Krise in Mali – Was hat sich wirklich verändert?

Interview

Didier Lalaye, Künstlername „Croquemort“, Slammer und Arzt aus dem Tschad lebt in der malischen Hauptstadt Bamako und lässt für uns die jüngsten Ereignisse in Mali Revue passieren. Er ist skeptisch gegenüber der Rolle der Jugend in den sozialen Netzwerken. Beim politischen Engagement zählt für ihn eine gewisse Reife. 

Porträt Croquemort

Sally Ba: Wie sehen Sie die aktuelle Krise in Mali?

Croquemort: Ich hatte tatsächlich das Glück, den Putsch von innen heraus mitzuerleben. Was ich nicht selbst gesehen habe, konnte ich, wie alle anderen auch, in der Presse nachlesen. Sicher ist jedenfalls: Im Bamako war es ruhig, weder im Straßenverkehr noch auf den Märkten war irgendeine Veränderung zu spüren. In gewisser Weise war es einer der ruhigsten und friedlichsten Putsche überhaupt. Wenn ich sage, dass es keine Veränderung gab, dann meine ich damit, dass sich aus meiner persönlichen Sicht im Großen und Ganzen nichts geändert hat. Auch wenn der Staatsstreich durchaus Zustimmung fand, muss man doch wissen, dass der Wandel sich nicht allein dadurch vollzieht, dass man das Staatsoberhaupt auswechselt, sondern es geht vielmehr um einen langfristigen Prozess. Die Frage lautet also: „Was hat sich wirklich verändert?“ 
Derselbe Polizist mit seiner immer gleichen Uniform steht immer noch an derselben Kreuzung und kassiert ohne Bußgeldbescheid das Geld der Autofahrer, bei denen nicht alle Papiere in Ordnung sind. Und das kurz nach einem Staatsstreich, der wegen der Korruption ins Rollen kam. Ich beobachte gerne die kleinen Details, denn genau sie sind es, die den Kern einer Revolution ausmachen. Ich will nicht allzu pessimistisch sein und hoffe daher, dass der Übergangsregierung die Zeit bleibt, um Beschlüsse zu fassen und das Thema Korruption wirklich anzugehen. Sorgen mache ich mir darum, ob es der neuen Führungsriege gelingt, den Blick „von außen“ zu bewahren, denn das Leben im Schloss besänftigt den kritischen Geist, wie es so schön heißt, und mit der Schreibtischarbeit haben sie den Straßenkampf womöglich schnell vergessen.
Meinen Beifall bekommen die Aufständischen also nur, wenn dieser Putsch das Leben des malischen Autofahrers, des malischen Ladenbesitzers, des malischen Lehrers, die Bildung für malische Kinder, das Warenangebot, die malischen Krankenhäuser, die malischen Universitäten, die Sicherheit in Mali und so vieles andere verändert. Erst dann wird man von einer echten Revolution sprechen können. 

Was sind Ihre Erwartungen an die Übergangsregierung? Welche Prioritäten sollte sie setzen?

Innerhalb der Übergangsregierung verlief die Vergabe der Posten größtenteils so, als wäre man dabei, die Kriegsbeute aufzuteilen. Die Positionen wurden an die verschiedenen Protestbewegungen „vergeben“. Ich halte das für eine Falle, denn so stellt man eher seine Verbündeten zufrieden, als fähige Personen einzusetzen, die gute Arbeit leisten. Ich will damit nicht sagen, dass die Amtsinhaber es nicht verdient hätten, aber es wäre gerechter gewesen, die Entscheidung allein nach Leistungsfähigkeit zu treffen, unabhängig von jedweder Zugehörigkeit zu einer Protestbewegung.
Die Herausforderung besteht darin, die Liste der Fehltritte aufzuarbeiten, die dem abgesetzten Staatspräsidenten Ibrahima Boubacar Keita (kurz: IBK) vorgeworfen wird. Das ist eine große Herausforderung mit hochgesteckten Zielen. Man wird nicht darum herumkommen, sich den großen Herausforderungen zu stellen. Das Bildungssystem ist nach den chronischen Streiks der Lehrkräfte in die Knie gegangen, die Lage ist unsicher und die Dschihadisten kontrollieren ganze Landesteile. Korruption und Arbeitslosigkeit sind massiv, genauso wie die allgegenwärtige sexualisierte Gewalt, gegen die Frauen auf die Straße gehen. 

In welchem Maße beteiligt sich die Jugend an den Bemühungen, das Land zu stabilisieren? 

Ich für meinen Teil denke, dass die Jugend in Mali sehr klug gehandelt hat, dem von der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO) lancierten Appell zur Rückbesinnung auf die Verfassung nicht zu folgen. Gemäß der Verfassung von Mali ist ein Staatsstreich rechtswidrig, ein Staatspräsident kann nur nach Ablauf seiner Amtszeit und nach Abhaltung von Wahlen durch einen anderen ersetzt werden, außer im Falle seines Rücktritts. Ich glaube, die jungen Leute haben die Situation richtig eingeschätzt. Bedenken Sie, dass nicht wenige Präsidenten afrikanischer Staaten die Verfassung als Schutzschild missbraucht haben, denn für sie war es ein Leichtes, die Verfassung in Stücke zu reißen oder nach ihrem Willen umzuformen, nur um auf ewig im Amt zu bleiben, ohne jemals die Probleme des eigenen Landes zu lösen. Die Staatspräsidentschaft ist wie ein Vertrag, man wählt nicht einfach den Präsidenten für eine Amtszeit, sondern man wählt ihn, damit sich in dieser Zeit politisch etwas verbessert. Wenn aber ein Staatschef keine Resultate bringt und sich damit begnügt, mit der Verfassung zu wedeln, dann muss man gegen die Verfassung verstoßen, um den Apfel (das Land) vom Wurm (dem Präsidenten) zu befreien. Das haben die Menschen in Mali verstanden. Aber ist die junge Generation wirklich bereit für den Wandel? Ist sie bereit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sich Klarheit zu verschaffen, um für diejenigen Kandidaten zu stimmen, die Lösungen anzubieten haben? Wer hat IBK gewählt? Niemand anderes als die Jugend. Benachteiligte Jugendliche geben eher demjenigen ihre Stimme, der Brot austeilt, statt demjenigen, der ihnen zeigt, wie man Weizen anbaut. Es ist nett, sich neue Hashtags auszudenken, aber genauso wichtig wäre es, sich an die eigene Nase zu packen und die Frage zu stellen: „Trage ich einen Teil der Verantwortung dafür, dass eine unfähige Regierung gewählt wurde?“ 

Ist das Engagement der jungen Leute in Mali also eher oberflächlich? 

Sich in die Politik einzumischen bedeutet, die Probleme zu benennen, mit denen man konfrontiert ist, und die Regierungspolitik bei der Umsetzung von Lösungen kritisch zu beobachten. Es bedeutet auch, für den Kandidaten zu stimmen, der einen klaren und verständlichen Entwicklungsplan vorlegt und auf die Erwartungen der Jugend eingeht; es bedeutet nicht, nach Clanstrukturen zu wählen oder seine Stimme dem Meistbietenden zu verkaufen.

Um bis zu einem gewissen Grad Anerkennung zu erlangen, muss die Jugend auch Anzeichen von Reife zeigen und sich in die diversen Projekte und Vorschläge zur Verbesserung der Lebensbedingungen einbringen. 
Die Jugend fordert, am Übergangsprozess beteiligt zu werden und mit ihren Anliegen Gehör zu finden. Das ist durchaus berechtigt, da die junge Generation weiß, welche Zustände an den Universitäten herrschen und wie die Korruption um sich greift. Ich halte das alles für sehr legitim und möchte das gar nicht weiter kommentieren, sondern vielmehr mit einer Frage abschließen: Ist sich die malische Jugend wirklich all ihrer Probleme bewusst?

Der ehemalige Vorsitzende des Nationalen Jugendrats ist als Minister in die Übergangsregierung berufen worden. Die Forderungen der Jugend dürfen genau jetzt nicht verstummen, wenn man sie mit hochrangigen Posten abspeist, sondern das Augenmerk muss weiter auf die Lösung der Probleme gerichtet werden. 


Biographie Croquemort

Didier Lalaye, Slammer und ausgebildeter Arzt, stammt aus dem Tschad, hat sein Diplom an der Universität von N’Djaména erworben und befindet sich zur Zeit in der Facharztausbildung an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Für sein innovatives Projekt zur Bekämpfung wenig beachteter Krankheiten in ländlichen Gegenden seiner Wahlheimat Mali wurde er mehrfach ausgezeichnet. Seit Januar 2020 ist er Leiter des Projekts Voice4Thought das Kunst und Wissenschaft zusammenführt, um die Kunst in den Dienst der Wissensvermittlung zu stellen.