen Geberstaaten (66 in 2019) schwankt ähnlich wie die Beitragshöhe und der Zahlungseingang von Jahr zu Jahr.
Dieser prekären Finanzsituation stehen kontinuierlich wachsende Aufgaben gegenüber, die von den Staaten beschlossen wurden und die angesichts gravierender Menschenrechtsverletzungen weltweit alles andere als verzichtbar sind. Zu den wesentlichen Elementen des heutigen Systems der UN zum Menschenrechtsschutz gehört der Menschenrechtsrat, in dem Opfer und Aktivist*innen Gehör finden. Dazu gehören auch die derzeit über 50 unabhängigen Arbeitsgruppen und Sonderberichterstatter*innen, die möglichst vor Ort recherchieren und Missstände öffentlich machen, und die zehn Vertragsausschüsse, deren insgesamt 172 unabhängigen Mitglieder über die Umsetzung der jeweiligen Übereinkommen wachen. All diese Expert*innen sind ehrenamtlich tätig, nur administrativ unterstützt durch das Hochkommissariat. Einen großen Aufgabenzuwachs für das OHCHR brachte die 2006 begonnene Universelle Periodische Überprüfung (UPR) ausnahmslos aller Staaten, welche erhebliches Potential für die nationale Zivilgesellschaft bietet und bereits beachtliche Entwicklungen vor Ort herbeigeführt hat.[2] Schließlich ist das OHCHR mehr als das Sekretariat für diese Gremien und Expert*innen, sondern auch unmittelbar beratend und unterstützend mit Expertise innerhalb der UN tätig und in vielen Staaten und Regionen mit Außenstellen präsent.[3] Dies ist die nicht erschöpfende und im Folgenden noch auszuführende Aufzählung dessen, was seit Jahren chronisch unterfinanziert ist und inzwischen vor dem finanziellen Kollaps steht.
Eskalation mit Ankündigung
2019 eskalierte erstmals öffentlich, was längst kein Geheimnis mehr war. Zu einem ohnehin schon knappen Budget und von der Generalversammlung 2017 beschlossenen globalen Kürzungen für fast alle Budgetlinien, darunter pauschal 25 Prozent gekürzte Reisekosten für hochrangige Expert*innen wie die Sonderberichterstatter*innen und Mitglieder der Vertragsausschüsse, kam eine akute Liquiditätskrise hinzu aufgrund der schlechten Zahlungsmoral vieler Mitglieder, allen voran die USA. So sah sich die Hochkommissarin Bachelet im April 2019 gezwungen den zehn Vertragsausschüssen mitzuteilen, dass neben Einschränkungen in allen Arbeitsbereichen des OHCHR voraussichtlich sechs der Ausschüsse noch geplante Sitzungen für das Jahr würden streichen müssen. Die Ausschussvorsitzenden beklagten daraufhin sehr treffend in einem Schreiben an UN Generalsekretär Guterres, es sei „verstörend, wie leicht Liquiditätsprobleme und Reisekostenbudgets die Arbeit der Vertragsausschüsse untergraben könnten“.
Zivilgesellschaftlicher Protest und Besorgnis der beitragstreuen Staaten führten letztlich dazu, dass in den UN Kassen noch Gelder für die Ausschusssitzungen 2019 zusammengekratzt werden konnten. Doch schon Anfang 2020 wurde die anhaltende Liquiditätskrise erneut akut, sichtbar diesmal für den Menschenrechtsrat. Für dessen im Februar begonnenen 43. Tagung mussten die Konferenz- und insbesondere die Übersetzungsdienste eingeschränkt und bis auf wenige Ausnahmen Sitzungen zwischen 13 und 15 Uhr gestrichen werden – also jeden Tag nur sieben statt neun Stunden Beratungen über nicht geringer werdende Menschenrechtskrisen. Sehr schnell wurde allerdings die COVID-19-Pandemie zum alles überragenden Thema und die Finanzprobleme nur noch im Hintergrund vernehmbar. Das für die Genfer Konferenzdienste zuständige UN-Büro ließ die Delegationen bereits im Mai diplomatisch aber deutlich wissen, dass die aufwändige Wiederaufnahme der Ratssitzungen mit „nicht-budgetierten Kosten“ verbunden sei: „Angesichts der Liquiditätskrise der Organisation aufgrund der erheblichen Nicht-Zahlung von festgesetzten Beiträgen der Mitgliedsstaaten müssten diese ungeplanten Ausgaben, sofern nicht zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, möglicherweise durch die Reduzierung von Dienstleistungen im zweiten Halbjahr 2020 ausgeglichen werden.“[4]
Die Pandemie-bedingten Erfordernisse und Diskussionen drohen auch von der überaus kritischen Situation für die Vertragsausschüsse abzulenken. Die Absage aller Präsenzsitzungen bis zunächst Ende August war aufgrund der Vorgaben der Schweizer Behörden zur Pandemieeindämmung unabweislich. Doch schon in Juni hieß es in einer Mitteilung des Hochkommissariats zu den organisatorischen Perspektiven für das zweite Halbjahr, die Finanzkrise würde die Situation „wahrscheinlich noch verschärfen. Die anhaltende verspätete und unzureichende Zahlung von Beiträgen hat ein Stadium erreicht, in dem die Fortsetzung der Aktivitäten durch den Mangel an Ressourcen behindert wird.“[5] Das Geld fehlt für die Reisekosten der Ausschussmitglieder sowie unabhängig von Präsenz- oder Online-Sitzungen für die erforderliche administrative Unterstützung durch die jeweiligen Sekretariate des OHCHR und die Übersetzungsdienste. Und so sei angesichts der geringen Hoffnungen auf Besserung der Finanzmisere nicht auszuschließen, dass es in 2020 keine Möglichkeit mehr für persönliche Sitzungen in Genf geben wird. Die Ausschussvorsitzenden haben diese Ankündigung in aller Deutlichkeit kommentiert: „Es wäre eine Farce und eine Perversion der Prioritäten, wenn die Tragödie der COVID-19-Pandemie genutzt würde, um die weitere Beeinträchtigung der Wirksamkeit des internationalen Menschenrechtsschutzes aus finanziellen Gründen zu verschleiern.“[6]
Die Finanzmisere als Teil einer umfassenden Krise
Die Finanzmisere droht also in immer schärferer Form ein System zum Schutz der Menschenrechte zum Einsturz zu bringen, das die Staaten selbst über Jahrzehnte aufgebaut haben. Vor einem genaueren Blick auf die Einsturzfolgen gilt es jedoch, die finanzielle Krise in ein größeres Panorama zu setzen. Denn erstens sind die mangelnden Ressourcen für den Menschenrechtsschutz seit vielen Jahren schon problematisch, zweitens haben die Finanzprobleme verschiedenen Facetten und sind nicht nur für die Menschenrechtsarbeit virulent, und drittens ist die Ressourcenbeschränkung ein wichtiges, aber nicht das einzige Element der Angriffe auf die Menschenrechte und das System zu ihrem Schutz.
Die finanzielle Situation des UN Hochkommissariats für Menschenrechte wurde zuletzt beim UN-Gipfel 2005 von prekär zu etwas weniger prekär geändert. Generalsekretär Kofi Annan hatte im Vorfeld des UN-Gipfels 2005 ein hochrangiges Panel eingesetzt, dessen Bericht den unmissverständlichen Hinweis enthielt auf den „klaren Widerspruch“[7] zwischen den damals nur knapp 2 Prozent der Haushaltsmittel für das OHCHR für Menschenrechte und der Charta-Verpflichtung, Menschenrechtsschutz zu einem Hauptziel der UN zu machen.
Kofi Annan machte sich dies zu eigen und schrieb in seinem eigenen Bericht zum Weltgipfel 2005, „zwar hat sich die Rolle der Hohen Kommissarin in den Bereichen Krisenreaktion, Aufbau nationaler Menschenrechtskapazitäten, Unterstützung der Millenniums-Entwicklungsziele und Konfliktverhütung ausgeweitet, doch ist ihr Amt nach wie vor äußerst schlecht ausgestattet, um auf das breite Spektrum menschenrechtlicher Herausforderungen zu reagieren, mit denen die internationale Gemeinschaft konfrontiert ist. Das proklamierte Bekenntnis der Mitgliedstaaten zu den Menschenrechten muss durch Ressourcen ergänzt werden, die die Fähigkeit des Büros stärken, sein lebenswichtiges Mandat zu erfüllen.“[8] Die Generalversammlung einigte sich schließlich auf eine Verdoppelung der ordentlichen Haushaltsmittel für das OHCHR in den kommenden fünf Jahren[9] - die Grundlage für die heutigen 3,7 Prozent.
Die unzureichenden Ressourcen für die Vertragsausschüsse sind ebenfalls seit langem bekannt und werden im derzeitigen Prozess zu deren Reform intensiv diskutiert. Die UN Generalversammlung legte angesichts der wachsenden Aufgaben der Ausschüsse und des Rückstaus bei der Überprüfung von Staatenberichten und Individualbeschwerden bereits 2014 eine Formel zur Berechnung der notwendigen Sitzungszeiten fest. Der Generalsekretär wurde aufgefordert, „die dazugehörigen finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen“ [10]. Während die Ausschüsse selbst bereits viele der geforderten Maßnahmen zur besseren Koordinierung und Verbesserung ihrer Arbeit auf den Weg gebracht haben, wurden die Mittel nicht wie berechnet bereitgestellt und aufgrund fehlender Personalkapazitäten konnten nicht alle der zugewiesenen Sitzungswochen durchgeführt werden[11]. In der Konsequenz konnten manche Staaten einer kritischen Prüfung ihrer Menschenrechtsperformance zu lange entkommen und viele Opfer nicht mit der Unterstützung durch die Ausschüsse rechnen. Der jüngste Bericht des Generalsekretärs zur Umsetzung der Resolution von 2014 benennt schonungslos und im Detail die Defizite[12] und stellt entsprechend fest, „das System muss ausreichend und nachhaltig aus dem regulären Haushalt finanziert werden“[13].
Neben diesem geringen Anteil für das OHCHR am ordentlichen UN-Budget, also von den regulären Beitragszahlungen, sind die freiwilligen Zuwendungen durch Mitgliedsstaaten zwar unverzichtbar, aber auch nicht unproblematisch. Die jedes Jahr variierenden Zahlungen verhindern z.B. eine effektive Personalplanung des OHCHR und die langfristige Bindung qualifizierter Mitarbeiter*innen. Der hohe Anteil an zweckgebundenen, d.h. für konkrete Projekte oder Maßnahmen vorgesehenen Mitteln lässt dem OHCHR wenig Spielraum, Ressourcen strategisch zu planen, anhand konkreter Bedarfe einzusetzen und auf kurzfristige Entwicklungen zu reagieren. Zudem sind zweckgebundene Mittel immer auch ein Instrument der Einflussnahme durch das Geberland zugunsten nationaler, potentiell weniger menschenrechtsfreundlicher Interessen. Und nicht zuletzt lädt die fehlende Finanzierung durch die UN und ihre Mitgliedsstaaten private Geldgeber dazu ein, die Löcher zu stopfen. Für das OHCHR ist die Firma Microsoft mit 850.000 US-Dollar in 2019[14] der mit Abstand größte private Geldgeber. Der Einfluss von Privatinteressen auf den internationalen Menschenrechtsschutz ist angesichts möglicher Abhängigkeiten mindestens mit Vorsicht zu betrachten.
Auch dieser Aspekt der Finanzentwicklung ist nicht neu, dennoch sehr besorgniserregend, und betrifft nicht nur das OHCHR, sondern viele weitere UN Institutionen. Der Etat des komplett freiwillig finanzierten UNHCR ist seit Jahren weit entfernt vom tatsächlichen Bedarf, mit entsprechenden Folgen für die Flüchtlinge, die auf dessen Unterstützung angewiesen sind. Neu hingegen sind die zunehmende Unberechenbarkeit der Zahlungen und die beispiellose Vehemenz, mit der die US-Administration unter Präsident Trump einer multilateralen Organisation nach der anderen den Geldhahn zudreht oder gleich ganz austritt. Den maßgeblichen Anteil an der aktuellen Liquiditätskrise der UN haben die zurückgehaltenen Zahlungen der USA als größtem Beitragszahler und anderer Staaten, die sich ermutigt fühlen diesem Beispiel zu folgen. Nur ein weiteres Beispiel für diese Politik ist das komplett freiwillig finanzierte UN Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser (UNRWA), dem durch den kurzfristigen Ausstieg der USA 2018 rund ein Drittel des Budgets wegbrach und bis heute nicht wirklich ersetzt werden konnte, und das nun praktisch von Monat zu Monat wirtschaftet. Auch die Weltgesundheitsorganisation steht inzwischen vor dieser Herausforderung.
Neben den USA haben die Regierungen Chinas und Russlands einen beachtlichen Anteil an den leeren Kassen des OHCHR. Die jeweils zum Jahresende im zuständigen 5. Ausschuss der Generalversammlung stattfindenden Verhandlungen über das höchst komplexe Budget der UN werden von Beobachter*innen gelegentlich mit einem orientalischen Basar verglichen. China und Russland gehören dort offenbar zu den Meistern in der Kunst, Kürzungen durchzusetzen und vor allem der Menschenrechtsarbeit so wenige Ressourcen wie möglich zuzugestehen. Das wenig transparente Verfahren lässt höchstens Vermutungen darüber zu, warum menschenrechtsfreundlichere Staaten dem nicht erfolgreicher entgegentreten können oder wollen.
Dies gilt auch in einem anderen Gremium der UN, in dem vor allem China hartnäckig die Menschenrechtsarbeit torpediert: Der Akkreditierungsausschuss des ECOSOC in New York entscheidet darüber, welche zivilgesellschaftlichen Regierungsorganisationen den sogenannten Konsultativstatus erhalten oder verlängert bekommen, der für Zugang, Stellungnahmen und Rederechte in den Menschenrechtsgremien Voraussetzung ist. Zunehmend werden Verfahren verzögert, Organisationen hingehalten, langjährige Akkreditierungen anerkannter Organisationen infrage gestellt.
Und schließlich ist es auch der menschenrechtliche Diskurs, den die chinesische Regierung insbesondere im Menschenrechtsrat seit einigen Jahren gleichermaßen unverhohlen, strategisch geschickt und erfolgreich in ihrem Sinne zu beeinflussen versucht. Besonders deutlich wird dies an der 2020 zum zweiten Mal mit Mehrheit abgestimmten Resolution zu einer „für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte“[15], die Menschenrechte zum Gegenstand freundlicher Kooperation souveräner Staaten statt einklagbarer staatlicher Verpflichtungen zum Schutz individueller Rechte machen will. Dies ist nicht die einzige, aber besonders gefährliche Initiative, mit der etablierte Menschenrechtsstandards infrage gestellt und eigene Interpretationen durch Ratsmehrheiten legitimiert werden. Chinas Agieren[16] ist beispielhaft, aber durchaus nicht einzigartig dafür, dass der weltweite Menschenrechtsschutz nicht nur über die finanziellen Mittel immer stärker unter Druck gerät. Es wird von vielen Akteuren[17] gleichzeitig am normativen und am wirtschaftlichen Fundament der UN Menschenrechtsarbeit gegraben.
Die Konsequenzen der finanziellen Austrocknung des Systems
Die fortdauernden und inzwischen existentiellen Finanznöte sind in Genf beim OHCHR ebenso schmerzhaft zu spüren wie bei Nichtregierungsorganisationen und Aktivist*innen, die in ihren Ländern für Verbesserungen bei den Menschenrechten kämpfen und sich dabei auf die Unterstützung durch die Menschenrechtsinstitutionen der UN verlassen (müssen).
Die Arbeitsbedingungen für viele der rund 1.100 Mitarbeiter*innen des OHCHR sind angesichts pauschaler Gehaltskürzungen[18] und oft kurzzeitig befristeter Arbeitsverträge kaum als motivierend zu betrachten. Entsprechend hohe Fluktuation und wechselnde Arbeitsfelder der Mitarbeiter*innen beeinträchtigen nicht nur die kontinuierliche Zuarbeit für die Vertragsausschüsse. Individualbeschwerden, Eilaktionen im Falle verschwundener Personen[19] oder Eingaben für den UPR werden maßgeblich vom OHCHR-Team bearbeitet bzw. für Entscheidungen durch die Ausschüsse aufgearbeitet. Ohne kompetente und möglichst beständige Ansprechpartner*innen würde also auch die Unterstützung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen erheblich eingeschränkt.
Den Wert dieser Arbeit machte Marie Noemie Barbosa Gonzales aus Kolumbien Anfang Mai gegenüber dem Ausschuss gegen das Verschwindenlassen höchst anschaulich. Seit über fünf Jahren sucht sie nach ihrem Sohn, der im Juni 2014 gewaltsam verschwand. Mit sehr eindrücklichen persönlichen Worten schilderte sie, wie der Ausschuss ihr seither mit beharrlichen Nachfragen bei den kolumbianischen Behörden bei der Suche geholfen hat. Ihr Sohn sei leider weiterhin verschwunden, doch das Wissen um die Unterstützung des Ausschusses sei ihr Hilfe und Trost.[20]
Für Opfer, Aktivist*innen und Nichtregierungsorganisationen sind angesichts schwindender zivilgesellschaftlicher Handlungsräume die Menschenrechtsorgane und -verfahren der UN oftmals die einzige Möglichkeit, dass Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und thematisiert werden und somit die verantwortlichen Akteure und Staaten wenigstens benannt, bestenfalls sogar zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die persönlichen Begegnungen, Kontakte und Vernetzungsmöglichkeiten sind für zivilgesellschaftliche wie UN Akteure gleichermaßen von großem Wert. Werden Sitzungen verschoben oder abgesagt, Besuchsreisen von Berichterstatter*innen oder Untersuchungsmissionen gestrichen oder Berichte nicht veröffentlicht, weil die finanziellen und personellen Mittel fehlen, ist das weit mehr als ein Managementproblem.
Das illustriert als eines von unzähligen Beispielen das persönliche Briefing einer chilenischen Aktivistin vor dem Wirtschafts- und Sozialausschuss im März 2020. Seit vielen Jahren kämpfen sie und Mitstreiter*innen gegen den Bau eines Wasserkraftwerks in Chile, das massive Auswirkungen auf die Umwelt sowie die Rechte der lokalen Gemeinschaften hätte. Der Ausschuss hat anschließend in seinen Fragen an die chilenische Regierung ausdrücklich Bezug auf dieses Wasserkraftwerk-Projekt genommen[21] und trägt möglicherweise zu positiven Veränderungen vor Ort bei. Werden Sitzungen mangels Ressourcen gestrichen, könnten Staatenprüfungen vielleicht erst dann stattfinden, wenn Unrecht nicht mehr verhindert werden kann.
Auch in Sri Lanka setzen Menschenrechtsaktivist*innen große Hoffnungen darin, dass UN Sonderberichterstatter*innen und Vertragsausschüsse weiterhin kritische Blicke und Worte auf die Menschenrechtssituation im Land richten. Der dortige politische Reformprozess seit 2015 war von sechs Sonderberichterstatter*innen eng mit Empfehlungen begleitet worden, die für Menschenrechtsorganisationen als wichtige Referenzen dienten. Nun zeigt der 2019 neugewählte Präsident eine große Abneigung gegen die menschenrechtliche Kooperation mit der UN und es drohen zu einem kritischen Zeitpunkt auch noch die Visiten und Befassungen – und damit die Unterstützung – der UN-Expert*innen mangels Ressourcen wegzubrechen. In den UN-Fachausschüssen zur Frauenrechtskonvention (CEDAW) und zum Zivilpakt (CCPR) stand Sri Lanka auf der Tagesordnung für die letzten Sitzungen. Diese musste zwar wegen COVID-19 ausfallen, doch zeigt es die Wirkung, die finanzbedingte Absagen hätten. Ein enges Monitoring durch die Genfer Institutionen kann zudem eine beachtliche Schutzwirkung für die Menschenrechtsakteure vor Ort haben.
„Weiter so“ ist keine Option
Die Perspektiven sind zweifellos düster. Hochkommissarin Bachelet erklärte im Juni, „die UN Finanzkrise trifft uns alle noch immer, mit geringen Aussichten auf Besserung“[22]. Schon zweimal warnte Generalsekretär Guterres in diesem Jahr, die Arbeitsfähigkeit der UN nicht mehr sicherstellen zu können. Für das System zum Menschenrechtsschutz ist dieser Zustand faktisch bereits erreicht. Mandatierte Aufgaben können nicht mehr so erfüllt werden, wie es Menschenrechtsverteidiger*innen so dringend benötigen. Mitgliedsstaaten, die wenig Interesse daran haben, ihre Menschenrechtsbilanz kritischen überprüfen zu lassen, dürften sich von der Entwicklung ermutigt fühlen, die Mittel eher noch weiter zu kürzen. Die Glaubwürdigkeit der UN nimmt ernsthaft Schaden daran.
Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind in diesem Kontext in doppelter Hinsicht gefährlich: Über die finanziellen Gründe für Kürzungen, Sitzungsausfälle, Reiseverbote lässt sich leichter hinwegsehen, wenn offiziell das Virus für diese Restriktionen verantwortlich gemacht werden kann. Und wenn sich die pandemiebedingten Online-Sitzungen als machbar erweisen und Reisen entbehrlich scheinen, könnte es verlockend werden, damit auch in Zukunft ein weiter gestutztes Budget zu rechtfertigen. Diese Gefahr ist insbesondere mit Blick auf die derzeitigen Beratungen um die Reform der Vertragsausschüsse nicht zu unterschätzen. Der Ausgang dieses Prozesses wird ein Gradmesser für den Willen der Mitgliedsstaaten sein, tatsächliche Abhilfe zu schaffen und damit den nicht mehr schleichenden, sondern längst galoppierenden finanziellen Tod des Systems zu verhindern.
Die Autorin
Silke Voß-Kyeck ist UN-Expertin und Berichterstatterin für das Forum Menschenrechte, eines Netzwerks von über 50 deutschen Nichtregierungs-Menschenrechtsorganisationen.
[1] Alle Zahlen zum Budget sind dem letzten Jahresbericht des OHCHR entnommen: UN Human Rights report 2019
[2] Beispiele dafür im Bericht „The Butterfly Effect“ der Organisation UPR-Info
[3] Siehe Clapham, Andrew: The High Commissioner for Human Rights, in Alston, Philipp/ Mégret, Frédéric: The United Nations and Human Rights. A Critical Appraisal, Oxford 2020, S. 667-607.
[4] Schreiben des United Nations Office at Geneva (UNOG) an die Genfer Delegationen der Mitgliedsstaaten vom 22. Mai 2020.
[5] Schreiben des Hochkommissariats an die Mitglieder der Vertragsausschüsse vom 16. Juni 2020.
[6] Schreiben aller Vertragsausschussvorsitzenden an die Hochkommissarin für Menschenrechte vom 30. Juni 2020.
[7] A more secure world: Our shared responsibility. Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change; UN-Dok. A/59/565 vom 29.11.2004, para 290
[8] In larger freedom: towards development, security and human rights for all Report of the Secretary-General, A/59/2005, 21.3.2005; Hervorhebung durch die Verfasserin
[9] Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005, UN-Dok. A/RES/60/1 vom 16.9.2005, Abs. 124
[10] Strengthening and enhancing the effective functioning of the human rights treaty body system, resolution68/268 der UN Generalversammlung vom 9.4.2014
[11] Status of the human rights treaty body system. Report of the Secretary-General , A/74/643, para 43
[12] Ebd., para 51-57.
[13] Ebd., para 65.
[15] Promoting mutually beneficial cooperation in the field of human rights, Resolution der 43. Tagung des Menschenrechtsrats, A/HRC/43/L.31/Rev.1
[16] Siehe Rosemary Foot: China and the UN’s human protection agenda, 15.6.2020
[17] Siehe Marc Engelhardt: Weltgemeinschaft am Abgrund. Warum wir eine starke UNO brauchen, Berlin 2018, S. 151.
[18] 2018 wurden 7 Prozent der Gehälter gekürzt. Auch Zuschüsse für Fortbildungen, Reisekosten oder Kommunikation wurden gestrichen.
[20] Siehe Pressemitteilung des Ausschusses gegen Verschwindenlassen vom 4.5.2020