Vorstellungsänderung: Digitale Formate am Burgtheater während der Corona-Krise

Position

Die Corona-Pandemie hat das Theater stark getroffen. Wie sollten Säle mit mit mehreren hundert Sitzen weiterhin bespielt werden? Eine Lösung musste her und das Theater wurde digital.

Screenshot eines Tweets des Burgtheaters

Als die Content-Managerin am 10. März 2020 an ihrem Schreibtisch im vierten Stock des Burgtheaters ihre Sachen packte, um im Home Office den kürzlich zugezogenen Bänderriss zu kurieren und die digitalen Agenden des Theaters remote von der Wohnzimmercouch aus zu dirigieren, ahnte sie nicht, dass sie erst in knapp einem halben Jahr dieses Haus wieder betreten würde. Laptop und Ladekabel umgehängt, verließ sie das Haus, vom Corona-Virus wusste man zu diesem Zeitpunkt, dass es aus China in Italien angekommen war. Pandemien waren noch Stoffe, aus denen Netflix-Filme sind.

Wenige Tage später nur sollte der Vorstellungsbetrieb des gesamten Burgtheaters und seiner Spielstätten eingestellt werden, Mitarbeiter/innen sollten ihre Arbeitsplätze verlassen und mit ihren Familien viele lange Wochen in den eigenen vier Wänden verbringen. Tausende Menschen würden auf den digitalen Kanälen des Theaters traurige Emojis und gebrochene Herzen verschicken. Theater und Netz würde neben Kurzarbeitsregelungen das meistdiskutierte Thema in den Sitzungen werden. Hierarchien würden sich auflösen, neue Workflows würden entstehen. Ensemble und Mitarbeiter/innen würden durch Datenströme verbunden. Schauspieler/innen würden Produzent/innen werden: Können Sie die Kamera etwas niedriger halten, wenn Sie sich filmen? Ich lege Ihnen ein Mikrofon ins Postkasterl – Android oder ein iPhone? In acht Wochen würde sich dem Theater ein völlig neuer digitaler Möglichkeitsraum eröffnen.

Mit dem Burgtheaterschauspieler Martin Schwab würde die Content-Managerin Stunden am Telefon verbringen. In seinem Schaukelstuhl sitzend, würde er mit einem ihm unbekannten Gerät namens Tablet auf den Knien ihren Erklärungen zur Selfie-Video-Produktion und WeTransfer-Versand lauschen. Triumphierend würde er in den Telefonhörer rufen: «Ich habe ein Foto von meiner Cordhose gemacht!». Eines Nachmittags im Mai würden sie sich dann auch persönlich treffen: die Content-Managerin, aus dem Küchenfenster gebeugt, der Burgtheaterschauspieler, Thomas-Bernhard-Anekdoten erzählend, auf dem Gehsteig darunter. Sie, Jahrgang 1981, mit einem leidenschaftlichen Hang für alles Digitale und einem Beruf, dessen Aufgabenfeld sich schneller entwickelt, als es einen Namen dafür gibt. Er, Jahrgang 1937, Schauspieler und Vertreter des durch und durch Analogen mit einer gesunden Neugier für die Welt, die sich plötzlich auf den Kopf stellt.

Noch vor einem Jahr, als man mit einer Digitalstrategie in die neue Direktion startete, hätte man mit diesem Absatz einen Science-Fiction-Roman begonnen über ein Burgtheater im Netz, irgendwann in vielen fernen Jahren. Wollte man auch das Burgtheater als innovatives Haus im digitalen Raum etablieren, so hätte es dennoch niemand gewagt, in ein Strategiepapier für die erste Spielzeit zu schreiben: «Im September 2020 bei den Nestroy-Theaterpreisen für ein digitales Format nominiert zu werden».

Von all dem wusste die Content-Managerin nichts, als sie am 10. März 2020 nach Hause humpelte um im Home Office ihren Bänderriss zu kurieren. Am selben Tag noch beschränkt die österreichische Bundesregierung zur Eindämmung des neuartigen Corona-Virus Indoor-Veranstaltungen auf eine maximale Größe von 100 Teilnehmer/innen. Am Freitag, dem 13. März, wird angekündigt, alle «nicht versorgungswichtigen» Geschäfte zu schließen; weitere, verschärfte Veranstaltungsbeschränkungen werden in Aussicht gestellt. Ab Montag, 16. März gelten in ganz Österreich extreme Einschränkungen der Bewegungsfreiheit – zunächst bis 22. März, später sollten diese Beschränkungen noch einmal verlängert werden – bis zum 13. April. Und bald würde klar sein: An einen Theaterbetrieb ist in dieser Saison nicht mehr zu denken.

Manches schien zu diesem Zeitpunkt dafür zu sprechen, den öffentlichen «Auftritt» des Theaters für die Dauer der Schließungen auszusetzen, anstatt auf der eigenen Website «schlechtes Fernsehen» zu produzieren oder in den sozialen Medien einen Kontakt zum Publikum aufrecht zu erhalten, der sich auf nichts mehr beziehen konnte als auf die Hoffnung, einander irgendwann wieder im Theater zu begegnen. Dem durchaus legitimen Beharren auf der Unmöglichkeit von Theater in dieser Situation standen Erwägungen gegenüber, die einerseits Legitimationsfragen betrafen – schließlich war der öffentliche Auftrag der Institution mit der Schließung der Spielstätten nicht einfach erloschen –, andererseits auch und damit zusammenhängend Fragen der Sichtbarkeit und der Aufrechterhaltung des Kontakts zum Publikum.

Die erste, rasch gestartete Serie «#MyHomeIsMyBurgtheater» wählte dementsprechend einen sehr persönlichen Ansatz: Schauspieler/innen des Ensembles filmten sich beim Lesen selbstgewählter Texte, die an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben wichtig wurden oder sie schon lange begleiteten. Das Publikum liebte diese Filmchen, die allein auf Facebook an die 50.000 Menschen erreichten. Als Format war «#MyHomeIsMyBurgtheater» deutlich auf Kundenbindung und Dienstleistung ausgerichtet und drohte in der Flut ästhetisch anspruchsloser selbstgefilmter Äußerungen von Einzelpersonen auf allen möglichen Internet-Plattformen während der Corona-Krise bald unterzugehen.

Mit der Serie «Wiener Stimmung» wurde der künstlerische Anspruch deutlich verstärkt: 22 dotierte Aufträge vergab das Burgtheater an österreichische Autor/innen für ca. 10-minütige Monologe, die von einem kleinen, meist nur aus Regie, Kamera und Dramaturgie bestehenden Team gemeinsam mit den jeweiligen Schauspieler/innen mitten in der Krise via Videokonferenz filmisch umgesetzt wurden. Sukzessive wurde am Burgtheater das digitale Angebot erweitert: Auf der Website wurde der Spielplan durch ein Online-Kalendarium ersetzt, täglich wurden ein bis mehrere Online-Formate angeboten: Streamings, Lesungen, Spielanleitungen, Zoom-Workshops...

All diese Aktivitäten waren legitim, ihren Zielsetzungen entsprechend erfolgreich, aber – polemisch gesprochen – kein Theater. Und auch kein Internet: Das Bedürfnis nach Partizipation, das soziale Netzwerke befriedigen und das sie so erfolgreich macht, war immer noch auf Shares und Likes begrenzt. Wie könnte man das aufbrechen?

«Ich denke an ein Theater ohne Theater», sagte der Dramaturg in einer der Zoom-Redaktionskonferenzen. «Hold my beer», dachte die Content Managerin. Was dann geschah, hatte nicht einmal sie selbst für möglich gehalten: Am Abend des 12. Mai fanden sich hunderte Menschen im Internet zusammen, um auf Twitter unter dem Hashtag #vorstellungsänderung von einer Vorstellung zu erzählen, die nur in ihrer Vorstellung stattfand. In über dreitausend Tweets wuchs eine kollektive Erzählung eines Theaterabends, der gar nicht stattfand, ja in Tagen von Veranstaltungsverboten gar nicht stattfinden durfte – ohne dass das Theater inhaltlich etwas vorgab oder eingriff. Nicht zuletzt durch den Algorithmus von Twitter erfuhr das gemeinsame Spiel in kurzer Zeit hohe Aufmerksamkeit und führte in Deutschland und Österreich die Trending Topics an.

Die Ankündigung dieses fiktiven Theaterstücks gehorchte den konventionellen Mindestanforderungen gängiger Spielplantexte: ein Titel («Der unheimliche Eindringling»), ein Genre (englische Schauerromantik), das personale Setting («Familie», Besetzung unter Nennung einiger Schauspieler/innen des Ensembles). #vorstellungsänderung bediente sich so angesichts der komplexen Kunstform Theater eines extrem reduzierten, vereinfachenden Ansatzes: Das gemeinsame Spiel, die gemeinsame Imagination und Kreation waren die zentralen Mechanismen dieses Abends. Dafür wurde deutlich Bezug genommen auf eine allen Beteiligten bekannte, konventionelle Anordnung, den abendlichen Besuch einer Vorstellung im Akademietheater. Auf diesen gemeinsamen Erfahrungshorizont konnten sich die Mitspieler/innen jederzeit beziehen, der Rahmen wurde im Verlauf des Spiels auch häufig thematisiert, aber nie durchbrochen. Die Verabredung «Theater» blieb als grundlegende Spielregel zu jedem Zeitpunkt aufrecht. Dieser Rückbezug war in den meisten Fällen auch der Ausgangspunkt kritischer Stellungnahmen. Kritik an der «Handlung» des «Stücks» oder deren Implikationen, oder der Abgleich mit dem «Bühnengefühl» eines Theaterbesuchs bezogen sich wie selbstverständlich auf Ansprüche an «Unterhaltung», «Sinn» und emotionale Beteiligung, die einem anderen Medium und einer anderen ästhetischen Form zugehören.

#vorstellungsänderung blieb bisher ein einmaliges Experiment, das im Spannungsfeld von Kunst und Kreativität und den Möglichkeiten der Quantifizierung und Kommerzialisierung vor allem Fragen aufwirft: Inwieweit lassen sich theatrale Formen im Netz entwickeln, die ohne oder mit deutlich geringerem Rückbezug auf die «klassische», seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlichere Form des Theaters der getrennten Räume und Rollen auskämen? Lassen sich auf diese Weise nicht nur gemeinsame «Vorstellungen» von Vorgängen und Geschichten auf einer solchen Bühne schaffen, sondern womöglich neue Formen von Theatralität in anderen als den angestammten Räumen mit ihren sozialen Beschränkungen erspielen? Oder ist der Gedanke, dass Theater in getrennten Räumen stattfindet, ohnehin schon längst passé? Wie viele Räume hat Theater im Netz? Besteht das Internet nicht aus unzähligen Räumen? Vor allem aber: Besteht der Sinn und die potentielle gesellschaftliche Relevanz eines Formats wie #vorstellungsänderung letztlich in (etwas anderem) als seiner schieren Existenz?

In der «Kultur der Digitalität» (Stalder) möchten Menschen zu kulturellen Ak- teuren und Kulturproduzenten werden und sich an kulturellen Aushandlungsprozessen beteiligen. Corona hat diesen Prozess vorangetrieben. Welche Rolle sollen Theater dabei spielen? Vielleicht müssen wir ab und an unsere Vorstellungen ändern, um zu einem neuen Theater im Netz zu kommen.